Pony und ihr Vater

Später ahnte Pony nicht mehr, was in den ersten zehn Minuten gesprochen wurde. Sie war ganz benommen vor Freude. Sie ging und hielt ihren Vater bei der Hand, wie sie es als fünfjähriges Kind getan hatte. Sie hörte Herrn Valleda mit Vater reden, in seiner ruhigen, freundlichen Art und seinem deutlichen Hochdeutsch, aber sie kam erst richtig zu sich, als sie mit Vater im Gastzimmer saß. Eigentlich hätte sie ihm beim Auspacken helfen sollen, aber der Koffer stand ungeöffnet da, während Vater und Tochter plauderten.

„Wir essen erst in einer halben Stunde“, hatte Frau Valleda gesagt, „Pony muß diese halbe Stunde für ihren Vater haben, damit sie erklärt bekommt, wie alles zusammenhängt.“

Und diese Erklärung kam.

Ingenieur Valleda hatte alle Artikel des Vaters gelesen. Sie interessierten ihn lebhaft, weil das Elektrizitätswerk, das er leitete, erweitert werden sollte. Er hatte sich schon mit dem Gedanken getragen, an diesen norwegischen Ingenieur zu schreiben, und ihn zu fragen, ob er es wohl ermöglichen könnte, für einige Wochen als Sachverständiger in die Schweiz zu kommen. Aber er hatte den Gedanken wieder aufgegeben. Ein Mann wie Ingenieur Jessen konnte selbstverständlich nicht einfach sein eigenes Arbeitsfeld verlassen.

Und dann erfuhr er zu seinem grenzenlosen Erstaunen, daß Herr Jessen nicht nur Ponys Vater war, dieser Pony, die die Zuneigung der ganzen Familie gewonnen hatte. Sondern er erfuhr auch, daß Herr Jessen auf Grund seiner Krankheit keine beständige Arbeit ausüben konnte. Und drittens, daß die einzige Möglichkeit für ihn, wieder voll arbeitsfähig zu werden, in einer Gegend mit ausgesprochenem Hochgebirgsklima bestand.

All das hatte Fräulein Bernhard erzählt. Und dann ging ein Eilbrief nach Norden, und nach einigen Tagen kam die Antwort mit Luftpost. Es folgten ein paar Telegramme, noch ein Eilbrief und dann war die Sache klar.

Die Gemeinde hatte Ingenieur Jessen eingeladen und alle Kosten übernommen. Man konnte natürlich nicht im voraus wissen, ob ihm das Klima zusagen würde. Deshalb sollte Herr Jessen sich erst eine Woche als Valledas Gast ausruhen. Fühlte er sich dann wohl, würde man ihm eine kleine Wohnung zur Verfügung stellen, und er sollte

ein Jahr lang als Ratgeber und Mitarbeiter angestellt werden.

„Aber wenn Sie sich hier wohlfühlen, dann lassen wir Sie nicht mehr fort“, hatte Herr Valleda gesagt. „Arbeit gibt es genug, besonders für einen Mann wie Sie.“

Pony und Mutter sollten also einige Wochen allein am Föhrenweg wohnen, bis sich herausstellte, wie dem Vater die Schweiz bekam. Ging alles gut, wollten sie das Haus vermieten und dann in die Schweiz nachkommen.

„Vorausgesetzt, daß du glaubst, du kannst das Abitur auch in der Schweiz schaffen“, sagte Vater. „Sonst müßten wir überlegen, ob du nicht in Norwegen bleibst, bis du mit dem Gymnasium fertig bist.“ „Ohne euch?“ fragte Pony. „Nie im Leben. Ach was, Vati, das ist doch Nebensache, das kommt schon in Ordnung. Hauptsache, daß du hier bist, hier in diesem himmlischen Klima. Ach, Vati, hier wirst du sicher, ganz sicher wieder gesund.“

„Ich hoffe es selbst, Pony“, sagte er. „Die Schweiz ist ja ein einziges Sanatorium für Leute wie mich. Es ist ja auch das reinste Wunder, daß man in einer Höhe leben und arbeiten kann, die man in Norwegen nur bei Gipfelbesteigungen erreicht.“

„Ja, und was hat Mutti denn gesagt, als dieser Brief kam?“

Vater lächelte. „Na, was glaubst du wohl? Du kennst sie doch.“ Pony lächelte auch. „Vermutlich hat sie gesagt: Und wenn dir eine Stellung auf dem Gipfel des Mount Everest angeboten würde und du dort ein Elektrizitätswerk für den Schneemenschen bauen solltest, ich käme voll Freuden mit.“

„Sie sagte nicht Mount Everest und nicht Schneemensch, sie sagte Mond und Mann im Mond“, erwiderte der Vater trocken.

