Sophie wurde ganz und gar nicht sachte von einer Hand geweckt, die ihr lachend die Nase zuhielt. Luft holend fuhr sie hoch. Den verlorenen Kindern hatte sie wieder alles berichtet, was sie erlebt hatte.
Liane und das Mädchen mit den blonden, wirren Locken verschwanden kichernd.
»Hey, Liane und … Ich hab euch gesehen!« Zornig rieb Sophie sich den Schlaf aus den Augen und stand in ihren komisch aussehenden Kleidern von dem Bett auf.
Plötzlich kam ein etwas schmutzig aussehender Kopf von Liane hervor, und ihre grünen Augen mit dem Farbwirbel darin glitzerten. Untendrunter wurde das Gesicht des Mädchens mit den schönen, blonden Löckchen und den dunklen Augen sichtbar. Beide schauten sie fröhlich an.
Wie hieß das blonde Mädchen mit der dunklen Haut wieder?
»Ich heiße Solvej!« Das Mädchen grinste sie an. »Es gibt Essen, komm schnell, Sophie! Am Anfang verirrte ich mich auch immer in den Höhlen, aber deswegen sind ja wir da!«
Die Mädchen kamen auf sie zugerannt und rissen sie mit sich in die Küche. Der Weg dorthin hatte mindestens fünf Minuten gedauert. Aus dem großen Speisesaal drang Stimmengewirr in den Gang.
»Juhu, heute gibt es endlich wieder Spiegeleier und Grämchen!« Liane grinste sie an, und ihre langen, braunen Haare wirbelten um ihre Schultern.
»Was sind denn Grämchen?«, fragte Sophie gähnend.
»Wurzeln! Ich dachte auch zuerst: Oh Gott, ich esse das erste Mal in meinem Leben eine Delikatesse aus der Lichtwelt! Aber sie waren lecker, und hier oben gibt es massenhaft davon.« Solvej lächelte sie liebenswürdig an.
Als sie durch den Höhleneingang die Halle betraten, zog Solvej sie neben sich auf eine Bank. Auf den zahlreichen Tischen standen viele Körbe und Teller mit Brot, Eiern und merkwürdig aussehenden Wurzeln.
»Morgen, Soph!« Adrian, der gegenüber von ihr saß, grinste sie an. »Tut mir leid, dass ich dich nicht wecken konnte und diese gackernden Hühner neben dir das erledigen mussten, aber ich musste schon vor drei Stunden aufstehen, um meine Kräfte zu trainieren.«
Für seinen Kommentar bekam er von Liane einen kräftigen Tritt, der Adrian aufschreien und Sven auflachen ließ.
Kyle, der blonde Junge, der in Sophies Alter war, schmeichelte Solvej, während sie sich mit Violetta über deren Aufgabe als Lichtsammlerlehrerin unterhielt und Warwara den Streit zwischen Liane und Adrian zu schlichten versuchte. Die Schattendämonin fuhr sich lächelnd über ihre Locken, und als Sophie mitten im Gespräch war und Solvej aufstand, um sich einen Tee von Biggi zu holen, rückte Kyle zu Sophie und kam dicht an sie heran.
»Wow, Sophie! Du bist also halb Schattendämonin und halb Lichtsammlerin? Das ist ja irre!«
Lächelnd schüttelte Sophie den Kopf. »Na ja, so toll ist das auch wieder nicht. Wegen mir wurde Mia entführt, und du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für eine Last ist.«
Langsam legte Kyle ihr einen Arm um die Schulter. »Ach, komm schon, wenn du uns alle bei dir hast, wird alles gut! Wir retten deine Schwester und so weiter und so fort, oder?« Plötzlich kam er noch dichter an sie heran und roch an ihrem Haar. »Dein Haar, es riecht so …«
Doch bevor er weiterreden konnte, blitzte Adrian ihn so böse aus seinen hellbraunen Augen an, dass der jüngere Lichtsammler schnell einen Rückzieher machte und nun wieder mit Solvej flirtete, die jedoch auch Kyles kleiner Bruder Alphons umgarnte. Kyle gab seinem Bruder, der gerade an Solvejs Locken herumspielte, einen Klaps auf den Kopf, und dann fingen sie an, sich zu streiten.
Ohne Vorwarnung stand Liane auf und gab Alphons eine so heftige Ohrfeige, dass sein Kopf zurückschnellte.
Mit einem bösen Grinsen auf ihrem Gesicht rief Liane frech: »Das war dafür, dass du mir gestern noch einen Kuss gegeben hast!« Sie setzte sich wieder hin und grinste Sophie schief an. »Also auf Kyle darfst du dich nie einlassen. Er und sein Bruder machen einfach mit allem rum, was sich bewegt und lange Haare hat.« Lachend schob sie sich ein Brot, das mit dem Saft der Grämchen bestrichen war, in den Mund.
Die beiden Mädchen hatten recht: Grämchen waren sehr fein.
