11. Kapitel: Invasion der Lichtsammler

Als die Freunde aus dem Wald kamen, musste Sophie erst mal tief Luft holen. Der Mond wurde wieder sichtbar und breitete sein kaltes Licht langsam aus. Sophie stand auf einem mit wunderlichen Bäumen geschmückten Hügel und starrte auf die Stadt unter ihr. Auch Zam und Gila schauten wie gebannt auf das Bild, das ihnen geboten wurde.

Überall wurden hohe, spitze Hügel sichtbar, die sich ins Unendliche zogen. Sie wurden von innen von einem warmen Licht beleuchtet, das aus mehreren Löchern kam. Eigentlich war es ein wunderbarer Anblick der kleinen Stadt, wäre da nicht dieser fürchterliche Gestank gewesen, der von den Hügeln kam, und dieser schwarze Rauch, der sich immer dichter um den Wald zog.

Die Schreie, die dann zu hören waren, wollte Sophie nie gehört haben. Während sie wie festgefroren auf der Steinplatte des Hügels standen, drangen die hellen Frauen- und Kinderschreie immer lauter in Sophies Ohr.

»Oh mein Gott!«, flüsterte Gila und spuckte auf den Boden. »Diese verdammten Lichtsammler!«

Mit schreckgeweiteten Augen drehte Sophie sich zu ihr um. Zam stand immer noch regungslos da.

»Du meinst, da unten sind Lichtsammler?« Sophie traute sich kaum, diesen Namen auszusprechen.

Gila nickte nur. »Und es sind sicherlich nicht die paar, die sich in unserer Welt versteckt haben. Es sind viel zu viele.«

»Das heißt dann …«

»… dass sie unsere Welt belagert und die Wachen an dem Weltentor besiegt haben«, vollendete Zam mit einem kalten Ausdruck in der Stimme den Satz.

»Bitte nicht schon wieder!« Gila fluchte.

»Und jetzt bringen sie einfach so das halbe Dorf um? Wir müssen den Leuten dort unten helfen!« Wütend stampfte Sophie mit dem Fuß auf. »Sie bringen einfach so unschuldige Schattendämonen um – darunter auch Kinder!«

»Wir können nichts gegen sie ausrichten!«, rief Gila zornig. »Dazu bräuchten wir die Hälfte unserer Armee. An dem Tor zu unserer Welt standen schon mehr als genug Schattenkrieger.«

»Dass die sich überhaupt trauten, unsere Welt in der Nacht anzugreifen …« Zam schaute mit seinen noch dunkler gewordenen Augen auf die brennende Hügelstadt unter sich.

»Aber genau das muss doch ihr Plan gewesen sein. Sie spielten auf Risiko, und wir hätten es nie erwartet, somit haben sie beste Chancen auf einen Gewinn. Wie konnten die Schattenkrieger bloß so dumm sein?« Immer noch blickte Gila hasserfüllt auf die Stadt.

Der Hass in ihren Augen war so groß, dass Sophie zurückschreckte. »Wir müssen aber irgendetwas machen! Irgendeine Hilfe könnten die Leute dort unten doch wohl gebrauchen. Und ihr beide seid doch so gute Schattendämonen und könnt mit euren Kräften besser umgehen als mancher Schattenkrieger«, versuchte Sophie es wieder verzweifelt.

Aber ohne Erfolg. Sie versuchte noch mehrere Minuten, die ihr wie Stunden vorkamen, Zam und Gila davon zu überzeugen, diesen armen Schattendämonen zu helfen. Die beiden starrten immer noch hinunter.

»Jetzt reißt euch zusammen! Hört ihr denn nicht diese Schreie? Das sind Todesschreie! Schreie von unschuldigen Kindern und deren Müttern, von alten Männern oder auch von Kämpfern, es ist egal, wir müssen das sofort beenden!« Wie? Wie, Sophie? Wie konnte man einen Kampf beenden, an dem Tausende beteiligt waren? Und das bloß zu dritt. Sophie war verzweifelt. Sie konnten gar nichts tun. Sie würden wahrscheinlich selbst noch draufgehen. Mit Tränen in den Augen schaute Sophie zu ihren Freunden hinüber.

Gila und Zam blickten auf die brennende Stadt, und es schien Sophie, als würde das grässliche, rote Licht der Flammen sich in ihren dunklen Augen widerspiegeln.

Nach einer Weile zog Zam seinen Pfeil heraus. Was hatte er vor?

Sophie blickte auf und versuchte, etwas aus seinem emotionslosen Gesicht zu lesen.

Er nickte Sophie zu, und ihr Herz fing an, schneller zu klopfen.

»Seid ihr wahnsinnig geworden?«, zischte Gila und hielt Sophie fest, auch wenn sie so etwas wie Bewunderung in Gilas Blick las. »Sie werden sehen, wie ihr den Berg hinunterlauft, und dann seid ihr schon tot, bevor ihr unten ankommt.«

Schlanke Hände griffen wieder nach Sophies Arm, aber sie machte sich los und nahm Zams zweites Messer an sich. Auf einmal war sie sich sicher, dass sie es benutzen würde. Mit diesem Gedanken lief sie hinter Zam den Berg hinunter. Sophie hörte noch Gilas Stimme hinter ihr herrufen.

»Das ist Selbstmord!«

Aber als Zam und sie schon fast durch die Bäume hindurch am Anfang der Stadt ankamen, fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter, und Sophie wusste, dass Gila ihnen beistehen würde.

Die Luft wurde immer stickiger, als sie am Stadtrand an einem verbrannten Holztor standen. Vorsichtig schauten sie durch das schwarze Holz in die mit Holzpfosten umrandete Stadt hinein. Die Schreie waren noch deutlich zu hören, Fußgetrampel und das Prasseln von Feuer ebenso.

»Und wie sollen wir diesen jämmerlichen Leuten helfen?«, zischte Gila.

»Ich weiß es selber nicht, aber wir tun das Beste, um ihnen zu helfen.« Sophie funkelte Gila mit ihren grünen Augen an. »Wir können doch nicht einfach dastehen und zusehen!«

Während sie das sagte, schlich Zam sich durch den grauen Rauch in die Stadt hinein, wo die Schreie immer lauter wurden. Mit klopfenden Herzen stolperten Sophie und Gila ihm hinterher.

Ständig musste Sophie über irgendwelche toten Körper laufen, die die gepflasterten Steine übersäten. Glühwürmchen, die aus den zersplitterten Glasbehältern entwischt waren, flogen in Strömen durch die dunkle Nacht und erhellten unabsichtlich das Meer aus Leichen und weinenden Überlebenden.

Sie kamen zu spät.

Sophie blieb neben einem kleinen Jungen stehen, der mit tränenüberströmtem Gesicht auf eine tote Frau hinabsah.

Sophie wurde blass. Genau so hatte sie auf ihre Mutter geschaut.

»Komm!«, flüsterte sie dem Jungen zu und hielt ihm eine Hand hin.

Der Junge starrte sie auf einmal aus hasserfüllten Augen an. »Du warst das!«, brüllte er mit heller Stimme. »Du hast sie getötet! Du bist eine von ihnen!«

Verflucht, Sophie hatte vergessen, dass die Schattendämonen in ihr immer eine Feindin sehen würden! »Nein, nein!«, sagte sie erschrocken, zog dann aber zaghaft ihre Hand zurück. »Ich werde euch helfen.«

Gila und Zam waren schon weiter gelaufen, um nach Überlebenden zu suchen, aber Zam hatte immer ein Auge auf Sophie, um sie vor einer überraschenden Gefahr zu beschützen.

Der kleine Junge starrte sie immer noch mit seinen dunklen Augen zornig an. Es war so schrecklich, dass Sophie am liebsten gar nicht aufgetaucht wäre. Man machte sie für dieses ganze Chaos verantwortlich, obwohl sie helfen wollte.

