7. Kapitel: Zam

Sophie schrie und zappelte immer noch, während sie von Zam tiefer und tiefer in den Wald getragen wurde. Irgendwann waren ihre Kräfte dahin, und sie hing schlaff in seinen Armen, während sie leise weinte. Sie wollte auf keinen Fall, dass Zam merkte, dass sie heulte. Ganz im Gegenteil, dieser Typ sollte sie als stark ansehen und nicht als verweichlichtes Mädchen.

Er musste wahrscheinlich doch gesehen haben, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen, denn sein Griff wurde immer lockerer. Vielleicht lag das auch bloß daran, dass er genauso kraftlos und fertig war wie sie.

Sophie hasste es, so durchschaut zu werden.

Sie hasste Zam.

Sie hasste die letzten vier Tage.

Sie hasste diese Schattendämonen mit ihren furchtbaren Gaben.

Sie hasste sich.

Alles war umsonst gewesen. In Sophie zerbrach die Hoffnung wie ein Spiegel in Millionen kleine Splitter. Mia war wieder bei den Schattendämonen und sie bei einem irren, egoistischen Jungen.

Wieso musste gerade sie von der Existenz einer anderen Welt und anderen Wesen, die nicht so waren wie Menschen, erfahren?

Nach dieser schlimmen Erkenntnis traten ihr neue Tränen in die Augen, die Sophie schnell zusammenkniff. Sie wollte nicht mehr weinen, sie wollte gar keine Gefühle mehr zeigen, sie wollte gar nicht existieren. Sterben. Was für ein beruhigender Gedanke!

Nein, es gab solche Kreaturen nicht, und es gab nur eine Welt. Das war schließlich wissenschaftlich bewiesen! Dieser Zam und diese ganze Geschichte machten ihre Welt kaputt. Ihre neue Welt, die sie sich mühsam aufgebaut hatte, ihr neues normales Leben mit Freunden, einer Familie … Ein Leben ohne Märchengestalten.

Sophie presste die Augen fest zu und hoffte darauf, einfach einzuschlafen und dann nie mehr aufzuwachen – oder in ihrem Bett. Im Grunde könnte sie auch bloß geträumt haben. Aber Sophie wusste es besser: Das hier war eindeutig ein realer Albtraum.

Plötzlich ließen die Hände sie los, und sie fiel auf weichen Untergrund. Wie ein hungriger Wurm kroch die Kälte des Bodens in Sophie hinein.

Ungeachtet dessen, dass sie noch nicht einmal wusste, wo sie war, blieb sie liegen und hielt sich die Hände vor die Augen.

Im nächsten Moment hörte sie, wie Zam sich neben sie setzte.

Schließlich öffnete Sophie doch die Augen. Sie befanden sich auf einer Lichtung mitten im Wald, die von unzähligen Bäumen mit roten Blüten umzingelt war. Das Gras, auf dem Sophie saß, glitzerte unwirklich. Es kam ihr fast so vor, als würde sie auf tausend Edelsteinen sitzen.

Vorsichtig wandte sie den Kopf. Vor ihr breitete sich ein See aus, der hellgrün schimmerte. Auf seiner Oberfläche befanden sich die roten Blüten der Bäume, und es sah aus wie ein Meer voller Blumen. Um Sophie herum breitete sich ein Geruch aus, der so stark und süß war, dass sie kaum Luft bekam – und trotzdem war es wunderschön.

Mit einem Mal machte sich ein vertrautes Gefühl der Geborgenheit in ihr breit – doch Sophie versuchte, es zu verdrängen.

Der Sonnenaufgang tauchte die Lichtung in ein magisches Licht, das Sophie ungewollt staunen ließ. Es war so schön anzusehen, wie die silbernen Perlen auf jedem winzigsten Grashalm wie wild funkelten, um kurz darauf mit dem Sonnenuntergang eins zu werden.

»Es ist wunderschön hier. Der Sonnenaufgang verbreitet eine solche Ruhe und Friedlichkeit. Das mag ich«, brach Zam die Stille.

Sophie biss ihre Zähne zusammen, um eine schnippische Antwort hinunterzuwürgen. Was sollte das? Dieser Zam war doch total irre im Kopf! Er hatte gerade ihre Schwester zurückgelassen, sie selbst gegen ihren Willen hierher verschleppt und schwafelte irgendeinen poetischen Stuss von einem Sonnenuntergang! Der hatte vielleicht Nerven!

Dennoch konnte Sophie nicht leugnen, dass es wirklich magisch aussah. Früher hätte sie sich über ein solches Bild gefreut. Aber in ihrer jetzigen Lage 

Sophie musste sich einen Fluchtplan ausdenken. Sie musste wieder zurückkehren, um Mia zu finden. Alles aufs Neue. Vielleicht würde Zam bald einschlafen, und dann könnte sie wegrennen. Vielleicht war sie sogar schneller als er. Einen so großen Altersunterschied gab es nun auch wieder nicht. Sie würde in zwei Monaten sechzehn, und er konnte auch nicht viel älter als achtzehn sein.

»Sophie, hör mir bitte zu!« Zams unglaublich dunkle Augen zogen sie in ihren Bann, obwohl sie sich vorgenommen hatte, ihn keines Blickes zu würdigen.

Es dauerte nicht lange, da stand er auf und setzte sich genau vor sie.

Was sollte das werden? Ein Gespräch? Was fiel ihm ein? Dachte er, sie würde mit dem Mörder ihrer Schwester reden? Sie hasste ihn und würde ihm das noch oft genug zeigen. Dieser Junge hatte ihr so viel Schreckliches angetan, und er war sich dessen noch nicht einmal bewusst. Sophie kniff ihre hellgrünen Augen zu einem Schlitz zusammen. Sie versuchte, Zam so zu fixieren, dass er merkte, mit wem er es zu tun hatte.

»Sophie, bitte sei mir nicht böse!«

Es klang so, als hätte er ihr Lieblingsbuch aus Versehen ins Wasser geworfen, aber nicht so, als ob er ihre Schwester vielleicht auf dem Gewissen hätte – und nach diesen Worten hasste Sophie ihn umso mehr.

»Sophie, ich musste Mia dort lassen. Das gehörte alles zu meinem Plan, und ich weiß, dass du mich jetzt hassen wirst, aber es war das Beste für uns beide und auch für deine Schwester. Ich kann dir alles erklären, wenn du das möchtest. Wenn du willst, sage ich dir alles, ich beantworte dir alle Fragen, die dir im Kopf herumschwirren. Bitte sei mir nicht böse!«

Der Ton in seiner Stimme war mit einem Mal sehr offen, und was er sagte, klang aus irgendeinem unerklärlichen Grund aufrichtig und ehrlich. Doch Sophie funkelte ihn umso mehr an. Sie glaubte ihm nicht und würde es auch nie tun.