»Das hoffe ich aber auch«, murmelte Adrian, der ihr Gespräch mitbekommen hatte.
»Was?«
»Na, dass du dich nicht auf Kyle einlässt. Er kennt dich gerade mal einen Tag, und schon fängt er an herumzuflirten, also wirklich!«
»Was ist mit mir?«, fragte Kyle und fuhr sich durch seine blonden Haare.
»Nichts.«
»Doch, du hast etwas gesagt!«
»Ja, aber es hatte nichts mit dir zu tun!« Adrian grinste ihn böse an.
»Sicherlich nicht! Jetzt sag’s schon!«
»Was sagen?« Akim war dazugekommen und schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Habt ihr es etwa gesehen?«
»Was gesehen?«, fragten nun alle durcheinander.
»Dass ich Alla geschubst habe, da sie mir ständig was vorsingen wollte. Ich hasse kleine Kinder!«
»Du hasst was?!«
Ulin rannte zu ihnen und schaute den Lichtsammler ungläubig mit seinen dunklen Augen an, der schnell wieder einen Rückzieher machte.
»Nichts, nichts!«
»Ich hab dich doch gehört! Du hast meine kleine Schwester geschubst! Hast du noch alle Tassen im Schrank?« Die Perlen, die er in seine Afrofrisur gebunden hatte, rasselten, während er seinen dunklen Kopf bewegte.
»Ihr sollt die Tassen in die Küche stellen!«
Alle schauten nun Clement an, der schon fünf Tassen in seinen dunklen Händen hielt. »Clement!«, rief Ulin.
»Was? Ihr sollt die Tassen wegstellen, verdammt noch mal!«
»Akim hat Alla geschubst!«, petzte Ulin.
»Du hast was? Wieso …«, reagierte Clement sofort.
Doch bevor die Situation noch weiter eskalieren konnte, unterbrach das schallende, von Grunzlauten begleitete Lachen Andras die Diskussion.
»Ich werde trainieren gehen«, sagte Kyle, während er eilig aufstand und aus dem Speisesaal flüchtete.
Nun sprang auch Ulin, gefolgt von Sven und Violetta, von der Bank auf und verließ schnell die Höhle. Mit hochgezogener Augenbraue stand Clement vor Andra, die nun nur noch grunzte, und zeigte ihr den Vogel.
»Wir sprechen uns noch, Akim«, zischte der dunkelhäutige Mann und verschwand dann auch aus dem Raum, wo das nervtötende Lachen von Andra erschallte.
Sophie konnte nicht anders und musste mitlachen. Auch Adrian lachte und fuhr sich dabei durch seine Locken.
Gerade lief Etienne an ihnen vorbei, während sie grinsend sagte: »Das Lachen ist ein leichtes, silbernes Glöckchen, das uns ein guter Engel mit auf den Lebensweg gegeben hat.«
Sie zwinkerte ihnen zu und brachte ihren Teller zur Küche, dicht gefolgt von der rothaarigen Jadwiga, die lächelnd auf Andra zeigte und murmelte: »Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit.«
Die meisten Leute waren aus dem Saal gegangen, da nun auch noch Xander anfing zu schreien, der wirklich nie leise sein konnte. Die kleine Alla hatte Sophie noch erzählt, dass er wahrscheinlich so viel weinte, da seine Mutter gestorben war, obwohl das schon vor einem halben Jahr passiert war.
Adrian und Sophie lachten immer noch mit Andra mit, die bald auch in die Küche lief. Kurze Zeit später hörte man ihr grunzendes Lachen nicht mehr, und Adrian und Sophie erholten sich wieder.
»Läuft das bei euch immer so chaotisch ab?«, fragte sie, nachdem sie tief Luft geholt hatte.
»Ja, damit musst du dich schon abfinden«, grinste Adrian und pikste einen Krümel mit seinem Nagel auf.
»Wann musst du wieder trainieren gehen? Soll ich da mal mitgehen und auch meine Kampftechniken verbessern?«, fragte Sophie, und sie bemerkte, dass sie alleine in der großen Halle waren.
Nachdenklich schaute Adrian an die Decke. »Ich weiß nicht. Ich frage gleich mal Viola. Klar kannst du auch trainieren. Liane, Solvej, Eliza, Anjutha, ja sogar Biggi, die Köchin, machen das auch. Zwar unregelmäßig, aber für alle Fälle würde ich schon ein wenig das Kämpfen erlernen. Man weiß ja nie.«
»Wer war eigentlich der letzte Neue, der hierhergekommen ist?«
Ein weiteres Mal überlegte Adrian und lächelte sie dann an. »Das war vor Kurzem. Vielleicht vor vier Tagen?«
»Und wer?« Neugierig stützte Sophie sich auf ihre Ellbogen und schaute ihm in die hellbraunen Augen, in denen sich die Farbwirbel bewegten.