Diese Frau auf dem Boden war gewiss die Mutter des Jungen. Um ihre weit aufgerissenen, dunklen Augen waren zwar dunkelblonde Haare zu sehen und keine schwarzen wie die des Jungen, aber ein kleines Muttermal war an ihrem verbrannten Mund zu erkennen, genau wie der nasse Fleck neben dem verkrampften Mund des Jungen.

Traurig hockte Sophie sich neben den kleinen Jungen und schaute ihm, so warmherzig es nur ging, in die Augen. »Kennst du diese Legende? Die Legende, dass bald ein Kind eines Schattendämons und eines Lichtsammlers in eure Welt einwandern wird und diesen grausamen Krieg beendet? Und dass die Welten wieder ohne Chaos und Leid nebeneinander bestehen?«

Inzwischen schniefte der Junge und wischte sich mit seiner bernsteinfarbenen Hand über die großen Augen. Bald darauf nickte er.

»Und genau dieses Kind bin ich. Ich werde eure Welt retten. Und alles wird wieder gut.«

Der Junge fing an zu weinen und schrie kopfschüttelnd: »Nein, nicht alles. Du lügst. Was ist mit Mama?«

Mit einem Blick auf die halb verbrannte Frau stiegen Sophie Tränen in die Augen. Ja, der Junge hatte recht. Sie konnte die Frau nicht von den Toten wiedererwecken. Wie konnte man bloß so kaltherzig sein?

»Und wo sind Papa und mein kleiner Bruder? Wenn du uns retten kannst, dann kannst du sie ja herbringen!« Der Junge schaute sie mit nassen Augen an, und ein kleines Fünkchen Hoffnung zeigte sich.

Sophie wollte ihm zu gerne helfen, ihn aufmuntern oder seine Mutter zum Leben erwecken. Aber Sophie wusste selbst, dass sie ihm nur Mut zugesprochen hatte und sie nichts von alldem versprechen konnte. Rein gar nichts.

Zwischenzeitlich hatte Zam sich mit leisen Schritten zu ihnen gesellt. »In diesem Viertel fanden wir keine weiteren Überlebenden mehr«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Der Junge ist der einzige.«

Sophie schaute mit zusammengepressten Lippen den Kleinen an, der die Hand seiner toten Mutter hielt.

Zam schaute mitfühlend zu ihm hinunter. »Schrecklich! Sogar Kleinkinder sind unter den Leichen. Manche ganz verbrannt. Nach den Schreien zu urteilen, ist da hinten am Ende der Stadt immer noch ein Kampf. Ich werde zu den Einwohnern gehen und ihnen helfen. Du kümmerst dich bitte um den Jungen, und Gila kommt mit mir!« Schließlich hob er den traurigen Jungen von seiner Mutter weg und strich ihm eine blutverklebte Strähne aus den Augen.

Das Kind schaute immer noch zu seiner Mutter hinunter.

»Es ist das Beste, wenn er nicht die ganze Zeit bei seiner Mutter ist«, flüsterte Zam Sophie zu und übergab ihr den Kleinen. Er hob mit seinen weichen Händen sachte das braune Gesicht des Jungen und fragte ihn behutsam: »Wie heißt du?«

Der Junge blickte in den Armen von Sophie auf und murmelte: »Noah.«

Aufmunternd lächelte Zam ihm zu. »Das ist ein wirklich schöner Name. Ich kannte mal ein Kind, das hieß genauso und war so lebensfroh, dass es alles Schlechte vergaß und immer lächelte.«

Noah versuchte nach diesen Worten, ein Lächeln zustande zu bringen, aber es missglückte ihm. Dann klopfte Zam Sophie sachte auf die Schulter und murmelte in ihr verdutztes Gesicht: »Du schaffst das schon! Aber bitte bleib in diesen Häusern und verstecke dich dort mit dem Kleinen!« Er zeigte auf die Hügel, aus denen immer noch wunderschönes Licht strömte.

»Passt bitte auf euch auf!«, rief Sophie den beiden noch zu.

Es dauerte nicht lange, da lächelte Gila sie schief an und bemerkte sarkastisch: »Super! Endlich mal wieder ein paar Lichtsammler umbringen. Hab ich schon seit Tagen nicht mehr gemacht.«

Das Gewicht des Jungen machte Sophie zu schaffen, als sie den weinenden Noah in die nächste Höhlenwohnung, die von seltsam geformten Bäumen umrandet war, trug.

Das Haus war nur wenig beschädigt, hier und da angebrannte Möbel, aber ansonsten war kaum etwas kaputt. Sophie legte Noah auf einen riesigen, weichen Berg aus Tüchern, der wohl als Bett diente. Gedient hatte, durchfuhr es Sophie, als sie ein Mädchen sah, dessen braune Haare sich um ihren zierlichen Körper ergossen. Daneben lag ein Lichtsammler, der mit weit aufgerissenen Augen ein Messer in der Hand hielt, das in dem Bauch des Mädchens steckte.

Als sie das ganze fürchterliche Blut und die Mücken auf den Leichen sah, weiteten sich Sophies Augen. Das war einfach zu viel für sie! Sie hatte die Schnauze voll von diesen Bildern, die sie wohl ihr ganzes Leben in ihren Träumen verfolgen würden.

Leider hatte sie keine Zeit mehr, Noah die Augen zuzuhalten, damit er das schreckliche Bild nicht sah. Sophie rannte in eine Ecke, wo sie sich erst einmal übergeben musste.

Es dauerte ziemlich lange, bis das Ekelgefühl nachließ und die Krämpfe aufhörten. Keuchend stand Sophie mit zwei Händen an der Wand gelehnt und beruhigte sich. Großartig, jetzt hatte sie mal etwas in ihrem Magen gehabt und schon wieder ausgespuckt!

Plötzlich tippte jemand sie von hinten an die Schulter. Kaum hatte Sophie Noahs Gesicht erblickt, schob sich eine kleine Hand mit einem weißen Tuch davor. Ein schiefes Lächeln huschte über das schmutzige Gesicht des Jungen. Dankend und gerührt zugleich nahm Sophie das Tuch und putzte sich damit über ihre Lippen.

Eine Weile später saßen die beiden schweigend auf einer Platte, die über dem Eingang war, und blickten in den schwarzen Rauch, der ihnen die Sicht auf das Grauen versperrte. Und genau deswegen hatte Sophie auch diesen Ort gewählt.

Als wieder Schreie ertönten und Noahs Tränen sich erneut wie Flüsse über seine Wangen ergossen, nahm Sophie den Jungen in den Arm. Und dann fasste sie einen Entschluss, zu dem sie für immer und ewig stehen würde, auch wenn sie dieses Kind erst seit ein paar Minuten kannte: Sie würde alles tun, um ihn zu beschützen, und das sollte er auch wissen. Zam, Gila und sie würden seine Familie ersetzen, die unter ihnen leblos auf dem blutigen Pflaster lag.

Es vergingen Stunden, und Sophie sorgte sich sehr um Zam und Gila. Die Angst um die beiden hielt ihr Herz fest umklammert, doch gleichzeitig versuchte sie, Noah zu beruhigen.

Plötzlich hörte sie Rufe, eine wunderschöne Sprache, und dann sah sie Tausende von Feuerbällen. Lichtsammler!, durchfuhr es sie, und das Leben kehrte auch in Noah zurück. Aber wie konnte das sein? Es war doch Nacht?

Mit einem Blick nach oben stellte Sophie fest, dass nur der Nebel die Sonne verdeckte und es schon länger Tag sein musste. Alarmiert schaute sie zu Noah neben sich, der sich verkrampft an ihr festhielt.