Herr Jessen schlief gut und aß mit Appetit. Wenn er ein wenig hustete, dann war es ein gewöhnlicher Husten, wie jeder Mensch ihn haben konnte, ohne asthmatische Orgeltöne oder Atemnot.

Er machte mit Pony Spaziergänge, natürlich nicht zu rasch und nicht zu weit, aber sie taten ihm gut und er fühlte sich mit jedem Tag kräftiger. Sie fuhren nach St. Moritz, aßen in einem schönen, alten Engadiner Haus zu Mittag und fuhren mit dem Bus nach La Fratta. Pony steckte Bananenstückchen in die kleinen Murmeltierpfoten und Vater machte Stereobilder.

Am Abend fachsimpelten die beiden Ingenieure. Fräulein Bernhard und Frau Valleda saßen in der Küche mit einer Handarbeit oder was es sein mochte, und Frau Valleda nützte die Gelegenheit, norwegisch zu sprechen. Aber im Mädchenzimmer hatten Pony und

Regi etwas anderes vor: Regi hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihre Mutter mit einigen norwegischen Kenntnissen zu überraschen. Pony hatte sie während ihres ganzen Aufenthaltes unterrichtet, und nun nützten sie noch jeden Abend dieser letzten Woche aus.

Dann kam der letzte Tag, der unwiderruflich letzte.

Wieder zog die treue Grigri die Kofferkarre zum Bahnhof. Und Herr Jessen sowie die ganze Familie Valleda kamen mit zum Zuge.

In fünf Minuten sollte er da sein. Jetzt wurden die letzten Abschiedsworte gesprochen, Dank abgestattet, Grüße geschickt. Und jetzt blinzelte Pony Regi zu.

Regi wandte sich an die Mutter und sagte in klarem guten Norwegisch:

„Und wenn du nächstes Mal nach Norwegen reist, Mutter, mußt du mich mitnehmen. Es ist an der Zeit, daß ich dein Heimatland kennenlerne.“

Frau Valleda riß erstaunt die Augen auf. „Regi, höre ich denn recht? Hast du das gesagt?“

„Ja“, sagte Regi, „aber ich rede nicht immer so gut. Diesen Satz habe ich äußerlich gelernt!“ Dann mußten Sie über Regis „äußerlich“ laut lachen, und dabei verging ein wenig von der Abschiedswehmut.

Zwei lächelnde Gesichter im Fenster des Abteils, fünf lächelnde Gesichter auf dem Bahnsteig.

Dann setzte sich der Zug in Bewegung. Fräulein Bernhard und Pony fuhren nordwärts.

„In drei Tagen bin ich wieder bei Mutti!“ sagte Pony und strahlte über das ganze Gesicht.

Ubi bene, ibi patria

„Das ist doch das Schlimmste, das ich gehört habe“, sagte Erika. „Und das Beste, das ich gehört habe“, sagte Pony lachend.

„Ja, natürlich, es ist wunderbar für euch, und ich hoffe, daß alles klappt, daß dein Vater ganz gesund wird und du und deine Mutter ihm in die Schweiz nachfolgen könnt. Aber daß du mit der Schule hier Schluß machst, das ist doch zu abscheulich. Jetzt ist Margret in England und du willst in die Schweiz. Was wird dann aus unserer Klasse?“

„Ach, ihr kommt schon zurecht.“

„Nein, im Ernst, Pony, du wirst mir schrecklich fehlen. Und daß du dein Abitur auf Deutsch machen willst. Glaubst du denn, daß du das schaffst?“

„Das wird natürlich eine Riesenschufterei“, stimmte Pony zu. „Und höchstwahrscheinlich schaffe ich es nicht in zwei Jahren, ich muß sicher ein drittes zu Hilfe nehmen.“

„Und du wirst kein so gutes Abitur machen, wie du es hier haben könntest.“

„Nein, das stimmt schon alles, aber es gibt ja keinen anderen Ausweg.“

„Du könntest doch hier in Norwegen bleiben, bis du mit dem Abitur fertig bist!“

„Und allein in unserem Haus wohnen? Du spinnst wohl! Du begreifst doch, daß Mutti in die Schweiz muß, um bei Vati zu sein!“ „Ja-a.“, sagte Erika. Sie hatte tiefe Falten auf der Stirn. „Ach Pony, es ist schrecklich, daß du fortgehst!“

„Wenn nur etwas daraus wird“, sagte Pony. „Alles hängt davon ab, ob Vati gesund bleibt und die Arbeit dort schafft.“

„Bis jetzt ist es ja gut gegangen“, sagte Erika.