»Ich weiß ihren Namen nicht mehr. Es ist die Schwester von Viola, die sie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen hat. Sie haben sich sehr vermisst. Hey, wie wär’s, sollen wir gleich schwimmen gehen? Der Bergsee ist zwar ziemlich kalt, aber ich habe gelernt, einen Schutzring um mich zu bilden, sodass ich nicht mehr frieren kann. Super, oder? Vielleicht schaffe ich es ja, ihn um uns beide zu schließen. Dann würde ich gleichzeitig Spaß haben und trainieren.«
Sophie fand, dass das eine gute Idee war. »Ja, das wär echt klasse! Komm, wir fragen sofort, wann das Training beginnt!«
Fröhlich liefen sie zum zweiten großen Höhleneingang, wo Viola gerade vor den Vorräten stand und etwas auf einen Zettel schrieb.
»Hallo, Viola!«, grüßte Sophie.
»Jetzt nervt mich bitte nicht! Ich hab jetzt keine Zeit für eure kindischen Fragen.«
Auf der Stelle runzelte Sophie die Stirn. »Wir wollten nur fragen, wann das Lichtsammlertraining beginnt. Das war es auch schon, also kein Grund, so garstig zu werden.«
Mit einem Blick auf ihre Unterlagen zischte Viola: »Um drei Uhr nachmittags. Und jetzt haut schon ab!«
Mit einem anerkennenden Blick lächelte Adrian Sophie an, nahm sie an der Hand und rannte mit ihr zum Höhlensee.
Sophie war so unglaublich froh, dass sie Adrian hier hatte. Er war ihr allerbester Freund in ihrer Welt gewesen. Und in dieser wohl auch.
Es dauerte ziemlich lange, bis sie endlich den See erreichten, über dem mehrere Tropfsteine mit Wassertropfen hingen, die leise in die schäumende Gischt tropften.
Sophie zog sich wie auch Adrian bis auf die Unterbekleidung aus und rannte kreischend in das kalte Wasser. Adrian rannte ihr hinterher und tauchte sie aus Spaß unter. Bald entstand auch schon eine große Wasserschlacht, und Sophie hatte so viel Spaß wie schon lange nicht mehr.
Durchgefroren warf sie sich auf seinen Rücken, und Adrian lief mit ihr weiter in den kalten See hinein.
»Soll ich mal versuchen, einen Wärmekreis um mich herum zu erzeugen?«
Hastig nickte Sophie.
Kurz darauf sah sie unter Wasser, wie Adrians Finger zu zittern begannen und auf einmal helles Licht sich um ihn sammelte.
»Oh!« Verblüfft starrte er auf den Kreis.
»Und? Hast du es geschafft?«
Lächelnd nickte er und sagte mit gespielter Selbstgefälligkeit: »Das war doch ein Klacks für mich!«
Seine Hände fingen wieder an zu zittern, und Sophie sah, wie sich der Wärmering an einer Seite öffnete.
»Komm schnell! Lange kann ich ihn nicht mehr offen halten!«
Schnell und bibbernd schwamm Sophie in den warmen Kreis, und wohlige Wärme empfing sie. Das Wasser war an dieser Stelle so warm wie das vertraute Badewasser.
»Warm, oder?« Adrian war dicht vor ihr und grinste sie an.
Sophie schaute Adrian lange an. Adrian war hübsch. Wunderhübsch. Etwas in Sophie fing plötzlich an zu flattern.
»Wenn wir noch näher zusammenschwimmen, wird es vielleicht noch wärmer.«
Er reichte ihr eine Hand, und als Sophie sie nahm, zog er sie ganz dicht an sich. Sobald seine warme Haut ihre berührte, klopfte Sophies Herz schneller.
Sich gegenseitig umarmend schwammen sie in dem warmen Wasser, und Sophie genoss es.
Kurz darauf hielt Adrian sie etwas weiter von sich weg und näherte sich langsam mit seinem Gesicht dem ihren. Sophies Atem wurde schneller, und ihr war, als würde ihre Brust zerspringen. Einen Augenblick später berührten seine Lippen die ihren. Er küsste sie erst ganz sanft, und dann, als Sophie den Kuss erwiderte, intensiver.
Sie küsste Adrian! Vor lauter Freude wäre Sophie gerne in die Luft gesprungen, aber das ging nicht im Wasser.
Sophie und Adrian verweilten umschlungen in dem warmen Wasser, und Sophie merkte, wie ihre Wangen sich röteten, als er sie angrinste.
»Ich hab mich in dich verliebt, Sophie. Schon vom Anbeginn unserer Freundschaft.« Er streichelte mit einer Hand über eine ihrer rotbraunen Strähnen.
»Ich auch, Adrian.« Die Worte sprudelten so aus ihrem Mund, und Sophie küsste ihn wieder zärtlich auf den Mund. Sie wollte ihn immer wieder aufs Neue berühren und seine weichen, nassen Lippen auf ihren spüren.