»Ich habe Angst!«, murmelte er mit bebenden Lippen.

»Die bekommen uns schon nicht«, flüsterte Sophie ihm beruhigend zu. »Hier oben sehen sie uns nicht. Wir müssen nur ganz leise sein.«

Skeptisch schaute Noah mit seinen glänzenden Augen nach unten, wo immer wieder helle Flammen nach oben sprühten.

»Aber vielleicht sehen sie uns mit dem Feuer.«

Er schmiegte sich noch mehr an Sophie, und sie spürte, wie er an seinem ganzen Körper zitterte.

»Wenn sie dir nur ein Haar krümmen, dann bekommen sie es mit mir zu tun. Ich passe schon auf dich auf, keine Sorge.«

Der Junge schaute sie an, und Sophie wusste, dass sie und ihre Freunde sein einziger Halt waren und er ihnen vertraute. Vielleicht sollten sie sich doch woanders verstecken. Aber Sophie wusste zu wenig über diese Lichtsammler 

Es vergingen nur Sekunden, bis sie einen Entschluss fasste. »Wir müssen hier weg. Am besten springen wir von Platte zu Platte, die an jedem Hügel ist. Den Abstand müssten wir bewältigen können. Aber leise, ja?«

Noah nickte, und Sophie nahm ihn an der feuchten Hand, als sie sich auf der hohen Steinplatte aufrichtete. Durch den Rauch konnte man gar nicht nach oben sehen, versuchte Sophie, sich zu ermutigen.

Sie liefen an den äußersten Rand der Platte, und Sophie suchte die nächste Platte von dem Nachbarhügel. Sie entdeckte sie etwas unterhalb von der, auf welcher sie gerade standen. Diese Platten sahen aus wie Balkone, nur dass sie extrem hoch waren und kein Geländer hatten.

Hoffentlich hielten sie dem Aufprall der beiden überhaupt stand.

Eine weitere Feuerkugel wurde sichtbar, und das Innere des gegenüberliegenden Hügels wurde in Brand gesetzt.

»Schnell, wir müssen hier weg! Sie setzen wieder alles in Brand!« Sophie nahm Noahs kleine Hand noch fester in ihre und flüsterte ihm zu: »Der Abstand beträgt circa zwei Meter. Wir schaffen das, ja?«

Unentwegt starrte Noah auf die Platte.

Sophie drehte sich noch einmal um und hockte sich dann so vor Noah, dass ihre Augen auf gleicher Ebene wie die des Jungen waren. Ihre Hand legte sie auf seine schmale Schulter. »Wir schaffen das«, sagte sie eindringlich, während sie seine dunklen Augen mit ihren hellen festhielt. »Du hast jetzt schon so viel geschafft, Noah. Wir können das. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich halte dich an der Hand, und falls du hinunterfallen würdest, halte ich dich.«

Noah nickte mutig und ging ein paar kleine Schritte auf den Abgrund zu. Innerlich betete Sophie, dass die Worte, die sie gesprochen hatte, auch wahr wären. Noah musste mindestens sechs Jahre alt sein, und für sein Alter war er zwar ziemlich klein und leicht, aber falls er es nicht schaffen würde, würden sie wahrscheinlich beide in die Tiefe gerissen werden.

Allmählich begann Sophies Herz zu rasen. Nicht nur wegen des gefährlichen Sprungs, sondern auch, weil ein erneutes Feuer in dem Hügel, auf dem sie standen, ausgebrochen war.

»Ich zähle bis drei, und dann springen wir. Wir dürfen aber nicht schreien, ja? Bei der Zahl drei springen wir los, klar?«

Noah bohrte seine winzigen Finger in ihre Haut, und Sophie fing an zu zählen.

»Eins … zwei … JETZT!«

Die Füße der beiden lösten sich von der Steinplatte, und Sophie war froh, dass weder Noah noch sie gezögert hatten.

Sophie hatte wieder festen Boden unter ihren Füßen, und sie hörte, wie auch Noah auf der Steinplatte ankam. Bevor die beiden das Gleichgewicht verlieren konnten, lief Sophie mit wackeligen Beinen auf die Mitte der Platte.

»Wir haben es geschafft! Siehst du, so schwierig war das gar nicht.«

Noah brachte ein kleines Lächeln zustande.

Sophie raunte ihm zu: »Okay, und das machen wir jetzt immer so, bis wir in Sicherheit sind.«

Die Lichtsammler konnten sie nicht gehört haben, denn ihre schöne, flüssige Sprache verirrte sich in die andere Richtung.

Sophie schaute auf die nächste Platte, die jedoch etwas höher war als die, auf der sie gerade standen.

»Ich springe vor«, beschloss sie. »Ich sage, wann du nachspringen sollst.«

Noah hielt ihre Hand fest umklammert und schaute sie aus panikerfüllten Augen an. »Bitte lass mich nicht zurück!«

Aus seiner Kehle ertönte ein leises Wimmern, das einen tiefen Stich in Sophies Innerem zurückließ.

»Noah, ich lasse dich doch nicht zurück«, versuchte sie, ihn zu beruhigen, als ihm dicke Tränen über die Wangen liefen. »Du springst gleich nach mir, und ich werde dir dabei helfen, ja? Zusammen schaffen wir das nicht. Leider muss diesmal jeder für sich springen. Siehst du diese Platte? Sie ist viel zu hoch, als dass wir zusammen springen könnten.«

»Aber eben sind wir doch auch zusammen gesprungen. Bitte lass mich nicht alleine!«

Wie konnte Sophie dem Kleinen bloß erklären, dass man, wenn man höher springen musste, es nicht zusammen machen konnte? »Das funktioniert nun mal nicht. Wir würden beide in die Tiefe fallen.«

»Aber so werde ich hinunterfallen.« Er schaute sie mit bebenden Lippen an.

Sophie wäre am liebsten mit ihm zusammen gesprungen, aber das ging nicht. »Ich werde dir helfen. Spring einfach so wie eben, nur höher!« Sophie wandte sich schon der nächsten Platte zu, als sie sich noch mal umdrehte. »Ich habe dir doch versprochen, dass dir nichts passieren wird, Noah. Ich passe auf dich auf.« Sie lächelte ihn an und sprang dann mit einem großen Satz auf die etwas höher liegende Platte. Mit den Knien kam sie auf und fluchte innerlich.

Schnell rappelte sie sich auf und stolperte zu dem Rand der Platte, wo sie der kleinen Gestalt, die der Rauch fast ganz verbarg, zuwinkte.

Noah sprang unsicher von einem Fuß auf den anderen. Sophie würde ihn auffangen, das hatte sie ihm versprochen, falls er nicht so weit kam.

»Komm schon!«, murmelte Sophie leise, und ihre Finger wurden ganz nass.

Sogleich nahm der Kleine Anlauf. Sophie wusste in dem Moment, als er absprang, dass er nie so hoch kommen würde, um mit seinen Füßen oder Knien auf der Platte anzukommen. Er sprang viel zu früh ab. Als er sich dessen bewusst wurde, schrie er leise auf. Trotz des Schrecks gelang es Sophie, sich sofort über den Rand zu beugen und gerade noch im letzten Augenblick eines seiner dünnen Ärmchen zu fassen.

»Ich hab dich, ist ja gut!«, raunte sie ihm ins Ohr, als sie ihn mit beiden Armen hochzog. Gott sei Dank war er so leicht!, dachte Sophie. Als sie den weinenden Noah auf der Platte zu sich in die Arme zog, war sie so erleichtert, dass sie fast anfing zu weinen.

Als Noah sich endlich beruhigt hatte, sagte er: »Du hattest wirklich recht. Du hast mich aufgefangen!«

Vorsichtig lächelte Sophie.