»Oh, wie ich sehe, bist du ja verletzt! War das ein Pfeil? Das müssen wir auf jeden Fall verbinden oder irgendwie behandeln.«

Sophie hatte ihre Wunde am Arm total vergessen, und mit dem Erinnern kamen auch die Schmerzen wieder. Nach ein paar Sekunden starrte sie auf die Schnittwunde, die vom Blut verkrustet war.

Doch als Zam ihren Arm berühren wollte, wich sie zurück, während sie gleichzeitig schrie: »Fass mich ja nicht an!«

Unbeirrt blickte Zam ihr in die Augen und verharrte in seiner Position. »Sophie, das muss ich untersuchen. Ich kann mit Wunden gut umgehen. Bitte lass mich wenigstens nachschauen, ob es entzündet ist!«

Hastig sprang Sophie auf ihre Füße und setzte sich von Zam weg. Wieso wollte er ihr gerade jetzt helfen? Außerdem konnte sie auch sehen, ob es entzündet war oder nicht. Als Sophie vorsichtig die Wunde berührte, sog sie scharf die Luft ein. Ein höllischer Schmerz durchzuckte ihren Arm.

Kurz darauf kam Zam vorsichtig näher. »Jetzt sei nicht so stur und lass mich diese Salbe auftragen! Die hat meine Oma gemacht, und sie hilft einfach gegen alles. Während ich die Wunde behandle, kann ich auch deine Fragen beantworten.«

Daraufhin funkelte Sophie ihn immer noch wütend an. Ihr war es egal, wer diese widerliche Salbe, die Zam in seiner offenen Hand hielt, kreiert hatte.

Schließlich kam Zam mutig noch einen Schritt näher und setzte sich wieder vor sie. »Ich habe Antworten.«

Nach diesen Worten musste Sophie mit sich kämpfen. Ihr war unwohl dabei, sich von einem wildfremden Typen behandeln zu lassen, aber vielleicht könnte Zam ihr noch mehr Antworten geben, sodass sie einen klareren Kopf bekommen würde. Natürlich könnte sie auch noch verwirrter werden, aber Sophie wusste, dass sie ihm nun alles glauben musste, auch wenn sie an solch magisches Zeug und an Portale, andere Welten und brutale Fabelwesen nie geglaubt hatte. Wie es aussah, gab es mehr Geheimnisse auf der Welt, die jedoch nur einzelne Personen herausfanden oder gar nicht herausgefunden werden konnten. Und das war wohl auch das Beste für alle, fand Sophie. Sie knirschte mit ihren Zähnen, und schließlich riss sie sich zusammen und gab Zam seine Chance. »Dann erklär mir alles! Wirklich alles, klar?«

Erleichtert seufzte Zam und begann zu erzählen, während er ihren Arm behandelte und in Sophie die Ungeduld hochkroch.

Am Anfang war sie noch immer wütend auf ihn. Ja, sie spielte sogar mit dem Gedanken, ihn mit seinem eigenen Pfeil zu erschießen, und warf immer wieder aufs Neue hastige Blicke zu der Waffe, die auf dem kalten Gras lag, als wäre mit ihr noch kein einziger Mensch getötet worden.

Im Laufe der Zeit beruhigte Sophie sich, und ihre Wut brannte nicht mehr wie Feuer in ihr. Zam berichtete, wie er sich aus seiner Welt geschmuggelt hatte, wie er nun schon seit einem halben Jahr über Sophie wachte und sie beschatten musste, wie er vor den Bus gelaufen war, um mit einem Lichtsammler zu kämpfen, der ihn umbringen sollte, und wie er sich als Schattenkrieger ausgegeben hatte, um sie wiederum zu beschützen.

Als er geendet hatte, waren noch so viele Fragen offen.

Nach kurzem Schweigen musterte Sophie ihren Verband.

»Du hast mir erzählt, ich sei ein Kind eines Schattendämons und eines Lichtsammlers. Aber das würde bedeuten, dass meine Eltern solche Kreaturen sind.«

Sophie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Leonie oder Manfred aus einer anderen Welt kamen. Und sie hatte begriffen, dass alle Schattendämonen diese unendlich tiefen, dunklen Augen hatten, und diese Erkenntnis passte nicht. Leonie hatte dunkle Augen gehabt, aber die waren freundlich gewesen. Manfreds Augen sahen auch nicht aus, als wären sie von einer anderen Welt.

Sophie kratzte sich an ihrem schmutzigen Arm. Vielleicht hatte sie einen Denkfehler, und es kam doch nicht auf die Augen an.

»Ja, deine Eltern waren sozusagen auch nicht aus dieser Welt.« Zam lächelte halbherzig.

Sophie sprang auf. »Aber das kann gar nicht sein! Ich meine, mein Vater und meine Mutter waren doch so normal, und keiner von ihnen bewegte sich so … schleichend oder hatte solche verrückten Augen wie du!«

Wenn Zam beleidigt war, zeigte er es nicht. Jedenfalls sah er nur verwundert aus. »Aber du kannst sie doch gar nicht gekannt haben. Sie wurden wegen ihrem Vergehen doch sofort aufgehängt.«

Sophie strich sich nervös eine verklebte Strähne aus der Stirn. Einen Herzschlag später setzte sie sich wie in Zeitlupe wieder vor Zam. »Wie … du meinst, Manfred …«

»… ist nicht dein Vater, genauso wenig, wie deine Mutter mit dir verwandt ist. Sophie, du bist adoptiert. Man wollte dich zwar töten, aber mein Vater brachte dich, noch bevor sie dich in den Fluss werfen konnten, in die dritte Welt, in eure Welt.«

Fassungslos starrte Sophie auf ihre Hände. Wieso hatten ihre Adoptiveltern ihr nichts gesagt? »Wussten …«

»Nein, deine zweiten Eltern wissen nichts davon, keine Sorge.«

»Sag nie wieder zweite Eltern, das hört sich so fürchterlich an!«, zischte Sophie und ballte unkontrolliert die Hände zu Fäusten. Sie war schon etwas wütend auf Manfred und auf Leonie. Wieso hatten sie es ihr nicht erzählt?

Jetzt passte aber auch alles zusammen: Sie ähnelte keinem von beiden, nicht mal ein wenig. Von wem sollte sie auch diese rotbraunen Haare haben?