Sie liebte ihn. Dessen war sie sich erst seit ein paar Minuten bewusst. Wieso war es ihr nicht schon in ihrer Welt aufgefallen? Vielleicht war es schon immer tief in ihr gewesen, und sie hatte es einfach nicht gewusst.
Er schmeckte wunderbar, und er roch auch so. Er war wunderbar.
Als sie sich sanft von Adrian löste, lächelte er sie noch immer an. Verliebt seufzte Sophie, und er streichelte ihre Wange.
Mit einem Mal stürzte sie sich lachend auf ihn und tauchte ihn unter. Das Wasser wurde wieder kalt, und Sophie wollte schon aus dem schäumenden See schwimmen, als Adrian sie an den Beinen hinunterzog. Sie schrie auf. Unter Wasser küsste Adrian sie wieder und wieder, bis beide keine Luft mehr hatten.
Nach dem Bad im See liefen sie Hand in Hand zu Adrians schön gemütlich eingerichteter Höhle und trockneten sich ab. Als sie nach einer Kissenschlacht wieder trocken aus der Höhle tappten, schauten die anderen ihnen verblüfft hinterher. Adrian erzählte Sophie alles, was er in den Höhlen schon erlebt hatte, und dass das Trainieren ziemlich hart wäre.
Schließlich gab es Essen, und die anderen Lichtsammler und Schattendämonen fragten ihnen Löcher in den Bauch, als Sophie sich verträumt an Adrians Brust lehnte und er sie auf das Haar küsste.
Ich liebe ihn, ich liebe ihn, ich liebe ihn. Immer wieder durchströmten diese Worte ihre Gedanken.
Als Etienne, die Küchendienst hatte, ihnen Brot und Suppe auf den Tisch stellte, lächelte sie Sophie und Adrian verschwörerisch an und murmelte dann leise, aber trotzdem für sie beide hörbar: »Wahre Liebe ist wie Wildblumen. Beide können überall wachsen und blühen.«
Die ganze Situation war Sophie ziemlich peinlich. Die Gespräche wurden jedoch weitergeführt, und bald schaute niemand mehr so offensichtlich zu den beiden.
Mittlerweile redete Adrian mit Sophie so fröhlich wie noch nie zuvor, und sie musste lachen, als er immer wieder vom Thema abschweifte und ganz plötzlich ein anderes aufnahm.
»Ich gehe jetzt kämpfen. Kommst du mit?«
Eifrig nickte Sophie, und zusammen liefen sie in die Trainingshöhle, die mit Flammen und Geräten ausgestattet war.
Adrian, Sven, die Brüder Alphons und Kyle, Alessia, Joel und Edgitha kämpften wirklich gut, und Sophie hatte Angst, von einem der Feuerbälle getroffen zu werden.
Violetta ließ ihren Mund wieder offen stehen, sodass sie wieder aussah wie ein Hase, und starrte Adrian an. »Wow, Adamo! Du hast dich aber ziemlich gebessert!« Als sie Sophie mit ihren schönen Diamantenaugen anschaute, ging ihr ein Licht auf.
Verlegen starrte Sophie auf den Boden, war aber insgeheim froh darüber, mit Adrian zusammen zu sein.
Die Tage vergingen, und Sophie wurde mit jedem glücklicher. Adrian weckte sie jeden Morgen mit einem Kuss oder einem Armbändchen, das er für sie gemacht hatte.
Adrian und sie.
Ihr Adrian!
Sophie vergaß fast den Krieg und Mia, da sie so überwältigt von ihren Gefühlen war. Sie hatte so viel Spaß mit Adrian, dass sie, auch wenn sie bei den verlorenen Kindern war, immer bloß von ihm erzählte, woraufhin Luca ziemlich sauer war, da sie sich kaum noch um Luca, Stella und Dharma kümmerte.
Aber Sophie konnte doch nichts dafür!
Sie liebte einfach alles an Adrian. Wie er sie morgens weckte, wie er mit ihr trainierte, ihr Tricks beibrachte, ihr kleine Feuervorstellungen gab, und am allermeisten, wie er sie küsste. Sophie dachte kaum noch an Zam oder gar an die Dorfbewohner, bis eines Tages plötzlich viele Erinnerungen wieder auf sie eindroschen. Und an diesem Tag merkte sie, dass Liebe wie ein Rausch war, in dem man sich für nichts anderes mehr interessierte.
»Heute kommt meine Schwester endlich wieder!«, rief Viola, die doch sonst immer so mürrisch war, fröhlich.
»Wo war sie denn?«, fragte Sophie stockend, während sie auf ihre Kampfpuppe einschlug.
»Stopp, stopp!«, rief Aloys, und seine muskulöse Gestalt näherte sich ihr. »Du musst so zuschlagen … Immer zuerst auf die Hände, denn so können sie nicht so schnell Schatten bändigen oder gar das Feuer heraufbeschwören.«
Der junge Schattendämon machte es ihr vor, und die Hände der Strohpuppe flogen nach hinten.