Noch lange blieben sie so sitzen, bis sie den Mumm hatten, auf die nächste Platte zu springen.

Die nächsten Platten waren alle weniger als zwei Meter entfernt und alle auf der gleichen Ebene.

So konnten sie zusammen springen, und es war weniger gefährlich.

Bald verweilten sie auf einer Platte, da man die Geräusche eines Kampfes hörte.

»Wir verstecken uns lieber hier, bis dieser Kampf vorbei ist. Und bis Zam und Gila uns abholen. Weißt du, Zam ist der, der dich auf dem Arm hatte.«

Noah nickte und lächelte flüchtig. »Und Gila?«, flüsterte er zaghaft.

Sophie musste nachdenken. »Gila ist eine Freundin von uns«, sagte sie dann. »Sie ist zwar manchmal unfreundlich und sarkastisch und etwas schräg drauf, aber sie gehört zu uns.«

Noah schaute sie wieder mit seinen dunklen Augen an und zog seine Stirn kraus. Es sah so aus, als wollte er etwas sagen, sich aber nicht traute. Dann gab er sich einen Ruck und fragte mit leiser Stimme: »Gehöre ich … gehöre ich jetzt auch zu euch?«

Sophie nahm ihn sanft in ihre Arme. »Natürlich gehörst du ab heute auch zu uns. Wir sind doch jetzt für dich verantwortlich, und wir werden auf dich aufpassen. Weißt du, Noah, wir sind nun alle so etwas wie eine Familie.«

Bei dem Wort Familie schaute er nach unten und dann mit weiteren Tränen in den Augen Sophie an.

Oh nein!, dachte Sophie, sie hätte dieses Wort lieber nicht benutzt.

Noahs Mund verzog sich zu einem Lächeln. Und es fiel ihm noch nicht einmal schwer. »Und das versprichst du hochheilig?«

»Ja, ich schwöre! Wir sind jetzt eine Familie.«

Sie gaben sich die Hand, und Sophie verwuschelte dem ausgelassen grinsenden Noah die schwarzen, glatten Haare, die ihm ins Gesicht fielen.

Es dauerte nicht lange, da lag Noahs Kopf auf ihrem Schoß, und die Nacht begann, während die Kampfesschreie immer weniger wurden. Sophie war genauso müde wie der Kleine auf ihrem Schoß, dessen Haar sie gedankenabwesend streichelte. Aber sie konnte nicht schlafen. Nein, sie durfte nicht. Ihre Gedanken flogen ständig zu Gila und Zam.

Wo die beiden jetzt wohl waren? Ob sie immer noch kämpften oder 

Sophie konnte einfach nicht mehr abwarten. Sie musste zu ihnen. In ihrer Brust spürte sie einen schmerzhaften Stich. Es war schon so lange her, dass sie die beiden gesehen hatte.

Auf einmal wünschte sie sich nichts mehr, als zu wissen, was mit ihnen passiert war. Entschlossen stand sie auf und weckte Noah.

»Was ist denn?«, fragte er müde und rieb sich mit den Händen über seine mit schwarzen Wimpern umrahmten Augen.

»Ich muss auf das Schlachtfeld. Ich muss einfach wissen, was mit Zam und Gila passiert ist.«

»Und gehen wir jetzt sofort?«

Wir? »Nein, nein. Ich gehe sofort. Hier oben kann dir nichts passieren. Ich komme sofort wieder, in Ordnung?«

Noah sprang auf und schaute sie verzweifelt an. »Nein! Du darfst nicht ohne mich gehen. Was ist, wenn die hier hoch kommen?«

»Das passiert nicht.« Noah fing Sophie langsam an zu nerven, aber er hatte auch schlimme Zeiten hinter sich. Sie wollte ihm nicht wehtun. Wenn sie hier oben warteten, würde das nicht viel nützen. Wahrscheinlich würden Zam und Gila Noah und Sophie noch nicht einmal finden, falls auch sie nach ihnen suchten. »Okay, dann komm mit! Aber wir müssen sehr leise sein. Und du machst immer das, was ich auch tue, klar?«

Eifrig nickte Noah, und er nahm schnell Sophies Hand, als wollte er ihr damit zeigen, dass er ohne sie nirgends mehr hinging.

»Du darfst wirklich keinen Ton von dir geben, und wenn ich sage, renn weg, dann tust du das auch! Auch wenn ich nicht bei dir bin.«

Noah wurde langsamer, als sie die Leitern durch das ausgebrannte Hügelhaus hinabstiegen. Hier und da brannte noch Feuer, und Sophie hatte Angst, dass sie ersticken könnten. Sie schaute zu Noah und hoffte, dass alles gutgehen würde.

Als sie den Ausgang erreichten, zischte Sophie dann mit ernster Miene: »Bleib bitte dicht hinter mir! Wir laufen an den Hügeln entlang, dann können wir jederzeit hineinrennen, wenn Gefahr lauert.«

Sophie presste sich dicht an die Hauswand, und mit einem schnellen Blick nach links und rechts huschte sie nach draußen, dicht gefolgt von Noah.

Sophie lief durch die rauchige Stadt, die nur von ein paar Glühwürmchenfackeln beleuchtet wurde, und stolperte manchmal mit Noah an der Hand über verbrannte Holzteile. Sobald irgendein Geräusch ertönte, drückte sie sich und Noah an die Hauswand und wartete mit klopfendem Herzen, bis sie sicher war, dass das nur ein herabfallender, brennender Balken oder sonst irgendetwas gewesen war – und kein Lichtsammler.

Die Geräusche wurden von Minute zu Minute lauter, und bald wurden mehrere Personen sichtbar, die reglos auf dem Boden lagen.

Sophie hielt Noah die Augen zu, damit er nicht an seine Familie dachte oder unter den Ermordeten gar noch seinen Vater oder Bruder fand.

Schließlich wurden das Klirren von Schwertern, das Surren von Pfeilen und das Prasseln von Feuer immer deutlicher. Die Schreie ließen Sophie innehalten, und sie hoffte inständig, dass es nicht die von Gila oder Zam waren.

Auf einmal stolperte sie und fiel über eine Person, die da auf dem Boden lag. Angeekelt sprang sie auf und starrte mit brennenden Augen auf die Gestalt auf dem Boden.

Der Schock gefror Sophie die Glieder, und ihre Kehle schnürte sich zu. Das war nicht wahr. Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein! Das konnte gar nicht wahr sein.

»Sophie, alles in Ordnung? Was ist denn?« Langsam kam Noah auf sie zu.

»Bleib stehen, wo du bist!«, zischte sie und funkelte den erschrockenen Noah an, der unverzüglich wie erstarrt dort blieb, wo er war.

Langsam beugte sich Sophie wieder über die tote Gestalt auf dem Boden. Es war ein Junge. Und er hatte schwarze Haare. Vorsichtig drehte sie ihn um, und der Geruch von verbrannten Haaren ließ sie die Nase rümpfen. Die eine Hälfte des Gesichts des Jungen war so verbrannt, dass das rohe Fleisch dunkel war. Mit klopfendem Herzen und zitternden Händen öffnete Sophie den Mund des Jungen.

»Sophie!«

Vor Schreck wich Sophie von dem Toten zurück und riss den Kopf herum. Diese Stimme …»Zam!«

So schnell sie konnte, rannte sie zu Zam, der seine Arme um sie schlang.

»Was tust du denn hier?! Ich habe dich überall gesucht!«

Sophie musste lachen, auch wenn es nur vor Erleichterung war. »Wir haben uns auf diesen Platten auf den Hügeln versteckt, und dann hielt ich es nicht mehr aus und suchte nach euch. Wieso hat das denn so lange gedauert?« Vor lauter Freude umarmte Sophie ihren Freund wieder und flüsterte: »Ich habe schon gedacht, du wärst der hier!« Sie zeigte auf den toten Jungen.