„Ja!“ strahlte Pony. „Prima! Du hättest nur seine Briefe sehen sollen! Vati ist einfach ein neuer Mensch geworden!“

„Wie schade!“ lächelte Erika. „Wo ich den alten Menschen sooo gern mochte!“

Zwei Tage darauf bekam Frau Jessen einen höchst unerwarteten Besuch: Erikas Mutter. Die beiden Mütter kannten sich bisher nur flüchtig, aber, so verschieden sie auch waren, sie gefielen einander. Sie hatten ein langes, gemütliches Gespräch, und am Schluß fühlte sich Frau Jessen sehr erleichtert, das größte Problem war auf einen

Schlag gelöst. Wenn Frau Jessen wirklich nach der Schweiz übersiedeln könnte, dann sollte Pony bei Frau Hammer wohnen.

„Ich habe Pony direkt liebgewonnen“, versicherte Erikas Mutter. „Pony ist nett und froh, hat ein sicheres Auftreten, ist dabei hilfsbereit und ehrlich, zuverlässig und höflich. Deshalb bin ich sehr glücklich über die Freundschaft zwischen Pony und Erika. Und sehen Sie: Meine Tochter ist den ganzen Tag allein. Da wäre es wunderbar, wenn sie Gesellschaft hätte. Bitte überlegen Sie es sich, teuer wird es für Sie nicht. Die Wohnung habe ich ohnehin. Sie brauchen mir also nur das Essen zu bezahlen, mehr will ich nicht haben. Aber mir würden Sie eine große Freude bereiten, ganz zu schweigen von Erika. Und wenn es für Sie gleichzeitig eine Hilfe bedeutet.“

Ja, gewiß war es eine Hilfe auch für Frau Jessen. Es war die Lösung für die einzige Schwierigkeit, die sie noch hatten.

Chur, 15. Oktober

Meine liebe Pony!

Dieser Brief ist ja eigentlich für Dich und Mutti bestimmt, aber ich sende ihn nun an Dich, weil er hauptsächlich von Deiner nächsten Zukunft handeln wird.

Sitze im Bahnhofsrestaurant von Chur, Du erinnerst Dich wohl daran. Bis zur Abfahrt meines Zuges habe ich noch eine Stunde Zeit, und die Stunde kann ich doch nicht besser ausnutzen, als Dir zu schreiben.

Was ich in Chur getan habe? Ja, das möchtest Du wohl wissen. Ich war bei einem Arzt, Pony, einem bekannten AsthmaSpezialisten: er hat mich kreuz und quer untersucht, und das Ergebnis ist mehr als erfreulich. Die Luft hier hat das reinste Wunder bewirkt. Der Arzt sagt übrigens, es sei eigentlich gar kein Wunder und ich kein Einzelfall. Tatsache ist, daß ich mich wie ein gesunder Mensch fühle. Der Arzt ist überzeugt, daß es von Dauer sein wird. Meine verschiedenen Allergien werde ich zwar nicht los, ich vertrage noch immer keine Staubkörnchen, aber hier in diesem reinlichen Land und noch dazu im Hochgebirge sind Staubkörnchen ja selten. Ich werde nie eine Zigarette rauchen können, aber die vermisse ich auch nicht. Mit anderen Worten: das Experiment scheint großartig zu gelingen. Damit ist der Würfel gefallen: Wir müssen uns auf die Übersiedlung einrichten.

Mutti soll sich aber Zeit lassen und genügend Hilfe nehmen. Du mußt aufpassen, daß sie sich nicht überanstrengt. Wir möchten ja gern unsere eigenen Möbel hier haben. Es muß also alles, Sack und Pack, in Kisten verstaut werden. Aber paß auf, daß das nur die Möbelpacker machen. Ich sende heute nachmittag, gleich wenn ich heimkomme, einen Scheck ab. Nun haben wir also unser sicheres Einkommen, Pony, und mit Gottes Hilfe werden wir das auch weiterhin haben. Herr Valleda sagt, daß er mit aller Gewalt versuchen wird, mich zu halten. Das mit der Probezeit auf ein Jahr ist schon hinfällig. Er behauptet, ich könne für alle Zukunft eine feste Anstellung haben. Den Kontrakt kann ich jederzeit unterzeichnen. Und seit heute wage ich auch, das zu tun.