»Hast du dich nie gewundert, wieso du diese reine Haut hast?« Zam schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Es gibt keine Menschen, die keinen einzigen Leberfleck, kein Muttermal oder keine Sommersprossen haben.«

Sophie schaute ihn misstrauisch an. »Du weißt doch gar nicht, ob ich unter meiner Kleidung Muttermale habe.«

Zams Gesichtszüge wurden weich, und ein verschmitztes Lächeln kam über seine Lippen. »Ich konnte es mir denken.«

Sophie hatte keine Lust auf dieses Spiel und brachte wieder Ernst in die Situation. »Nein, woher soll ich diese Haut haben? Dieser eine Schattenkrieger, der hatte total viele Sommersprossen im Gesicht!« Nach kurzem Überlegen schaute sie ehrfürchtig auf. »Es sind die Lichtsammler, hab ich recht?« Sie schaute Zam eindringlich an.

Nachdenklich nickte Zam und schnippte einen Grashalm um. »Vielleicht verstehst du nun, warum wir Mia zurücklassen mussten. Ansonsten wären wir wohl auch wieder eingefangen worden. Sie werden ihr nichts antun, keine Angst, aber sie werden sie immer noch als Köder für dich benutzen. Ich denke, dass sie schon in unserer Welt sind, und außerdem muss ich sowieso wieder zurück.«

»Aber das ist total unrealistisch. Ich meine, dieser Spiegel, also das Portal, der ist doch im Lager. Sie warten nur auf uns, und dann sitzen wir in der Falle.«

Zam schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, wir haben noch ein Portal.«

Noch ein Portal? Wie viele gab es denn?

Die Situation wurde immer komplizierter. Nachher würde Zam noch erzählen, es gäbe eine Elfenwelt und Harry Potter existiere tatsächlich, durchfuhr es Sophie. Wieso konnte Zam ihr nicht alles auf einmal erzählen? Sie wollte keine weiteren Überraschungen erleben. »Ein weiteres Portal?!«, hakte Sophie nach.

Zams Gesichtsausdruck wurde ernst, und seine Augen sahen aus, als würden sie von Schatten umspielt werden. »Es gibt jeweils ein Portal in jeder Welt. Und alle in Form eines Spiegels. Sie werden extrem gut bewacht. Wenn auch jemand von derselben Seite sich irgendwie in der Nähe dieses Spiegels aufhalten würde, würde dieser jemand sofort getötet werden. Die zwei Welten kämpfen ständig um das Portal. Deshalb bist auch du beinahe getötet worden.«

Sophie musste an das leere Zelt denken, in dem das Portal unbewacht stand, und fragte daraufhin: »Aber es wurde doch gar nicht bewacht?«

»Das war wegen des Aufruhrs, den du verursacht hast.«

»Oh, jetzt bin ich auch noch daran schuld, oder was?«

»Ist doch egal. Das sollte nicht als Vorwurf gedacht sein.«

»So hat es sich aber angehört.« Sophie schob trotzig das Kinn vor.

Zam erklärte unbeeindruckt: »Jedenfalls gibt es in dieser Welt und in der der Schattendämonen geheime Portale.«

Sophie gähnte. Wollte er jetzt auf geheimnisvoll machen, oder wie? »Und du weißt sicherlich, wo diese Portale sind«, folgerte sie während eines müden Blinzelns.

»Oh ja, das weiß ich. Mein Urgroßvater hat eins gefunden, verteidigt und hat sein Leben für es gelassen. Niemand aus meiner Familie hat ihn oder das Portal vergessen. Mein Vater und meine Mutter sind auch wegen des Portals gestorben. Zwei Lichtsammler, die sich in einem unserer Kämpfe in das Versteck verirrt hatten, kämpften gegen sie, und alle vier ließen ihr Leben. Das war genau an meinem sechzehnten Geburtstag, vor zwei Jahren. Eigentlich müsste ich dieses Portal hassen – was ich indirekt auch tue –, aber so können meine Großmutter, meine Schwester und mein Cousin immer schnell flüchten. Bis jetzt hat es sonst niemand gefunden.«

Sophie hatte eigene Probleme, trotzdem wurde sie durch seine Geschichte traurig. Sie hatten etwas gemeinsam: den Tod geliebter Menschen.

Nach langer Stille fragte Sophie zaghaft: »Wieso ist eigentlich dieser Pfeil, als er den Spiegel berührt hat, zu Staub verbrannt?« Als sie wieder daran dachte, fing ihr Herz an, schneller zu klopfen. Sie hätte tot sein können, wenn Zam nicht gewesen wäre. Eigentlich sollte sie dankbar sein.

»Nun ja, das könnte jetzt etwas unverständlich werden, aber ich versuche mein Bestes. Also dieses Portal, das besteht aus Materie – und zwar aus dunkler. Es hat eine dunkle Energie, die einen in eine andere Galaxie befördern kann, wenn man durchgeht. Die Portale wurden übrigens alle früher gemeinsam von Schattendämonen und Lichtsammlern geschaffen. Aber das war vor mehreren Millionen Jahren, noch bevor eure Welt überhaupt erst entstanden ist. Es waren noch friedliche Zeiten, und die Welten nannte man auch die Geschwisterwelten. Jedenfalls fehlte ein Stück im Spiegel, und dort entstanden schnelle Umlaufgeschwindigkeiten der Randbereiche. Wir selbst bestehen auch aus Materie, aus lebender, genau wie ihr Menschen. Folglich bestehen wir sozusagen aus dem gleichen Material, wenn du es so haben möchtest, nur ein bisschen gentechnisch verändert. An den Randbereichen, dort wo die dunkle Materie aufgebrochen wurde, entstand eine gravitative Wechselbewegung, und die frisst sozusagen unsere Materie, oder besser gesagt sie zieht sie an, sodass wir verschwinden würden. Wenn aber irgendetwas anderes wie zum Beispiel der Pfeil diese Schwingungen berührt, zerfällt er einfach, denn er wiederum besteht aus anderer Materie. Es ist wie ein Blitz, der ihn dann verbrennt. Niemand weiß, wer dieses Loch in die dunkle Materie gebracht hat. Und für die meisten scheint es schier unmöglich, so etwas überhaupt erst zu vollbringen.«

Sophie hatte nur halb verstanden, was das alles mit dunkler Materie zu tun hatte. Eine Frage schwirrte ihr jedoch immer noch im Kopf herum, die sie auf jeden Fall beantwortet haben wollte. »Woher …«

»Woher wir das alles wissen? Oder woher ich das weiß?«

»Beides.«

»Meine Welt ist wahrscheinlich weitaus schlauer als deine. Und leider muss ich sogar sagen, dass auf jeden Fall die der Lichtsammler auch intelligenter und auf einem viel höheren geistigen Stand als deine ist. Hast du dich denn noch gar nicht gewundert, warum ich deine Sprache beherrsche? Wenn ihr auf dem gleichen Stand wie wir sein würdet, hättet ihr eure Sonne und euren Mond für euch nutzen können. Dann hättet ihr doppelte Kräfte, also sozusagen würdet ihr dann meine und die der Lichtsammler besitzen. Aber um diese Kräfte erst mal bekommen zu können, würdet ihr noch länger als ein halbes Jahrtausend brauchen.« Ein kleines Lächeln umspielte seinen Mund, und die kleine Zahnlücke wurde wieder sichtbar.