Zam schaute starr auf die Leiche. »Fast hätte mich auch der Tod eingeholt, aber das Schicksal verschonte mich, dank Gila.«

»Wo ist sie? Und warum dauert dieser Kampf so lange? Was ist denn passiert?«

Zam blickte betrübt zu Boden.

Sophies Herz machte einen Sprung, und es schien wie eben, als würde etwas in ihr zerspringen. »Oh nein! Sag nicht, dass sie …«

»Nein, sie ist nicht tot. Also, ich weiß es nicht. Ich sah nur noch, dass zwei Lichtsammlerinnen sie mit Feuer bombardiert haben, danach habe ich sie aus den Augen verloren wegen diesem ganzen Rauch und weil mich ein weiterer Lichtsammler angegriffen hat. Die Überlebenden sind, so schnell es ging, auf den Bären in die nächste Stadt geritten und holen Verstärkung. Im Moment sind die Lichtsammler jedoch immer noch in der Überzahl, und es kommen immer mehr dazu. In den nördlichen Provinzen müssen sich welche versteckt haben, die auf diesen Augenblick gewartet haben … Wo ist eigentlich der Junge?«

Wie aufs Wort tauchte Noah aus dem Nichts auf und lächelte Zam flüchtig an.

»Ich habe dich und Noah gesucht, da wir Schattendämonen uns zurückziehen werden. Ich hörte, wie ein Admiral der Lichtsammler einem anderen zuraunte, er solle die Bomben anzünden. Ich bekam nur noch mit, dass wir jetzt genau eine halbe Stunde Zeit haben, bis die ganze Stadt in die Luft fliegt. Und die Hügelstadt war doch eine der schönsten Städte in der östlichen Provinz!« Während er ihnen alles erklärte, spielte Zam mit einem blutigen Schwert. »Wahrscheinlich kommen jetzt immer mehr Lichtsammler durch das Tor in unsere Welt. Zwanzig Leute machten sich auf nach Ajindra, um den König zu warnen und Schattenkrieger zu dem Portal zu schicken. Jedenfalls müssen wir hier ziemlich schnell raus, bevor die Stadt in die Luft fliegt. Vielleicht halten sogar die steinernen Hügel die Detonationen nicht aus.«

»Dann würde ich sagen, suchen wir Gila und laufen los!«

Zam dachte nach. »Es gibt da noch ein kleines Problem …«

Fragend zog Sophie die Augenbrauen hoch.

»Wir müssten dann genau durch das Schlachtfeld.«

Nach Zams Worten schaute Sophie ängstlich auf Noah, der sich immer noch an ihr festhielt und fragte: »Gibt es keinen ungefährlicheren Weg?«

Zam zeigte auf sich, worauf Sophie ihn mit schiefem Kopf anschaute.

»Ich lebe doch noch, oder?« Spöttisch grinste er.

Sophie stöhnte. »Du kannst auch kämpfen oder Schatten bändigen. Wir können eigentlich nichts richtig.«

»Keine Sorge, ich passe auf euch auf. Einfach durchlaufen! Wir müssen da durch. Wir wären nicht in einer Stunde aus der Hügelstadt heraus, wenn wir in die andere Richtung laufen würden.«

Sophie hasste es, derart unter Zeitdruck zu stehen.

»Hier!«

Zam gab Sophie ein Messer, das jedoch eher einem Säbel glich. Es lag ziemlich schwer in ihrer Hand.

»Und das darfst du benutzen.« Zam legte Noah ein kleines Messer in seine Hände.

Noah schaute mit großen Augen das Messer an.

Erschrocken starrte Sophie Zam an. »Was soll das?«, zischte sie ihm zu. Ihre blaugrünen Augen funkelten ihn zornig an. »Der Kleine ist vielleicht gerade mal sechs, und du willst ihn gleich zu einem Krieger ausbilden? Er ist doch noch ein Kind! Bis ich acht war, durfte ich so etwas nicht mal berühren, und du legst es ihm wie selbstverständlich in die Hände.«

Sophie wollte Noah das Messer aus den Händen reißen, aber Zams fester Griff hielt sie zurück.

»Lass das!«, brummte er ohne jede Mimik im Gesicht. »Er muss es sowieso früher oder später lernen. Es ist seine Entscheidung! Und jetzt müssen wir uns beeilen!«

Seine Entscheidung? Hatte Sophie sich verhört? Noah konnte doch noch gar nicht alleine Entscheidungen treffen.

Sie liefen durch den schwarzen Rauch, und Sophie musste immer wieder aufpassen, dass sie nicht in Feuerstellen lief, die alle zwei Meter auf dem Boden waren. Die Luft wurde immer dicker vor Rauch, und bald brach Sophie der Schweiß aus, so heiß war es. Die Kleider klebten ihr am Leibe, und die Kampfesgeräusche waren so nah, dass sie schon die ersten Gestalten wahrnahm, die sich mit Schwertern oder Feuer bekämpften.

»Ich bleibe bei euch in der Nähe. Habt also keine Angst!«, versuchte Zam, die beiden zu beruhigen.

Als Sophie jedoch sah, wie Noah zaghaft das Messerchen in seinen Händen begutachtete, riss sie es ihm aus den Händen und steckte es in ihre Manteltasche. Zam hatte nichts gesehen, und darüber war Sophie sehr froh.

Sie tauchten in den ohrenbetäubenden Lärm der Kämpfenden ein, und Sophie hätte wirklich nicht erkennen können, wer hier ein Schattendämon und wer ein Lichtsammler war. So würde sicherlich auch nicht auffallen, dass sie selbst ein Mensch war. Ein Mensch in einer ziemlich wüsten Welt.

Als um sie herum die Schreie der Kämpfenden, Verletzten oder Sterbenden ertönten, blieb Noah dicht hinter ihr. Feuer flog knapp an ihren Ohren vorbei.

Als Sophie sich umdrehte, sah sie, wie eine Frau, die eben noch einen Schatten auf ihrer Hand gehabt hatte, plötzlich aus ihrer Konzentration gerissen wurde, als das Feuer sie umfing und sie Todesschmerzen aushalten musste. Schnell rannten Sophie, Zam und Noah weiter.

Immer wieder mussten sie Schwerthieben ausweichen oder dem Feuer, dass die Lichtsammler unentwegt auf ihre Feinde abschossen. Natürlich wehrte Zam die Angreifer ab, die sich ihnen in den Weg stellten, und bahnte ihnen somit einen Weg durch die Meute der kämpfenden Gestalten.

Wiederholt drehte Sophie sich nach Noah um – bis sie plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Noah war verschwunden.

Sophie wirbelte herum. Sie gab Zam ein Zeichen, und zusammen liefen sie den Weg, den sie hergekommen waren, wieder zurück. Wieso hatte sie ihn auch nicht an der Hand gehalten?

Einen Herzschlag später erblickte Sophie seine kleine Gestalt und machte sich auf den Weg zu ihm. Er hatte die Orientierung verloren und sah verzweifelt und verloren inmitten des brutalen Kampfes aus. Ein kleines Kind im Chaos eines grausamen Krieges.

So schnell es ging, sprintete sie zu ihm. Keine zehn Meter war Sophie von ihm entfernt, da sah sie einen Mann mit einem Messer auf Noah zukommen.

Vor Schreck rannte Sophie noch schneller. Hatten diese Lichtsammler noch nie etwas von Moral gehört? Das war ein unschuldiges Kind!

Sophies Augen fingen an zu tränen. Der schwarze Rauch biss ihr in die Nase, und sie konnte kaum noch atmen. Aber das alles war ihr egal. Nur eines zählte: Noah.