Du mußt nun selbst noch mal darüber nachdenken, was du am liebsten machen willst, und ausführlich mit Mutti darüber sprechen. Entscheidest Du Dich, in Norwegen zu bleiben, bis du mit der Schule fertig bist, verstehe ich das natürlich sehr gut. Wir werden unser Mädel zwar schrecklich vermissen, das weißt Du ja. Aber nun bin ich in der glücklichen Lage, Dir für Weihnachten und die Sommerferien eine Flugkarte spendieren zu können. Denn in den Ferien wollen wir Dich selbstverständlich bei uns haben. Frage nur Mutti, wie sie darüber denkt! Wenn es dabei bleibt, daß Du bei Frau Hammer wohnen kannst, dann sende ich ihr das Monatsgeld direkt und Du bekommst für Kleider und Taschengeld monatlich extra einhundertfünfzig Kronen. Zufrieden? Siehst Du, kleine Pony, ich bin ja nicht blind. Ich weiß schon, was Du in all den Jahren entbehrt hast, und ich verstehe sehr gut, wie schwer es für Dich in dieser Klasse mit den reichen Mädchen vom Tannenhang war. Du hast Dich aber tapfer gehalten, mein Kind, und ich bin stolz auf Dich.

So, nun packe nur Mutti ein und schicke sie mir als Wertpaket. Ich kann nicht leugnen, daß ich mich unbeschreiblich auf sie freue. Und Dich, mein Mädel, sehe ich also zu Weihnachten wieder.

Valledas würden mir sicher Grüße ausrichten, wenn sie wüßten, daß ich Dir schreibe. Eines mußt Du übrigens noch erfahren: Ein freudiges Ereignis steht bevor, nein, nicht im Haus, aber im Stall. Grigri hatte ein Stelldichein mit einem Pony vom Nachbardorf und nun wird ein Maulesel erwartet.

Soll ich Dir verraten, daß ich vielleicht. gleich diesen Maulesel als Geschenk für meine Tochter kaufen werde? Ich fühle ja etwas wie eine Dankesschuld dieser Tochter gegenüber. Offenbar hat sie Norwegen und die Familie Jessen hier gut vertreten. Jedenfalls meine ich, daß ich es im Grunde Dir mit zu verdanken habe, wenn die Zukunft nun viel heller vor mir liegt.

Da kommt der Zug. Die herzlichsten Grüße von

Deinem Vater.“

Pony reichte den Brief ihrer Mutter. Als Frau Jessen ihn gelesen hatte, lächelte sie der Tochter zu.

„Ja, was sagst du jetzt, Pony?“

„Daß sich Vater diesmal gründlich irrt.“

„Nein, wirklich? Wieso denn?“

„Na, weil er sagt, er hat mir etwas zu verdanken. Das ist doch Unsinn.“

„Nun, solch Unsinn ist das gar nicht. Wärest du nicht so gewesen, daß Valledas dich liebgewonnen hätten, dann.“

„Ja, und warum haben Valledas mich liebgewonnen? Weil ihr mich gelehrt habt, mich ordentlich aufzuführen. Weil ihr mir als Kind ein so gutes Heim gegeben habt.“

„Und weil du deine Osterferien geopfert hast, mein liebes Kind. Wärest du Ostern nicht zu Hause gewesen, hättest du Frau Valleda nicht getroffen und .“

„Ja, und wenn ich keine Mutter hätte, die ein solches Opfer wert wäre, da.“

Frau Jessen lachte. „Weißt du, Pony, ich glaube, jetzt lassen wir es genug sein. Wir können schließlich nicht den ganzen Nachmittag dasitzen und uns gegenseitig Komplimente machen. Aber was wird nun mit dir, willst du mit in die Schweiz oder willst du lieber noch hierbleiben?“

„Das habe ich mir schon tausendmal überlegt, Mutti, ich kann es dir sofort beantworten: Es bedeutet für meine Zukunft doch sehr viel, wenn ich ein gutes Abitur mache. Diese Chance habe ich aber nur hier in Norwegen. Du weißt ja, mit einer Lehrerin wie Fräulein Bernhard! Ich glaube also, ich werde meine Zahnbürste in den Koffer tun und zu Erika übersiedeln.“

Frau Jessen nickte. „Und die Zeit vergeht auch schnell, Pony. Nur einundeinhalbes Jahr, dann kommst du für immer zu uns.“

Pony lächelte. „Es ist kaum zu glauben, Mutti. Daß ich da unten wohnen soll, für immer, in dem wunderbaren Land, zwischen den

Bergen und.“

„. und den Murmeltieren“, sagte Frau Jessen lachend. „Aber glaubst du nicht, daß du manchmal doch Heimweh nach Norwegen haben wirst?“

„O doch, manchmal. Aber anderseits.“

„Anderseits fühlst du dich dort zu Hause, wo wir sind?“

„Eben! Ubi bene, ibi patria, wie wir Lateiner sagen“, meinte Pony, und streckte ihr Näschen in die Luft.