Grinsend blickte er auf die Puppe und sagte: »So macht man das! Okay, Viola, du kannst weitersprechen.«
»Na, sie ist doch die Spionin der Schattendämonen, wie Eliza die der Lichtsammler ist. Und jetzt war sie genau eine Woche in deren Lager und hat sich als Schattenkriegerin ausgegeben, das hab ich dir doch schon gesagt.«
Sophie wischte sich den Schweiß von ihrer Stirn und meinte dann: »Du hast mir aber noch gar nicht erzählt, wie sie heißt und wie sie so ist.«
Just in dem Moment betrat ein großes Mädchen die Kampfhöhle.
»Gila!«
Viola rannte zu der Person, die, an die Felsenwand gelehnt, dastand.
»Ich hab dich so vermisst! Und hast du Informationen herausbekommen?«
Gila? Etwa die Gila, die Sophie kannte?
Erschrocken schaute Sophie genau in Gilas mit schwarzen Wimpern umrandete Augen. Dann war also Viola die Schwester, von der sie ihr erzählt hatte! Die Schwester, die eine Lichtsammlerin war.
Sophies Schock wurde bald zu Hass. Vor ihr stand Gila, die Gila, die sie verraten und im Stich gelassen hatte. Sie war hier in den Dämmerungshöhlen und außerdem auch ein Mitglied der Rebellen! Sie wollte aber einfach nicht in diese perfekte Welt in den Höhlen passen. Sophie konnte es nicht fassen.
Alle Lichtsammler und Schattendämonen hatten von der neuen Nachricht erfahren und strömten in die Höhle, um Gila zu begrüßen, die immer noch unentwegt auf Sophie schaute.
Hastig und wütend boxte Sophie noch einmal in die Puppe und lief dann schnell an den drei Dutzend Leuten vorbei.
»Sophie! Warte!« Gilas Stimme hallte in den Höhlen wider.
»Ihr kennt euch? Woher?«, fragte Viola erstaunt.
Gila wurde von den Rebellen sofort mit Fragen bombardiert, und so konnte Sophie in ihre Höhle gelangen.
Als sie dort ankam, nahm sie ihren Mantel und steckte die Ketten und die kleinen Geschenke von Adrian sowie auch die von Ulin oder der kleinen Alla ein, die ordentlich in ihrer eingerichteten Höhle lagen.
»Was machst du da? Sophie, was soll das?« Adrian rannte auf sie zu.
»Lass mich!«, zischte Sophie, und als sie Adrians erschrockenen Gesichtsausdruck sah, bereute sie ihre Worte sogleich wieder und ließ ihren Mantel fallen, während sie sich traurig auf den Boden setzte.
»Was ist los? Du bist ja völlig durch den Wind …« Vorsichtig kam Adrian näher und küsste sie sanft auf die Augen.
Sophie lehnte sich an ihn und murmelte dann: »Ich hab dir doch von dieser Verräterin erzählt, weißt du noch?«
Nervös fuhr Adrian sich durch seine braunen Locken. »Du meinst die, die einfach wegrannte und euch im Stich ließ? Damals auf dem Feld?«
Sophie nickte und musste schlucken. »Das war sie.«
»Du meinst Gila?« Ungläubig starrte er sie mit großen Augen an.
Er hatte sich wirklich sehr verändert. Er war ganz anders als der Adrian, den Sophie von zu Hause kannte. Er sah viel älter aus. Wie tiefgreifende Erlebnisse das Wesen verändern konnten …
»Klar, sie ist sarkastisch, unfreundlich und zynisch, aber sie gehört zu den Rebellen. Sie ist …«
»Entweder sie geht, oder ich gehe!«, rief Sophie mit solcher Entschlossenheit in ihren blaugrünen Augen, dass Adrian sie festhielt.
»Sophie, hör …«
»Lass mich los!« Sophies Stimme wurde immer unfreundlicher.
»Bitte, jetzt lass uns das doch normal klär …«
»Nein!«, schrie Sophie jetzt und stand auf, nachdem sie sich von Adrian losgerissen hatte. »Ich werde die Rebellen verlassen, wenn sie nicht geht! Und das tut sie, wie es aussieht, sowieso nicht.« Mittlerweile war sie ganz in Fahrt und stopfte wieder die Schmuckstücke und außerdem auch ein paar Anziehsachen in die großen Manteltaschen.
»Und was wird aus uns?«, rief Adrian mit verzweifelter Stimme, als Sophie, in den Mantel gehüllt, aus ihrer Höhle trat.
Irgendetwas in seiner Stimme ließ sie stehen bleiben. Trotzdem drehte Sophie sich nur um und schaute Adrian traurig an. Dann ging sie.
Sophie rannte an dem verwirrt aussehenden Kyle und dem noch verwirrter aussehenden Akim vorbei. Ahmad rempelte sie aus Versehen an, und sie sah, wie die Augenbrauen des hübschen Mannes noch tiefer in sein Gesicht sanken, als sie ohnehin schon waren.