Nur noch ein paar Meter 

Doch sie kam zu spät. Der Lichtsammler war schon bei dem Jungen angekommen, der ihn mit großen, ängstlichen Augen anstarrte.

Nein, nein, alles war ihre Schuld! Hätte sie ihm doch bloß das Messer gelassen! Er hätte sich damit verteidigen können, schoss es Sophie durch den Kopf.

Der Mann grinste hämisch, und die glitzernden Farbwirbel um seine Augen wurden rötlich.

»Nein, nein!« Schluchzend kam Sophie neben dem zitterndem Bündel zu stehen und stellte sich beschützend vor Noah.

Der Lichtsammler holte noch mal mit seinem Arm aus und wollte Sophie gerade angreifen, als sie sich wie ein Blitz mit dem Kopf in den verdutzten Angreifer stieß. Sie nahm ihr Messer und rammte es in den Lichtsammler hinein, der wütend aufschrie.

Plötzlich erschien alles nur noch wie in Zeitlupe. Der Mann fiel nach hinten, und Sophie drehte sich mit fliegenden Haaren der kleinen Gestalt zu.

Er durfte nicht sterben! Sie strich Noah, der sie mit angstvoll aufgerissenen Augen anstarrte, über die verklebten, dunklen Haare und redete leise auf ihn ein. Aus seinem Bauch quoll das Blut heraus, und Sophie fing wieder aufs Neue an zu weinen.

»Es tut so weh«, wimmerte Noah.

Sophie nickte, während ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.

»Bitte mach, dass es aufhört!« Noah starrte sie flehend an, und Tränen rollten auch seine Wangen hinunter.

Sophie nickte benommen mit dem Kopf. »Noah, bitte, du musst jetzt stark sein! Du darfst jetzt nicht einschlafen!«

»Ich bin aber müde. Wenn ich einschlafe, tut es nicht mehr weh.«

»Nein, nein! Es tut nur umso mehr weh, wenn du jetzt die Augen schließt. Du musst sie auflassen, ja?« Denk nach, Sophie! Denk bloß nach!

Aber sie wusste sich nicht zu helfen und auch nicht Noah, der immer weniger Atemzüge tat und dessen Körper ununterbrochen zitterte. Bald griff er kraftlos nach ihrer Hand. Sophie schaute in seine glasig gewordenen Augen, die ihr so groß vorgekommen waren. In dem Moment war ihr egal, was die Kämpfenden taten, ob jemand sie angriff oder einfach bloß bedrohen wollte.

»Wenn ich jetzt schlafe, dann werde ich zu Mama und Papa kommen, oder?«

Sophie schaute ihn traurig an, und weitere Tränen liefen ihre Wangen hinunter.

In dem Moment kam Zam. »Oh nein!«

»Was sollen wir tun, Zam? Ich habe ihm doch versprochen, dass ich auf ihn aufpasse!«

Plötzlich starrte Zam Sophie geistesabwesend an. »Die Blume! Sophie, die Blume!«

Sophie hörte auf zu weinen und schaute ihn irritiert an. Dann traf es sie wie ein Blitz. Ja, die Blume, die Zam ihr am Anfang ihrer Reise gegeben hatte.

Schnell suchte sie in ihrer Hosentasche, und als ihre Finger die weichen Blütenblätter berührten, zog sie sie schnell heraus. Die gelbe, zerknitterte Blüte mit dem gestreiften Muster war kaum noch zu erkennen. Zerfleddert hing sie in ihren Händen.

Inzwischen hatte Zam sie schon gefaltet und Sophie ein Zeichen gegeben, dass sie Noahs Mund öffnen sollte. Während Zam sie ihm in den Mund schob und Sophie seinen Kiefer betätigte, damit der Junge die zarten Blüten schluckte, spannte sie sich immer weiter an. Es musste einfach klappen! Es musste, musste! Wenn dieser kleine Junge sterben würde, könnte sie mit dem schlechten Gewissen nicht leben. Sie hatte es ihm versprochen. Er hatte sich auf sie verlassen, und so schnell hatte sie ihn dann aus den Augen verloren.

Nun schaute Zam Sophie traurig an.

Nein! Ungläubig starrte Sophie auf den reglosen Jungen und riss seinen leblosen Körper an sich, als sie sich bewusst wurde, dass er keinen einzigen Atemzug mehr machen konnte.

Sachte zog Zam sie von dem toten Jungen weg und murmelte ihr beruhigend zu: »Wir können nichts mehr für ihn tun. Er ist gestorben.«

Ich habe versagt, dachte Sophie. Er ist tot. TOT. »Nein, du lügst!« Sophie schrie Zam an und wehrte sich weinend gegen seinen immer härter werdenden Griff. »Wir haben ihm die Blume gegeben! Du sagtest selber, dass sie eine große Heilkraft hat! Er ist nicht tot. Er lebt noch!«

Beschwichtigend streichelte Zam ihr über die Haare.

Nein, nein! Sophie konnte es nicht glauben. Sie wollte es nicht glauben. Nein, es stimmte nicht! Ihr kleiner Noah konnte nicht tot sein, er gehörte doch zur Familie.

»Die Heilkräfte genügten nicht, Sophie. Er hat es nicht geschafft. Sein Körper hatte schon zu viele innere Verletzungen, und außerdem hat er zu viel Blut verloren, sodass er keine Chance mehr hatte.«

Sophie schlug ihm gegen die Brust. »Nein! Er lebt noch. Vielleicht … Vielleicht hat er sich nur an der Blume verschluckt. Ja, genau! So muss es sein.« Vor ihren Augen verschwamm alles. Noah war nicht tot. Er konnte nicht einfach von einem auf den anderen Moment gestorben sein.

Schnell beugte sie sich über den Kleinen und pustete Luft in seinen leblosen Mund. Sie drückte mit beiden Händen immer wieder auf seine Rippen. »Eins, zwei, drei!« Sophie pustete so viel Luft wie möglich in seinen Mund. »Eins, zwei, drei!«

Es mussten Minuten vergangen sein, als ihr schwindelig wurde. Ihre Kehle war zugeschnürt, und sie konnte nichts mehr richtig sehen. Die Tränen liefen unkontrolliert an ihrem Kinn hinunter und tropften in die Blutlache. Noahs Blut.

Zam drehte sie mit Leichtigkeit herum. Sophie war so kraftlos, so verletzt 

Er starrte ihr mit ebenfalls nassen Augen in die ihren. »Wir müssen weiter. Es hat keinen Sinn. Die Bombe müsste in weniger als einer Viertelstunde losgehen.«

Mit einem letzten Blick auf die kleine Gestalt, die auf dem schmutzigen Boden lag und die Sophie doch beschützen sollte, lief sie Zam mit wackeligen Beinen nach.

Noah 

Sophie bekam nicht mal mit, wie Zam sich mit dem Schwert einen Weg durch die kämpfenden Leute bahnte.

Plötzlich sackte sie auf den Boden. Eine Keule hatte sie am Kopf getroffen. Aber ihr war alles egal. Sie nahm kaum wahr, wie Zam den Angreifer außer Gefecht setzte und sie dann auf den Rücken lud.

»Gila!«, entfuhr es Sophie plötzlich. »Wir müssen Gila warnen!« Sie konnten sie nicht auch noch dalassen.

Zam lief einfach weiter. »Wir schaffen es nicht mehr. Die Bombe müsste jeden Augenblick losgehen.«

Es war wie damals mit Mia. Er rannte und rannte, während sie versuchte, niemanden zurückzulassen. Aber man konnte in einem Kampf nur sich selbst retten, während andere draufgingen. Wären sie doch bloß nicht in diese verdammte Hügelstadt gegangen! Nein, so durfte Sophie nicht denken. Sie hatte Noah getroffen. Getroffen und verloren.

»Können wir es nicht versuchen?«, fragte Sophie wie in Trance.

