Kapitel 3
Jamie
Auch heute war es wieder scheißkalt. Am liebsten wäre ich zu meiner Tante nach Kalifornien geflüchtet und hätte ein paar der kommenden Semesterferientage dort verbracht. Aber ich wollte unter keinen Umständen meine Eltern über die Feiertage im Stich lassen.
Denn abgesehen davon, dass sich unsere Stammgäste daran gewöhnt hatten, dass die Bar geöffnet war und jedem ohne Familie einen Platz bot, freute ich mich auf das Weihnachtsfest nur mit Mum und Dad.
»Hey!«
Ich drehte mich um und entdeckte Seth, wie er die Stufen nach unten auf mich zu joggte. Er trug eine dunkle Jeans, Schnürschuhe und eine blaue Steppjacke. Damit und mit seiner Brille sah er aus wie eines der reichen Kids, die auf meiner High-School gewesen waren und denen ich immer aus dem Weg gegangen war.
»Hi.« Er blieb vor mir stehen und trat von einem Bein aufs andere, als wüsste er nicht, was er nun sagen oder tun sollte.
Irgendwie war er tatsächlich ziemlich niedlich und völlig anders als die Typen, die ich sonst datete. Auch wenn das hier alles andere als ein Date war!
»Bist du bereit, ein bisschen Spaß zu haben?«, fragte ich.
»Ja, klar«, erwiderte er, klang aber nicht gerade überzeugt. »Wohin gehen wir?«
Ich hakte mich bei ihm unter und zog ihn mit. »Lass dich überraschen.«
»Aber …«
»Machst du dir über alles so viele Gedanken?«
»Wieso sollte das etwas Schlechtes sein?«
Ich blieb am Straßenrand stehen und ließ ihn los. »Ist es nicht, aber es blockiert dich ziemlich.« Ich grinste. »Es wird schon nicht wehtun. Ich bin auch ganz sanft.«
»Davon bin ich nicht gerade überzeugt.«
Kurz erwiderte ich seinen Blick, dann drehte ich mich um, nahm den Helm von meinem Lenker und hielt ihn ihm hin. Ich hatte extra noch den meines Vaters geholt, damit wir zusammen fahren konnten.
Seth betrachtete ihn, als wäre er eine tickende Zeitbombe und sah abwechselnd von ihm zu mir.
»Was ist das?«
»Ein Helm«, antwortete ich trocken.
»Ich weiß, was das ist …«
»Wieso fragst du dann?«
»Das … das ist dein Motorrad?«, stotterte er und ich musste lachen.
Langsam nickte ich. »Ja, und das ist die erste deiner Lektionen.«
»Mich umbringen zu lassen? Garantiert nicht! Wie lange hast du überhaupt schon den Führerschein?«
»Lang genug.«
Er schüttelte wieder den Kopf und sah gedankenverloren zu meiner Maschine. »Ich bin viel zu schwer dafür. Du wirst uns beide nicht halten können.«
»Sobald wir losgefahren sind, spielt das keine Rolle mehr.
Lady
hält uns.«
»
Lady
?«, fragte er entsetzt und das Wort aus seinem Mund hörte sich an wie ein Schimpfwort. »Du hast dem Ding einen Namen gegeben?«
»Hey! Sie hat Gefühle, verletze sie nicht!«
Seth holte Luft, nur um daraufhin wieder den Mund zu schließen. Dann ging er einen Schritt zurück und sein Gesichtsausdruck wirkte immer ernster. Er wurde sogar ein wenig blass, als hätte er tatsächlich Panik und nicht nur ein bisschen Angst. »Nein. Wenn das eine Bedingung ist, vergessen wir das mit dem Deal.«
Eilig lief ich ihm einen Schritt nach und legte meine Hand auf seine Schulter. Ich spürte die Anspannung, die in seinen großen Körper gefahren war und suchte Blickkontakt. Selbst seine Atmung war beschleunigt. Was hatte er mit Motorrädern erlebt, dass er so darauf reagierte?
»Hey«, sagte ich sanft und Seth Augen trafen meine. Sie waren fast so türkisblau wie das Meer in einer Bucht, in der ich bei meiner Tante einmal gewesen war, doch jetzt gerade wirkten sie trüber. Als hätte sich ein dunkler Filter über sie gelegt. »Wir müssen nicht Motorrad fahren. Es war nur eine Idee.« Er nickte schnell, als könnte er sich damit beruhigen. »Wenn du dich besser fühlst, nehmen wir die Sub.«
»Okay«, erwiderte er leise. »Es tut mir leid.« Er fuhr sich durch die Haare. »Ich …«, er verstummte und ich hatte den Eindruck, hinter seiner Reaktion steckte deutlich mehr.
»Ist doch nichts passiert, kein Grund, sich zu entschuldigen.«
Ich schloss die Helme am Sitz fest, dann liefen wir stumm nebeneinander her. Ich hatte keine Ahnung, was dieser Ausbruch eben gewesen war, doch ich traute mich auch nicht, ihn direkt danach zu fragen. Es war zu persönlich. Wenn er wollte, würde er es mir schon erzählen, aber eines war klar … die lockere Stimmung hatte ich mit dieser Aktion gerade gekillt.
Kurz vor den Stufen zur Subway blieb ich stehen. »Wir können uns auch ein anderes Mal treffen, wenn du lieber nach Hause gehen möchtest.«
»Jetzt sei nicht albern«, sagte er und zwinkerte mir sogar leicht grinsend zu. »Du hast es selbst gesagt, ist doch gar nichts passiert.«
Er nahm meine Hand und zog mich ein Stück mit. Zuerst versteifte sich mein Körper, weil ich kurz davor war, ihm meine Finger wieder zu entziehen. Ich war nicht gerade der Typ Mädchen fürs Händchenhalten. Aber als wir nebeneinander die Stufen hinunterstiegen und ich alles andere wollte als abhauen, entspannte ich mich und drückte kurz seine Finger. Im Augenwinkel sah ich sein Lächeln und merkwürdigerweise zuckten meine Mundwinkel ebenso.