Schließlich stapfte Sophie durch die kalte Luft, und die Schneeschichten knirschten unter ihren Füßen.
Plötzlich wurde in ihr alles kalt.
Sophie merkte es sofort. Sie wurde angegriffen!
Schnell wirbelte sie herum und schaute Gila mit wütenden Augen an. Wollte sie Sophie jetzt ganz ausschalten? Da konnte Gila aber lange warten, sie hatte nämlich in den letzten Tagen mit Etienne geübt, wie sie ihren Schutzschild kontrollieren konnte. Und Warwara hatte ihr gezeigt, wie sie ihn verstärken konnte. Ja, Warwara hatte selbst herausgefunden, wie man in sich hineinhorchen musste, um den Geist zu stärken. Heilkräfte oder gar ein Schutzschild waren nicht irgendwelche Dinge, die man anfassen konnte oder die man körperlich trainieren konnte. Nein, es waren eher seelische Kämpfe, die man unter Kontrolle bringen musste, um den Schutzschild oder wie in Warwaras Fall die Heilkräfte richtig einsetzen zu können.
Sophie wusste zwar, wie sie ihren Schutzschild schnell aktivieren konnte, aber dazu musste sie ruhig werden, was ihr im Moment nicht gelingen wollte. In Sophie tobte ein Krieg der Gefühle. Sie war unglaublich wütend auf Gila, aber auch traurig und enttäuscht.
»Bitte, Sophie! Bleib stehen, sonst muss ich wirklich meine Kräfte einsetzen!« Die Augenringe um Gilas braune Augen verblassten, und langsam ging sie auf Sophie zu. »Hör zu! Bitte!«, sagte sie nachdrücklicher, als Sophie wütend rückwärts lief.
»Dann bleib stehen, wo du bist!«, forderte Sophie.
»Ich … Ich weiß, dass du wütend – sehr wütend – auf mich bist. Das wäre ich wahrscheinlich auch an deiner Stelle. Aber ich habe mitgehört, wie du und Zam mein Geheimnis aufgedeckt habt.«
Bei Zams Namen zuckte Sophie zusammen. »Du meinst, dass du eine Lichtsammlerin als Schwester hast? Das ist aber doch kein Grund wegzurennen!«
»Ich wusste nicht, ob ich euch trauen konnte.«
Sophie riss die Augen auf. »Gila, wir waren deine Freunde!«
Gila nickte traurig, sodass ihre kräftigen, wunderschönen Haare ihre Schultern hinabflossen. »Ich weiß. Nein, falsch, ich wusste es nicht, aber jetzt weiß ich es. Und Sophie, glaub mir, ich will immer noch, dass wir Freunde sind! Ich hatte noch nie Freunde. Alle Schattenkrieger waren bloß unfreundlich. Wir wurden so ausgebildet! Ich konnte doch nicht wissen, was wahre Freundschaft bedeutet. Und ich wollte immer dazugehören. Als ich erfuhr, dass Viola nicht weit weg von uns war, da machte ich mich gleich auf die Suche …«
Vielleicht war Gila genau deswegen so mürrisch und zickig, wegen den Schattenkriegern.
Aber Viola ist doch auch so, dachte Sophie, also musste es in der Familie liegen. Aber dass Sophie die Ähnlichkeit zwischen den beiden nicht aufgefallen war, verstand sie wirklich nicht!
Sie waren zwar Zwillinge, aber wiederum so verschieden – und doch gleich auf eine gewisse Art. Gila war einfach in allem kräftiger als die dünne Viola. Sogar, was die Haare betraf.
»Wo ist eigentlich Zam? Und Noah?«
Bekümmert blickte Sophie zu Boden.
Zam, Noah.
In ihr sammelten sich Tränen an, aber sie wollte jetzt einfach nicht weinen, nein, sie wollte jetzt nicht vor Gila weinen – doch es war schon zu spät. Langsam glitt sie zu Boden, und die Tränen rannen ihr über die Wangen.
Sie hatte sie völlig vergessen. Sie hatte nicht mehr an sie denken wollen, da sie doch so eine schöne Zeit mit Adrian und den anderen Rebellen gehabt hatte.
Doch auf einmal fand sie sich in Gilas Armen wieder, die ihr behutsam über den Kopf strich.
In dem Moment wusste Sophie, dass Gila keine Verräterin war, sondern eine Freundin, die es jedoch nicht besser gewusst hatte.
Es dauerte nicht lange, da lagen sie nebeneinander auf dem kalten Bergboden, auf dem ein paar vereinzelte, aber wunderschöne Blumen blühten, und Sophie erzählte Gila, was passiert war.
»Er wollte dich töten? Und da bist du dir ganz sicher?« Mitfühlend half Gila Sophie auf die Beine.
»Ich habe es doch selber gehört!« Sophie funkelte Gila wütend an.