Schon hatte Sophie eine schnippische Antwort auf der Zunge, als Zam grinste und aussah, als wäre er ein ganz normaler Junge. Aber kurz danach sah sie es ein, denn im Grunde genommen musste sie ihm recht geben, da seine Welt ja schon mehrere Millionen Jahre vor ihrer entstanden war.

»Ich weiß, dass wir nur durch dieses Loch in eure Welt kommen und genauso in die der Lichtsammler. Wenn dieses Loch nicht wäre, dann würde Frieden herrschen … Am besten schlafen wir mal. Ich suche was zu essen, und du kannst in der Zeit schon mal die Augen zumachen. Hier kann dir nichts passieren.«

Wie ihr geheißen, machte Sophie die Augen zu. Sie merkte jetzt erst, wie extrem müde sie war. Rücklings ließ sie sich auf das kalte Gras sinken und versuchte zu schlafen. Ihren Fluchtplan ließ Sophie jedoch verblassen. Sie traute Zam zwar immer noch nicht ganz, aber hier war sie wenigstens vor den Kriegern sicher. Außerdem würde Zam ihr helfen. Da war sie sich ganz sicher. Sie war ja nun etwas Besonderes, ansonsten wäre sie bis hierhin wahrscheinlich schon zehnmal getötet worden. Ein Kind eines Lichtsammlers und eines Schattendämons zu sein, war aber auch gefährlich.

Sophie fror allmählich. Schon halb war sie in den Schlaf gefallen, als sie spürte, wie etwas Warmes, Weiches auf sie gelegt wurde. Irritiert blinzelte sie und sah kurz darauf schwarzen Stoff. Sie schlief mit dem Bild von verdunstetem Sommerregen auf der Straße vor ihrem inneren Auge ein 

Sophie fiel und fiel. Sie fiel immer weiter und versuchte zu schreien, doch es ging nicht. Sie hatte den Mund geöffnet, doch es kam kein Laut heraus. Plötzlich merkte sie, dass sie träumte.

Während sie fiel, erinnerte sie sich wieder an diesen Traum. Bald würde dieses Loch erscheinen und dann diese Kinder. Wie hießen sie noch mal? Der Junge hatte noch gesagt, sie solle sie nicht vergessen.

Sophie tauchte erneut in das merkwürdige Loch ein und fand sich dann in dem weißen Raum wieder. Und dort sah sie das Baby. Wie war sein Name? Irgendetwas mit D. Dana … Dharma!

»Hallo, Dharma!«

Sophie kam näher, und das Baby wackelte lächelnd auf sie zu. Ob es wirklich im Geiste nicht schon über einhundert Jahre alt war und es sich nur nicht mitteilen konnte?

Plötzlich erschrak Sophie sich fast zu Tode, als Luca und Stella erschienen. Ohne zu überlegen, rannte Stella auf sie zu. Luca nickte Sophie zu und zog dem Baby und Stella schnell einen Schal über deren fehlendes Auge. Damit sie die Narben nicht sehen musste, hatte Sophie extra nicht hingeschaut.

Stella und Dharma spielten mit der Puppe, die Luca ihnen aus einer alten Babyjacke und zwei gestreiften Socken gebastelt hatte. Nachdem Sophie noch ein wenig den Kleinkindern zugeschaut hatte, setzten Luca und sie sich auf den kalten, weißen Boden.

»Das hat aber gedauert! Hast wohl lange nicht mehr geschlafen und dich gewaschen?«

Sophie ignorierte Lucas letzte Anmerkung. »Es ist ziemlich viel passiert. Aber die alte Frau habe ich nicht mehr getroffen.«

Und somit erzählte Sophie Luca alles von Mias Entführung bis hin zu dem wunderschönen See und den Portalen.

Nach einer langen Pause der Verwunderung klappte Luca den Mund zu und flüsterte dann mit dieser hellen, hallenden Stimme: »Ich habe nachgedacht, und du denkst jetzt sicherlich, ich bin nur ein kleiner Junge, aber ich will, dass du dir das jetzt anhörst.«

Sophie nickte und leckte sich über die spröden Lippen.

»Du träumst nicht. Und ich will, dass du das nicht vergisst, dass du uns nicht vergisst. Ich weiß, wir sind tot – und das wahrscheinlich für immer. Und jetzt kommt der entscheidende Punkt: Du bist nicht tot. Ich hab versucht, mich wieder ganz genau an diese Frau zu erinnern, und ich meine, das waren ein paar der letzten Bilder, die ich lebend gesehen habe. Es ist klar, dass diese Frau verrückt war. Sie redete auch komisches Zeug und so, aber ihr Blick, der war so unverwandt und so milchig.«

Bei diesen Worten kam Sophie ein Gedanke. Die alte Frau hatte genauso einen milchigen Blick gehabt wie der Schattenkrieger, der sie mit dem Messer attackiert hatte. Und als er gestorben war, hatte er einen klaren Blick bekommen 

Luca schaute sie lange an, dann meinte er: »Ich glaube, dass der Mann irgendwie verhext war oder dass diese Schattendämonen etwas mit ihm oder seinem Schatten gemacht haben.«

Sophie riss die Augen auf.

Luca lachte. »Ich kann hier deine Gedanken lesen.«

»Oh! Ach so … Nun, ich will lieber nichts über die Fähigkeiten und Zaubertricks der Schattendämonen herausfinden. Ich habe es am eigenen Leib erfahren, aber bei Mia sah es fürchterlicher aus. Sie haben einem die ganze Energie ausgesaugt. Doch bei mir war es nicht so schlimm wie bei Mia. Die Schattendämonen meinten, dass ich stärker sei.«

Lucas Mandelauge war auf sie gerichtet, und die Entschlossenheit darin war so stark, dass Sophie ihn bewunderte.

»Ich denke, dass sie mit stärker meinten, dass du vielleicht auch Kräfte hast. Wie es aussieht, bist du ein Mischling aus beiden Kreaturen, wie es dieser Junge gesagt hat. Deswegen bist du auch so wichtig, und alle Parteien möchten dich auf ihrer Seite haben. Das sagte dieser Zam doch, oder? Aber was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass die Alte auch von diesen Kreaturen verhext wurde. So … so wie ein Zombie. Und es muss auch eine Rolle spielen, dass wir hier und die Alte alle nur ein Auge haben.«

Sophie lächelte sarkastisch. »Oder es ist ihr Markenzeichen.«

Luca pustete sich den braunen Pony aus der Stirn und fragte dann: »Du hast am vierundzwanzigsten Mai Geburtstag?«

»Ja, und?«

»Wir alle auch. Bei Dharma konnten wir nur raten, es kann kein Zufall sein, dass wir alle drei nur ein Auge haben und dann noch in einem Dorf waren bei ein und derselben alten Frau und am gleichen Tag Geburtstag haben. Das hängt alles zusammen, und ich würde mal sagen, dass du jetzt an der Reihe bist. Vielleicht sollen wir uns gegenseitig helfen oder so …«

Sophie beobachtete nervös Stella und Dharma, die wie kleine Engel mit einem Schal über einem Auge herumsprangen und hallend und hell lachten.