Aber Zam rannte mit ihr einfach weiter.

Es vergingen bloß Sekunden, als sie aus der Stadt stürmten. Während sie auf das große Feld flüchteten, das sich vor ihnen ausbreitete, gab es plötzlich einen großen Knall, und eine Druckwelle erreichte sie, die sie zu Fall brachte.

Auf dem Feld liegend beobachteten die beiden mit angstverzogenen Gesichtern, wie die Stadt in Trümmer zerfiel und immer weitere Detonationen den Planeten erschütterten. Das Licht wurde orange, und grelle Explosionen mussten nun auch den anderen Teil der Hügelstadt erreicht haben.

»Gila war noch dort«, murmelte Sophie traurig. Sie hatte keine Träne mehr, die sie noch hätte vergießen können. »Und sie hat es nicht gewusst.«

Zam legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie fest an sich. Er rieb sein tränennasses Gesicht an ihrem Haar, und in dem Moment musste auch Sophie wieder weinen. Ihre Haut weichte wegen des ganzen Salzwassers auf.

Sie verweilten in dieser Haltung mehrere Minuten, bis Zam und Sophie zusammen weiter in das schützende Kornfeld wateten. Niemand wusste, wann die Lichtsammler aus der Stadt kommen würden.

»Jetzt sind wir bloß noch zu zweit.«

Zam sagte das mit einer solchen Traurigkeit, dass Sophie resigniert tief durchatmete.

»Komm!« Zam hielt Sophie eine Hand hin. »Wir müssen weiter. Sonst holen die Lichtsammler uns ein.«

Immer noch regungslos starrte Sophie auf die brennende Stadt.

»Durch Anstarren werden Gila und Noah auch nicht wieder lebendig.«

Zam zog Sophie, die benommen auf die zertrümmerte Stadt schaute, mit sich. Anstatt jedoch weiterzulaufen, drehte Sophie sich noch einmal um. Genervt tat Zam es ihr nach.

Was war das?

Das konnte doch nicht sein! Sophie blieb der Mund offen stehen.

Vor ihnen humpelte eine dunkle Gestalt zu ihnen herüber. Wie zu Eis erstarrt verharrten Zam und Sophie. Wer war das? Die Gestalt kam wankend auf sie zu. Immer näher und näher.

»Himmel!«, flüsterte Zam. »Wie ist das möglich?«

Sophies Augen wurden immer größer, und das Leben kroch wieder in sie. Halluzinierte sie? War sie immer noch so benommen, dass sie jetzt Scheinbilder sah? Oder war das, was sie da vor sich sah, diese Gestalt, etwa Realität? »Zam, siehst du auch, was ich sehe?«, fragte sie zaghaft.

»Besser gesagt, siehst du das, was ich sehe?« Zam lachte auf.

In Sophie breitete sich ein Gefühl von Wärme aus. Die Gestalt hielt etwas in ihren Armen.

»Ist das … Ist das …«

Sophie hatte Zam noch nie stottern gehört.

»Das ist Gila! Und sie trägt Noah in ihren Armen! Oh mein Gott!« Sophie rannte, so schnell es ging, auf Gila zu. »Gila! Gila!«, schrie sie und rieb sich die Augen, als sie vor ihr stand.

»Ja, ich bin es. Ich bin es tatsächlich. Und ich habe euren kleinen Freund mitgebracht, der auf einmal aus heiterem Himmel aufgestanden ist.«

»Noah! Oh Gott, Noah! Es tut mir so leid!« Diesmal waren Sophies Tränen reine Freudentränen.

»Wie … Wie ist das möglich? Ich spürte keinen Puls mehr.« Auch Zam umarmte stürmisch Gila und Noah.

»Du sagtest doch selbst, dass diese Blume wahre Wunder vollbringen kann.« Mit verschwommener Sicht lächelte Sophie jeden ihrer Freunde an. »Aber wie habt ihr es geschafft, euch vor der Explosion zu retten?«

»Na ja, ich schnappte mir den Kleinen, der auf mich zugestolpert kam, und rannte in eine der Höhlen. Ihr müsst wissen, dass die Hügel ziemlich stabil waren. Aber eigentlich war alles eine Frage des Glücks. Denn ein paar andere sind eingebrochen. Vor den nächsten Detonationen war ich jedoch schon längst mit Noah aus der Stadt.«

Sophie musste ihre Freunde wieder umarmen, die alle schwarzen Ruß husteten und sich in der Mitte des hohen Feldes niederließen, um sich auszuruhen.

»Wie geht es dir?«, fragte Sophie den kleinen Noah, während er sich neben sie kauerte.

»Besser, aber ich bin so müde.«

»Wie bist du aufgestanden, und wann?«, fragte nun auch Zam.

»Ich weiß nicht wann. Aber ich wachte auf, weil es so laut war, und dann stand ich auf, obwohl mir so schwindlig war. Und ihr wart weg. Da sah ich Gila, und dann hat sie mich schnell mit sich genommen.«

»Gott sei Dank!« Sophie verwuschelte Noah die Haare. Leiser flüsterte sie Gila zu: »Ohne dich wäre er jetzt tot. Danke!«

»Wir können uns nicht mehr ausruhen«, meinte Zam und zeigte mit einem schmutzigen Finger auf die Stadt. »Die Lichtsammler müssten eigentlich schon aus der Stadt geflüchtet sein. Ich verstehe das nicht.«

»Sie liefen in die andere Richtung. Und andere, die es nicht mehr so weit schafften, benutzten ihren komischen Schutzschild, also sie sammeln diese verdammten Flammen um sich und konnten sich so schützen. Manchen ist es jedoch missglückt.« Amüsiert kicherte Gila, und ihre dicken Lippen waren zu einem bösen Lächeln verformt.

»Ihr Ziel ist Ajindra«, überlegte Zam laut. »Ich sah auch ein paar Lichtsammler, die in diese Richtung gelaufen sind.«

»Zwei halten immer Wache, okay? Ansonsten wäre es zu gefährlich. Und wehe jemand schläft während seines Dienstes ein!«, schlug Sophie vor. »Also wer will schlafen?«

Gila und Noah hoben fast gleichzeitig die Hand, und Zam hatte nur eine kurze Verzögerung.

»Oh nein!«, stöhnte Zam.

Schließlich kuschelten sich Gila und Noah, den Sophie endlich aus ihren Armen losließ, schon auf den weichen Boden.

»Stopp!«, sagte Zam und hob selbstgefällig den Kopf. »Ich bin hier der einzige Mann! ’tschuldigung, Noah, aber es ist so. Wenn Gefahr lauert, müsste ich ausgeschlafen sein, um euch zu beschützen.«

Augenblicklich bekam er einen Stein, den Gila im Liegen aufgehoben hatte, an den Kopf geworfen.

»Aua!«, protestierte er und rieb sich den Kopf.

Schon griff Gila mit geschlossenen Augen neben sich, um einen weiteren Stein zu werfen.

»Nein, nein, ist schon okay, ich mache ja diese Wache.«

Sophie lächelte vage. »Wir müssen uns eben wach halten.«

Aber Sophies Lider wurden mit jeder Minute schwerer und schwerer. Vor allem als sie das gleichmäßige Atmen von Gila und Noah hörte. Noah atmete, durchfuhr es Sophie, und eine Welle der Erleichterung durchfloss sie. Zärtlich legte sie eine Hand auf die vom Schmutz geschwärzte Wange des Jungen.

»Ich habe fürchterlichen Durst. Ich schaue mal nach, ob hier irgendwo eine Quelle ist«, sagte Zam und nahm eine Flasche, die er wohl aus einem der Hügelhäuser geklaut hatte, aus seiner großen Manteltasche.