Schließlich schüttelte Gila langsam den Kopf und flüsterte: »Das hätte ich von Zam nie gedacht.«
»Ich auch nicht.«
Zusammen liefen sie schweigend zurück zu den Höhlen, wo Adrian, Warwara, Akim, Violetta, Etienne, Jadwiga, Eliza, Raimo und Ulin sie erleichtert anlächelten.
»Alles wieder in Ordnung?«, fragte Adrian zögernd, während er Sophie in seine Arme schloss.
Sophie nickte. »Adrian?«
Sanft strich er ihr eine rötliche Haarsträhne hinter die Ohren. »Ja?«
»Das eben … habe ich nicht so gemeint, ja? Zwischen uns ist doch noch alles in Ordnung, oder?«
Adrian gab ihr zur Antwort einen innigen Kuss auf ihre Lippen.
Etwas später saßen vereinzelte Grüppchen draußen im Dunkeln an den Lagerfeuern, die die Lichtsammler mithilfe der Fackeln angezündet hatten. Sophie und Gila hatten sich viel zu erzählen, und Sophie war wieder glücklich. Vielleicht hatte der alte Mann mit dem lustigen Hut ja doch recht gehabt, und Vergeben war das Beste, was man in einer solchen Situation machen konnte.
Die nächsten Tage verliefen weiterhin gut. Sie alle trainierten fleißig, und bald konnte Sophie ihren Schutzschild sehr gut kontrollieren. Nur wenn ein kleinster Hauch von Wut in ihr hochkam, spürte sie, wie ihr Schutz langsam verfiel wie ein altes Schloss.
Da sie sich um Luca, Stella und Dharma in letzter Zeit nicht so sehr gekümmert hatte, versprach sie Luca, dass sich das von nun an ändern würde.
Als Sophie den großen Saal der beiden Anführerinnen betrat und sie einen schwarzen und einen weißen Punkt in den Löchern in der Höhlenwand sah, wusste Sophie, dass sie diesmal die Richtigen befragte.
»Was führt dich zu uns?«, fragte Etienne und lächelte sie an.
Die Glockenspiele an den Höhlenwänden waren nun schon so gewohnt für Sophie, dass sie das begrüßende Klirren sichtlich genoss. »Da gibt es etwas, das ich euch erzählen muss.«
Innerhalb weniger Minuten berichtete Sophie den beiden alles über Luca und die verlorenen Kinder. Nachdem sie geendet hatte, sagte Jadwiga lächelnd: »Wir können sie retten, Sophie. Jedoch bräuchten wir dazu ihre Augen, und die könnten leider überall sein.«
»Die Augen sind das Tor zur Seele«, murmelte Etienne und spielte verträumt an ihren blonden, kurzen Haaren herum. »Du könntest sie befreien, wenn du die Augen hättest?«
Jadwiga blitzte sie schelmisch mit ihren Augen an. »Aber klar.«
»Warum seid ihr beide eigentlich so weise?«, fragte Sophie fröhlich. »Ihr seid doch höchstens fünfundzwanzig!«
»Sophie, das Entscheidende am Wissen ist, dass man es beherzigt und anwendet. Und: Fantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt«, antwortete Etienne.
Verwirrt schaute Sophie von einer zur anderen.
Jadwigas rote Locken sahen nun so aus, als würden sie wirklich brennen, während sie grinste. »Nicht weil die Dinge schwierig sind, wagen wir sie nicht, sondern weil wir sie nicht wagen, sind sie schwierig.«
Schließlich verließ Sophie den Saal und wollte zu Violetta, die gerade das Training für die Lichtsammler leitete. Gedankenverloren lief Sophie an der kurzhaarigen Ramona vorbei, die mit Ulin, Alla, Verona und dem schreienden Xander und Jaak auf den Armen hinausging, um mit ihnen zu spielen.
»Ich will nicht raus spielen, ich möchte auch gerne wie Liane und Alphons kämpfen gehen!«, rief Verona und funkelte Ramona an.
Sophie rechnete damit, dass Ramona nun streng etwas dagegen sagen würde, aber ihre weichen Gesichtszüge blieben.
»Verona, wie oft haben wir darüber schon diskutiert? Erst wenn ihr zwölf seid, dürft ihr an den Kämpfen teilnehmen!«
Lächelnd legte Sophie den langen Weg bis zu den Wissenshöhlen zurück, aus denen verschiedene Geräusche – wie zum Beispiel das Aufflackern von Feuer, Schreie oder Stimmen – kamen. Manchmal huschte ein Schatten an Sophie vorbei, wenn sie an der Trainingshöhle der Schattendämonen vorbeilief.
Kurz darauf betrat Sophie die größte Höhle und sah, wie aus Violettas Armen riesige Feuerflammen fluteten. Sie brachte den anderen Lichtsammlern gerade bei, wie man Feuer mit Feuer besiegte oder sich einfach davor schützte.
Als Adrian Sophie sah, grinste er ihr zu und strengte sich wieder besonders an. Seufzend setzte Sophie sich hin.