»Luca, hat die Frau dich gefragt, wann du Geburtstag hast?«

»Nein, eigentlich nicht … Obwohl doch, sie sagte ständig, sie habe Geburtstag, und niemand außer ihrer Katze hätte ihr etwas zum Geburtstag geschenkt. Ja, sie war verrückt«, murmelte Luca, als er Sophies verständnislosen Gesichtsausdruck sah. »Und sie sagte, sie hätte am vierundzwanzigsten Mai, der Geburtstag ihres Mannes, immer mit ihm geredet, obwohl der tot war …«

»Und da hast du ihr erzählt, dass du auch an diesem Tag Geburtstag hast«, schlussfolgerte Sophie stirnrunzelnd und schaute Luca betroffen an.

Luca nickte und starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen in die Leere.

»Ich denke, dass diese Prophezeiung schon sehr alt ist. Die Schattendämonen haben einfach Kinder, die am selben Tag wie ich Geburtstag haben, entführen lassen und dann getestet, ob es sich um das gesuchte Kind handelt, das besondere Kräfte hat, mit denen es sich zum Beispiel vor den Schattendämonen schützen kann. Danach haben sie die unschuldigen Kinder einfach umgebracht! Wie konnten sie bloß!? Ihr wart doch noch Kinder! Und alles wegen mir!« Wütend schlug Sophie gegen den Boden, und ihre Nasenflügel bebten. Wie konnte man so mitleidslos sein?

»Wieso wegen dir?« Verwundert schaute Luca Sophie an, und seine braune Haut glänzte bernsteinfarben.

»Sie hätten die Kinder doch gar nicht getötet, wenn es mich nicht gäbe. Verdammt! Alles ist meine Schuld. Ihr hättet doch so ein schönes Leben führen können, ich meine, ihr seid doch noch so jung!«

Dharma fing an zu weinen, als ob sie gemerkt hätte, wie schlecht Sophie sich fühlte.

Stella verharrte in ihren Sprüngen und kam schüchtern zu Sophie, um sie zu umarmen. »Bist du traurig, Sophie? Wenn ich traurig bin, dann denk ich immer an einen Eisbecher, und dann bin ich wieder glücklich.«

Angesichts der Tatsache, dass Stella jetzt an einen Eisbecher denken konnte, musste Sophie lächeln.

»Sag ich doch, dass das funktioniert.« Mit diesen Worten sprang Stella lachend zurück, und ihre blonden Haare wirbelten aus ihrer gestreiften Mütze heraus.

»Luca, weißt du was? Vielleicht haben sie euch ja gar nicht umgebracht, sondern irgendwie … gefangen oder so. Kannst du dich gar nicht mehr daran erinnern, was ganz zum Schluss passierte?«

In Lucas dunklem Auge blitzte so etwas wie Hoffnung auf. Aber vielleicht hatte Sophie sich das auch nur eingebildet.

»Nur noch an die Dinge, die ich dir schon erzählt habe.«

»Okay.« Sophie zupfte an ihrem Verband herum. »Bleibt nur noch die Frage mit den Augen. Warum fehlt euch allen ein Auge?«

Inzwischen fingen Lucas, Stellas und Dharmas Gestalten zu verblassen an, und dann sah Sophie nur noch zwei kleine, verschwommene, blonde Gestalten und einen etwas größeren, braunen Schemen, der winkte.

Sophie schrie. Kaum zu glauben, dass sie überhaupt schrie. Das war kein Albtraum, nein, es war gar kein Traum gewesen.

Trotzdem war sie auf einmal voller Energie. Sie schlug die Augen auf, und unerwartete Dunkelheit überkam sie. Mit dem Bauch lag sie auf der Erde, aber als sie sich auf dem kalten Boden herumdrehte, schaute sie in einen endlosen, funkelnden Sternenhimmel. Tatsächlich hatte sie noch nie so viele Sterne, die so hell glitzerten, und einen so dunklen und wolkenlosen Himmel gesehen. Es war einfach atemberaubend.

Sophie ließ diesen Moment noch auf sich wirken, dann seufzte sie und legte den Umhang, der so sehr nach einem verregneten Sommertag roch, weg.

Als sie sich umwandte, sah sie eine Gestalt neben sich regelmäßig atmen. Zams Gesicht sah im Mondschein so weich und sorglos aus.

Sophie betrachtete es noch etwas länger, bis er plötzlich seine Augen aufschlug und sie direkt anstarrte.

»Wie lange bist du schon wach?«, schrie Sophie erschrocken, nachdem sie zusammengezuckt war.

Zam richtete sich auf und grinste. »Lange genug, um zu merken, dass du mich anstarrst.«

»Ich starre nicht!« Wütend stand Sophie auf und rieb ihre Hose, die von der Erde und dem Gras dreckig war, sauber.

»Und ich hab gemerkt, dass du mich lange angeschaut hast. Bin ich so hübsch?« Sein Grinsen wurde breiter.

Sophie wurde wütender. »Ich hab jetzt keine Lust auf so ein Gespräch. Machen wir uns lieber fertig, um Mia zu suchen und endlich zu diesem Portal zu kommen!«

Zam wurde schlagartig wieder ernst und murmelte: »Entschuldigung! Hab doch nur Spaß gemacht.«

»Das hier ist aber kein Spaß.«

Zam holte etwas neben sich auf die Hand und gab es Sophie. Als seine blassen Finger sich langsam öffneten, fand Sophie darin Wurzeln vor. »Was ist damit?«

Verblüfft schaute er das Mädchen an, biss in eine der Wurzeln hinein und fing dann an zu lachen, als er Sophies Gesicht sah.

»Was?«, blaffte sie ihn an.

»Wie du schaust! Hast du etwa noch nie etwas von einer Schilfwurzel gehört?«

»Ähm … nein. Sollte ich?«

»Ja, die sind so lecker!«

»Woher hast du die?«

»Ich war, nachdem du schlafen gegangen warst, im See baden. Ich wollte ja was zu essen besorgen, da bin ich einfach runtergetaucht und hab die Wurzeln ausgerissen. Leider hab ich mich an den Halmen geschnitten, aber das ist nicht so schlimm. Es war ganz schön dunkel da unten.«

»Wie tief bist du denn getaucht?«

»Circa drei Meter oder so.«

»Oh Gott! Und das nur, um etwas zum Essen zu beschaffen.«

»So etwas nennt man Überleben, Sophie. Das bin ich gewöhnt«, sagte Zam mit vollem Mund.