»Zam!« Sophie hielt ihn am Handgelenk fest, bevor er ging.

»Ja?« Er fuhr sich mit seiner Zunge über die trockenen Lippen.

»Bitte komm schnell wieder! Wenn du in einer halben Stunde nicht da bist, dann werde ich dich suchen gehen, klar? Und denk an das kalte Wesen! Vielleicht hat es sich hier irgendwo versteckt oder so. Also … pass einfach auf dich auf, versprichst du mir das?«

Zam lächelte sie liebenswürdig an und riss sich sanft von ihr los. Sophies Bemutterung ging ihm wohl so richtig auf die Nerven.

»Wach bleiben!«, murmelte sie und summte leise eine Melodie vor sich hin.

Es war ein Lied, das ihre Mutter ihr früher immer vorgesungen hatte. Sophies Gedanken schweiften wieder zu ihrem Vater, Yvonne, ihren Freunden in der Schule und zu Mia. Schule … wie komisch sich dieses alltägliche Wort jetzt anhörte. Ob sie, wenn sie wieder in ihrer Welt wäre, einfach so weiterleben könnte? Ob sie Albträume bekäme, oder ob sie einfach so lebte, als wäre das alles nie geschehen? Sophie konnte es nicht sagen.

Sie hielt die Luft an, als sie Schritte näher kommen hörte.

Zam setzte sich zu ihr und lächelte sie aufmunternd an.

»Ich habe den halben Bach leer getrunken, solchen Durst hatte ich. Hier!« Er gab Sophie die große Flasche.

Sophie hätte das kalte Wasser allein trinken können, ließ jedoch noch etwas für Gila und Noah übrig.

Als sie ihren Mantel auszog, um ihre Schürfwunden an Armen und Beinen zu begutachten, fiel etwas aus einer ihrer Taschen.

»Was ist das?«, fragte Zam neugierig.

Sophie zuckte mit den Achseln und nahm das Papier, das aus ihrer Manteltasche gefallen war, in die Hand. »Ach so, das ist nur dieser Flyer von dem angeblichen Verräter, auf dessen Tod eine Belohnung ausgesetzt wurde, nur weil er eine Lichtsammlerin als Schwester hatte. Was konnte der denn dafür?«

»Gar nichts. Aber die Lichtsammler sind alle schlecht, was du ja heute selbst erlebt hast.«

Sophie wollte schon erwidern, dass auch die Schattendämonen nicht gerade das netteste Volk waren, riss sich dann aber zusammen. Sie wollte keinen Stress mit Zam, nicht jetzt.

Gedankenverloren schaute Sophie auf das Bild des Jungen mit den weichen Zügen. Sie waren weit genug von der zerstörten Hügelstadt entfernt, sodass kein Rauch den Himmel verdeckte und das rötliche Licht der Sonne ihr noch genug Helligkeit spendete, um das Gesicht des Jungen genauer betrachten zu können.

Sophie musste wohl ziemlich lange dagesessen und das Gesicht angestarrt haben, denn Zam blickte nun auch auf das Gesicht des Jungen.

»Was ist denn?«, fragte er beunruhigt.

»Ich … Ich weiß nicht. Irgendetwas ist an diesem Gesicht.«

»Das ist bloß eine Fotografie. Da kann man nicht so viel erkennen …«

»Doch, doch, schau mal genau hin!«

Sophie hielt Zam den Zettel so unter die Nase, dass seine schwarzen Augen anfingen zu schielen.

Da war irgendetwas Vertrautes an diesem Gesicht. Sophie konnte einfach nicht festmachen, was es war, aber das Gesicht kam ihr bekannt vor.

Nach längerem Grübeln fiel endlich der Groschen. Und das Ergebnis war so wunderlich, dass Sophie sich wieder und wieder den Kopf zermarterte. »Zam!«, rief sie dann.

»Hast du es herausbekommen? Mich hat das Gesicht nämlich auch an irgendjemanden erinnert. Aber alle Jungen, die ich kenne, sehen ihm einfach gar nicht ähnlich.«

Sophie musterte Zam nachdenklich. »Es wird jetzt wahrscheinlich etwas komisch klingen, aber das ist ein Mädchen. Ein Mädchen mit kurzen Haaren und in Männerkleidung.«

Zam setzte sich mit einem Ruck aus seiner bequemen Haltung auf. »Was?!«

»Ja. Und rate mal, wer solche wunderbar glänzenden, braunen Haare hat!«

Zam dachte kurz nach, schaute dann mit großen Augen neben sich und flüsterte erschüttert: »Nein, das kann doch nicht sein!«

»Doch, schau noch mal hin!«

Zam nahm den Flyer und hielt ihn neben Gilas Gesicht, während Sophie Zams Augen beobachtete, die immer wieder von Gilas Gesicht zu dem Blatt wanderten.

»Gila?!«, fragte Zam überrascht. »Tatsächlich, du hast recht. Aber wieso hat sie uns nichts davon erzählt?«

»Ich weiß es selber nicht. Denkst du …«

Fragend schaute Zam Sophie an.

Sophie seufzte nachdenklich. Nein, das traute sie Gila nach allem, was sie zusammen erlebt hatten, nicht zu. Trotzdem musste sie diese Frage einfach stellen. »Denkst du, dass sie uns nur half, damit sie auch schnell aus der Stadt hinauskam? Ich meine, ihre Leute konnten es jederzeit herausbekommen, dass sie eine Lichtsammlerin als Schwester hat.«

»Aber sie hat doch gar nichts von einer Schwester erzählt«, meinte Zam.

»Doch, mir schon«, murmelte Sophie, als die Erkenntnis sie wie ein Hammer traf. »Sie erzählte etwas von einer Schwester – und dass sie kein Außenseiter sein wollte. Ja, jetzt passt auch alles zusammen. Aber wir sind doch befreundet, und das weiß sie doch, oder?«

»Ja, ich denke schon.«

Schweigend saßen sie da und schauten in den Sternenhimmel.

»Ich bin müde«, sagte Sophie dann und trank noch schnell einen Schluck von dem Quellwasser, damit sie diesen rauchigen Geschmack aus ihrer Kehle bekam.

»Ja, jetzt wird es mal Zeit, die anderen zu wecken. Vielleicht sollten wir Gila von unserer Erkenntnis lieber nichts sagen. Was meinst du?«, fragte Zam gähnend.

»Okay, so machen wir es.« Langsam und sachte weckte Sophie Gila. Noah ließ sie noch schlafen. Er war ja auch der Jüngste von ihnen.

»Juhu! Endlich Wasser!«, war das Erste, was Gila sagte.

Sophie schlief dicht an Noah und Zam gekuschelt ein.

Als Sophie bei den verlorenen Kindern ankam, brannte sie darauf, Luca die gute Nachricht zu überbringen. Sie begrüßte ihn und die beiden Mädchen kurz, und dann verkündete sie auch schon die guten Neuigkeiten.

»Das sagte zumindest Zam. Aber ob das alles wirklich funktionieren kann, wissen wir nicht genau …«

Lucas ausgelassenes Lächeln und sein vor Hoffnung strahlendes Gesicht machten Sophie nervös. Sie konnte ihm noch nicht einmal versprechen, ob sie sie wirklich befreien konnten. Dharma nuckelte an ihren Fingern, und Stella lächelte genauso hoffnungsvoll wie Luca, während sie auf Sophies Schoß herumzappelte.

»Dann kann ich endlich wieder zu Mami!«, rief sie glücklich.

Luca schaute Sophie tief in die Augen und nahm ihre Hand. Manchmal dachte sie wirklich, sie hätte einen älteren Luca vor sich. Aber als seine helle Stimme ertönte, schüttelte sie leicht den Kopf.

»Bitte versprich mir, dass du weiter hinter dieser Sache stehst, ja?«