Sophie wollte lieber nichts essen als Wurzeln, die in einem dreckigen See wuchsen und an denen noch der Kot von Fischen und Reste von Würmern oder anderen Wasserbewohnern hingen. Als Zam sie mit einer weiteren Wurzel anstupste, schüttelte sie den Kopf und legte die Wurzel hin. Während ihr Magen brummte, hoffte sie inständig, dass Zam es nicht hörte. Der zog jedoch besorgt die Augenbrauen hoch und hatte dann wieder diesen lockeren Blick drauf, um welchen Sophie ihn beneidete.

»Und wie wäre es mit dem hier?« Er gab ihr eine Handvoll rosa-gelber Blüten, die stachelig aussahen.

»Und was ist das jetzt?«, fragte Sophie, nachdem sie die Blüten gemustert hatte.

»Das sind Kieferblüten. Die ganze Lichtung ist umrandet von ihnen, also wenn du noch mehr davon möchtest, kann ich dir welche besorgen. Übrigens haben diese Bäume eine sehr beruhigende Art an sich, und man fühlt sich an einem Ort, der voller Kiefern ist, geborgen und wohl.«

Sophie schaute wieder die Blüten in ihrer Hand an und dachte an das schöne Gefühl am gestrigen Tag. Sie stopfte sich die Blüten in den Mund und wollte sie am liebsten gleich wieder ausspucken. Dieser kratzige, eigenartige Geschmack brannte auf ihrer Zunge. Trotzdem schluckte sie sie tapfer hinunter. Ihr Magen rumorte, aber zusammen mit Zam pflückte sie noch weitere.

Er erzählte ihr so viel über seinen Vater und seinen Opa, wie sie ihm immer alles über Pflanzen beibringen wollten und sich stritten, wer mit Unterrichten dran war. Zam erzählte ihr viel über seine Familie und erklärte ihr die Pflanzenwelt. Sie fanden sogar Brennnesseln, die sie in Zams wasserfestem Schuh über einem Lagerfeuer abkochten. Das abgekochte Wasser trank Zam, und die Brennnesseln schmeckten mit Löwenzahn wie Spinat und Salat gemischt. Sophie hätte viel lieber einen Hamburger gegessen mit extra viel Fleisch, aber sie stellte sich einfach vor, dass diese Pflanzen gut schmecken würden, und außerdem beruhigten sie auch ihren leiser gewordenen Bauch.

Nach dem Essen meinte Zam: »Ach ja, Sophie, bevor wir zu dem Portal aufbrechen, solltest du baden gehen. Weißt du, bei mir in der Welt sind zwar schwere Zeiten, aber wenn dich einer so sieht, dann würde der dich wahrscheinlich sofort bei der Armee verraten, weil er Angst hat. In der Zeit koche ich dir das Seewasser ab und versuche, es – so gut es geht – zu säubern. Und keine Angst, ich schaue nicht hin.«

Sophie war es egal, sie war froh, wenn sie endlich ihre dreckigen Kleider ablegen und sich im Wasser waschen konnte. Sie zog ihre Kleider aus, sodass sie nur noch Unterwäsche trug, und ging zum See. Sie wäre kreischend hineingerannt, aber das konnte sie nicht vor Zam machen, und sie hätte wegen Mia Schuldgefühle bekommen, wenn sie sich jetzt amüsieren würde.

Zuerst tunkte sie die Kleider in das vom Sonnenaufgang rötlich gefärbte Wasser und schrubbte an ihnen wie wild herum, schließlich watete sie in das Wasser hinein. Es war eiskalt. Während sie zitternd eintauchte, merkte sie, dass das Wasser zunächst klar war und erst dort, wo sie nicht mehr stehen konnte, immer milchiger und grüner wegen der Algen wurde.

Auf einmal spürte sie Zams Blicke im Rücken und drehte sich um. Er schaute schnell weg und warf noch einen Stock in das prasselnde Feuer.

Mit dem Rücken zu ihr rief er hastig: »Ich würde nicht dorthin gehen, wo du nicht mehr stehen kannst, dort ist mein Vater mal fast von einem Hecht gebissen worden.«

Seine Warnung bewirkte, dass Sophie aufschrie und schnell ans Ufer zurückschwamm. Sie rieb ihr Gesicht und ihre Haare energisch und vergewisserte sich, dass auch jeder Schmutz weg war. Sie wusste ja nicht, wann sie sich wieder waschen konnte.

Der See glitzerte nun golden und grün gemischt, und die roten Blüten wirkten gelblich. Das Wasser bewirkte in Sophie die Illusion von Tausenden von Sternen, die auf eine grüne Wiese hinuntergefallen waren.

Während Sophie seufzte, verließ sie zitternd das klare Wasser. Viele rote Blüten klebten an ihr, und sie brauchte ziemlich lange, um alle loszuwerden. Dann legte sie sich auf Zams Umhang, den er ihr angeboten hatte, ans Lagerfeuer, um zu trocknen.

Zam gab ihr seinen Schuh mit dem abgekochten Wasser, und Sophie trank das erste Mal in ihrem Leben aus einem Schuh. Augenblicklich kniff sie die Augen zu. Es schmeckte nach warmem Seewasser und Leder.

Kurz danach zog sie ihre feuchte, endlich saubere Kleidung wieder an und versuchte, mit ihren Fingern ihr Haar zu kämmen, was sogar ein wenig funktionierte.

Schließlich gingen sie und Zam weiter in den Wald, in dem es noch mehr von den Bäumen mit den roten Blüten gab. Zam zeigte ihr, wie man den Saft aus einer Birke gewann und wie man den Baum aufschlitzen musste. Sie sammelten noch mehr Löwenzahn, Haselnüsse, Rinde, die Zam kochen wollte, und er ging noch mal auf Tauchgang und kam mit mehr als zehn Wurzeln wieder, die er zu dem anderen Essbaren in seine Umhangtaschen tat.

Als es schon wieder dämmerte, wollten sie endlich zu dem Portal gehen.

»Okay, haben wir alles?«

Zam nickte und fragte darauf: »Willst du eigentlich gar nicht wissen, was das Portal ist?«

Unschlüssig blieb Sophie stehen und zog ihre Jacke enger um sich, die immer noch nass war. »Okay, dann sag’s mir! Erzähl mir das große Geheimnis!« Sie breitete theatralisch die Arme aus.

»Aber du musst es wirklich für dich behalten, okay? Das ist die einzige Möglichkeit, um zu überleben, verstehst du?« Er kam einen Schritt auf sie zu und packte ihre Schultern, um sie sanft zu rütteln. »Sophie, du musst wirklich schwören, dass du es nicht weitersagst, ja? Das ist das einzige Portal, das in eine andere Welt führt und das mit dir nur fünf Personen von allen drei Welten kennen … Das darfst du nicht vergessen. Zuerst wollte ich dir die Augen verbinden, aber dann wärst du wahrscheinlich erschrocken. Jetzt vertraue ich dir, und ich hoffe, du mir auch.«

Als sein dunkler Blick ihren festhielt, bemerkte Sophie zum ersten Mal die Wärme darin und musste augenblicklich lächeln.

»Ja«, flüsterte sie.

Der Wind spielte mit ihren roten Haaren, und glatte Strähnen flogen ihr ins Gesicht.

Zam war kein Mörder. Da war Sophie sich sicher.

Zam fasste sie am Arm und führte sie zum Portal. Es war der gleiche Weg, den sie heute schon mal gegangen war. Er führte sie direkt zum See.

»Was soll das?«, zischte Sophie ängstlich.

»Das ist das Portal.«

»Das kann nicht sein, ich …«

Zam unterbrach sie mal wieder, aber daran war sie schon gewöhnt.

»Du bist darin geschwommen, klar. Aber ich sagte dir, du sollst nicht nach hinten gehen, denn dort ist das Portal.«

Jetzt verstand Sophie endlich. Aber etwas sauer war sie schon auf ihn, jetzt waren ihre Kleider trocken, und sie sollte wieder ins Wasser.

Zam sprang ins friedliche Nass, das nun schon wieder rötlich und für die Nacht bereit war, und Sophie hinterher. Trotz der schweren Kleider schwamm Zam unglaublich schnell. Sie kam kaum nach. Ihre Kleider saugten sich voll Wasser, und Algen blieben an ihr hängen.

Als sie sich umdrehte, war das Ufer gar nicht mehr zu sehen, und sie bekam Panik. »Zam, ich kann nicht mehr! Warte doch mal, bitte!«

Schließlich schwamm er zurück und lächelte sie an. »Das musst du mir früher sagen.«

»Wieso lächelst du immer so scheinheilig?«

Zams Lächeln wurde noch breiter. »Wenn du möchtest, kann ich dich abschleppen.«

Obwohl ihre Kleider ständig irgendwo im Schilf hängen blieben und ihre Arme schmerzten, wollte Sophie nicht so schwach wirken und schwamm entschlossen weiter.

Bald schon sah man das Ufer auf der anderen Seite. Inzwischen waren fast keine roten Blüten mehr auf dem Wasser, sie vermischten sich mit weißen, die zur Mitte hin hellblau besprenkelt waren und dann in ein Indigoblau wechselten. Sie waren noch schöner als die roten.

Der Sonnenuntergang war ebenso wunderschön, obwohl Sophie vor Müdigkeit, Kälte und Schmerzen die Zähne zusammenbiss. Immer wieder streiften Fische ihre Beine, aber Zam blieb dicht in ihrer Nähe, und so hatte sie weniger Angst, für den Fall, dass das mit dem Hecht doch kein Scherz war. Die Wolken schwebten in dünnen Schleiern an dem orangen Himmel, und das weniger als hundert Meter entfernte Ufer war voller bunter Steine und mit hellgrünen, fast gelblich scheinenden Büschen gesäumt. Es wirkte schon aus der Entfernung wunderschön, wie gemalt.

Das war also die andere Welt. Ja, es musste so sein! Sie war so schön und sah aus, als wäre noch nie ein Mensch dort gewesen. Unberührte Natur war wohl tatsächlich das Allerschönste.

Als Sophie sich umdrehte, um Zam etwas zu fragen, blieb ihr Herz für einen Moment stehen. Er war plötzlich verschwunden! Sie hatte noch nicht einmal ein Platschen gehört. Ihr Herz klopfte immer schneller, und Panik breitete sich in ihr aus, als sie einmal im Kreis schwamm, ihn aber nirgends fand. Nur noch der grüne, glatte See und die vielen Blüten waren zu sehen.

Vielleicht war unter ihr irgendetwas oder irgendjemand, der ihn in die Tiefe gerissen hatte! Am liebsten wollte Sophie ganz schnell ans Ufer schwimmen, denn sie hatte keine Lust auf irgendein Seeungeheuer, das da womöglich auf dem Grund des Sees auf sie lauerte, aber andererseits war Zam vielleicht auch in Gefahr. Sophie konnte ihn nicht im Stich lassen.

Obwohl sie bereits so viel geschwommen war wie noch nie in ihrem Leben, nahm sie alle Kraft zusammen, die sie noch aufbringen konnte, holte tief Luft und tauchte unter. Sie sah Fische, die grün schimmerten, und ihre Haare, die in weichen Wellen um ihren Kopf schwebten. Sie schwamm ziellos in irgendeine Richtung – aber von Zam keine Spur. Mit vier Stößen war sie wieder an der Oberfläche, und ein kalter Wind wehte in ihr Gesicht, sodass ihre Ohren dröhnten.

»Zam! Zaaaam!« Sophie drehte sich noch mal um sich selbst, aber sie fand ihn nicht. Tränen stiegen ihr in die Augen. Wo konnte er bloß sein? In dem Moment wünschte sie ihn sich so sehr herbei wie noch nie zuvor.

Doch unverhofft wurde sie an der Taille umfasst und hinunter ins grüne Wasser gezogen. Sophie wollte schreien und Luft holen und verschluckte dabei Wasser. Sie riss die Augen auf und sah etwas Schwarzes. Bläschen wirbelten ihr ins Gesicht.

Aus irgendeinem Grund ließen die Hände sie sofort los, und sie schwamm mit erschöpften Zügen nach oben. Sie hustete und war dem Weinen nahe. Was war das gewesen?

Kaum hatte sie diese Sätze gedacht, sprudelte es kräftig vor ihren Augen. Sophies Entsetzen war so groß, dass ihre Kinnlade hinunterklappte, als sie sah, was der Auslöser dafür war.

»Zam!« Sie strich sich die nassen Haare mit einer zitternden Hand aus dem Gesicht, während sie mit dem anderen Arm, der immer noch wehtat, schwamm.

»Hab ich dich sehr erschreckt?«

Es war Zam. Inzwischen wollte sie ihn gerne umarmen und ihm gleichzeitig eine runterhauen. Wie konnte er sie bloß so erschrecken?

»Ich … ich dachte, du wärst ein Seeungeheuer oder so was in der Art. Ich hab mir fast in die Hosen gemacht.« Dass sie sich Sorgen um ihn gemacht hatte, sagte sie ihm lieber nicht. Das würde ihm wahrscheinlich noch gefallen.

Er schwamm zu ihr und schaute ihr in die Augen. »Sag mal, hast du etwa geheult?«

Das war zu viel! Sie holte mit ihrem gesunden Arm aus und haute ihm mit aller Kraft wutentbrannt auf die Wange.

»Aua!« Er schrie hell auf und rieb sich seine kalte Wange, die sich bereits rot verfärbte. »Also manchmal versteh ich dich wirklich nicht. Mach ich wirklich alles falsch?« Zam schaute sie resigniert an.

»Oh ja, und ob! Zuerst verschwindest du einfach so, und ich mach mir Sorgen, und dann denke ich, irgend so eine Kreatur will mich umbringen.« Als sie sich ihres Fehlers bewusst wurde, biss Sophie sich auf ihre Unterlippe.

Wieder lächelte Zam und warf ihr einen verschwörerischen Blick zu. »Du hast dir Sorgen um mich gemacht?«

Sophie schaute weg. Wäre ihr Gesicht nicht blau vor Kälte gewesen, wäre sie rot vor Scham geworden.

»Außerdem hab ich nur das Portal gesucht. Hoffentlich kannst du gut tauchen«, verteidigte sich Zam.

»Wie, ich dachte, hinten am Ufer wäre schon die andere Welt?!«

Mit einem abfälligen Blick auf das Ufer sagte Zam: »Oh nein, wir müssen zuerst noch durch den Spiegel, und der ist am Grund.«

»Am Grund? Ich kann aber die Luft nicht so lange anhalten!« Panik stieg in ihr auf. Sie wollte nur noch ins Trockene. Sophies Kräfte waren nämlich gewichen.

»Willst du deine Schwester retten oder nicht? Ich helfe dir ja, aber wenn wir unten am Spiegel sind, darfst du auf keinen Fall das kaputte Glas berühren. Nur da, wo dieser Wirbel drin ist, ja?«

Sophie schluckte zitternd. »Okay, aber ich hab wirklich keine Ahnung, ob ich bis nach unten komme.«

Zam lächelte, und als Sophie seine ihr mittlerweile vertraute Zahnlücke sah, lächelte sie auch. Zam zählte bis fünf, und zusammen tauchten sie unter. Sophies Herz schlug wild, als sie immer weiter in die Tiefe schwammen.

Auf einmal spürte sie, wie Zam sachte ihre beiden Hände nahm und sie hinunterzog, während sie sich nur auf sein Gesicht konzentrierte und sich ihm ganz anvertraute. Seine Haare standen ab und bewegten sich wie in Zeitlupe im kalten Wasser. Sie sahen im Nassen so weich und schön aus.

Grünlich und gelblich schimmernde Riesenfische schwammen an Sophie vorbei. Ihr Herz schlug wieder ruhiger. Falls ihr die Luft ausginge, würde Zam sie wieder nach oben ziehen.

Plötzlich verharrte Zam in seiner Position und machte ein Zeichen nach rechts, sodass Sophie in diese Richtung blickte. Da stand ein weißer, diamantenüberzogener Spiegel, der voller Algen war. Sie konnte sehen, dass unten noch zwei Schubladen angebracht waren, die wohl aus Holz waren im Gegensatz zu dem verzierten Rahmen. Fische schwammen aus den grün gewordenen Schubladen heraus, und eine Flusskrabbe lief über den grauen Messingknopf einer Schublade. In der Mitte, wo das Glas sein sollte, war wieder diese silbrige Flüssigkeit, und Sophie konnte selbst in diesem grünlich dunklen Wasser die feinen, perlmuttähnlich funkelnden Muster und die millimeterfeinen Wellen der glitzernden Flüssigkeit sehen. Ganz weit oben war wie bei dem ersten Spiegel ein Loch, bei dem man nur den blanken Marmor erkannte. Es war vielleicht nur fünf Zentimeter groß, und dennoch ging eine gefährliche Magie von ihm aus.

Zam kam dicht an sie herangeschwommen und nahm ihre beiden Hände. Sophie wollte lachen, und Luftbläschen kamen aus ihrem Mund. Es war so wunderschön hier unten, obwohl der Sauerstoff knapp war. Es kam ihr so vor, als würden sie im Zwielicht schwerelos schweben. Sophies Haare umwoben sie, als Zam sie eng an sich drückte und gemeinsam mit ihr immer näher zu dem magischen Spiegel schwamm. Er näherte sich dem Spiegel rückwärts. Schließlich verschluckte die perlmutterne Oberfläche des Spiegels komplett seinen Körper, und nur noch seine Hände, die ihre umklammerten, ragten heraus. Mit einem Mal wurde sie von diesen Händen in den Spiegel hineingezogen, und überall um sie herum sah sie silberne Muster.

Als Sophie ganz im Spiegel war, wurde ihr unergründlich warm. Es war ein solches Gefühl, wie es nur eine Mutter einem Neugeborenen geben konnte. Sie fühlte sich so geborgen, dass sie in dieser sich windenden Masse bleiben wollte. Sie fühlte sich so frei und unerklärlich sorglos, wie sie sich noch nie in ihrem ganzen Leben gefühlt hatte! Es war, als würde sie vom Gipfel eines hohen Berges fallen und wissen, dass sie nicht sterben würde, und dieses Gefühl genoss sie.

Plötzlich sah sie in dem Glitzerlicht Zam, der immer noch ihre Hände hielt. Während sie so miteinander herumwirbelten, hatte sie das Gefühl, als ob sie in dem silbernen Diamantensaal gleichzeitig fliegen, schwimmen und springen würden. Tausend Bilder rauschten an ihr vorbei, so verzerrt wie alte Erinnerungen – aber ob es ihre, Zams oder die von sonst jemandem waren, konnte sie nicht sagen.

Das Letzte, das sie sah, war nur noch Zams Zahnlückenlächeln.

Zwei Herzschläge später umgab sie kaltes, dröhnendes Wasser, sodass sie keine Luft bekam. Der Schmerz und die Sorgen der letzten Tage kamen wieder, und Sophie sah nur rauschendes, weißes Wasser, das sie nicht nach oben ließ. Jegliches Gefühl von Wärme und Freude verließ sie, und Kälte ergriff ihren Körper, sodass sie erstarrte. Sie wollte schreien, aber als sie dazu Luft holte, sprudelte Wasser in ihre Lungen.

Es dauerte nicht lange, bis zwei starke Arme sie an die Oberfläche zerrten, und Sophie hörte ihr eigenes Keuchen, als das Wasser aus ihrem Mund kam, und sackte dann wieder ohnmächtig in das kalte Wasser hinein.