»Nein, ich weiß, dass das so geht! Jetzt lass mich doch mal machen!«, zischte Wera stur, während Violetta der Frau etwas erklären wollte.
»Bitte pass auf! Ich weiß nicht, ob du schon so weit bist, Wera …«
»Jetzt lass sie es doch mal ausprobieren, Violetta!«, sagte Weras Mann Jupp und zog seine hellen Augenbrauen hoch.
Die braunhaarige Frau konzentrierte sich, und auf einmal schoss ein langer Feuerstrahl aus ihrer rechten Hand. Ihr triumphierendes Lächeln wurde bald in ein Gesicht des Schreckens verwandelt, als sie sah, was sie anrichtete. Der Strahl flog genau auf Sophie zu. Sie hätte gar keine Zeit gehabt wegzuspringen. Und niemand anderes hätte sie beschützen können, so blitzschnell flog das Feuer auf sie zu.
Sophie blieb ruhig und konzentrierte sich bloß auf den Schutzschild, der sich allmählich in ihr aufbaute. Das Feuer kam immer näher und näher, und dann verschwand es mit einem Mal. Einfach so.
Die angstvollen Schreie verklangen, und verblüfftes Gemurmel machte sich breit. Adrian kam im selben Moment, als Wera schluchzend zu Boden fiel, zu Sophie gerannt.
»Oh Gott! Wie … geht es dir? Wie hast du das gemacht? War das dein Schutzschild? Das ist einfach klasse! Ich hatte solche Angst!«
Der junge Joel und seine Frau Edgitha kamen auf sie zu.
»Das harte Training mit Warwara und Etienne hat sich also ausgezahlt«, sagte Joel anerkennend.
Eliza bewegte sich anmutig wie eine Fee auf sie zu, und auch Ahmad, Raimo, Anjutha, Liane, Manolito und weitere neue Lichtsammler, die Neele, Mads und Lino in einem Dorf gefunden hatten, kamen auf sie zu, bewunderten sie, tätschelten sie oder standen einfach nur verblüfft da.
Fassungslos starrte Sophie vor sich hin.
Sie konnte es! Sie hatte ihren Schutzschild unter Kontrolle.
»Es tut mir so leid, oh Gott! Ich werde nie wieder die Kraft der Sonne anzapfen, das schwöre ich!«
Sophie lächelte Wera an, der immer noch die Tränen über die Wangen liefen.
Violetta kam auf Sophie zu und untersuchte sie auf Brandmale, aber da das Feuer sie noch nicht einmal berührt hatte, gab es auch keine.
»Das nächste Mal, Wera, hörst du auf mich, verstanden? Ich bin die Lehrerin, und ich trage auch die Verantwortung. Aber da nichts passiert ist, ist ja alles gut. Wer in das Feuer bläst, dem fliegen leicht die Funken in die Augen. Das sagte meine Mutter immer, die eine sehr große Lichtsammlerin war. Am besten beenden wir jetzt das Training, es gab einfach viel zu viel Aufregung.«
Als alle in ihre Höhlen zum Schlafen gingen, lief Wera, um Entschuldigung bettelnd, neben Sophie her.
Sophie hielt sie irgendwann fest und murmelte lächelnd: »Ich bin dir nicht böse, Wera. Es ist nichts passiert, und somit vergessen wir die Sache, ja?«
Sichtlich beruhigt ging Wera mit ihrem Mann in ihre Höhle.
Vor ein paar Tagen wäre Sophie vor Wut wahrscheinlich noch explodiert, aber Warwaras und Etiennes ruhige Ausstrahlung hatten wohl auf Sophie gewirkt – sie wurde innerlich ruhiger.
Sophie erzählte Luca, Stella wie auch Dharma, die sie aber wahrscheinlich sowieso nicht verstand und nur auf Sophies Schoß herumkrabbelte, die gute Nachricht. Lucas Hoffnung war nun noch größer, da er sich durch Sophies Erzählungen schon ein gutes Bild von Etienne und vor allem Jadwiga gemacht hatte.
»Wir dürfen in die Dörfer! Endlich sind wir mal wieder dran, ein paar neue Rebellen zu finden!« Freudig gab Adrian Sophie am nächsten Morgen beim Essen einen dicken Kuss auf den Mund.
Sachte schob Sophie ihn weg. »Soll ich denn mitkommen?«
»Aber natürlich! Du bist jetzt eine richtige Rebellin. Außerdem gehörst du zu uns.«
»Und wie machen wir das? Und wer kommt alles mit?«
»Na meine Gruppe! Also Akim, Warwara, Violetta und Andra und jetzt auch du. Ich habe schon mit Viola darüber gesprochen. Da wir diesmal jedoch kein Essen stehlen, sondern neue Anhänger suchen, brauchen wir noch ein paar Leute, damit wir möglichst viele neue Rebellen anwerben können. Und falls es einen Kampf geben wird, da viele Leute das als Verrat bezeichnen, müssen wir immer in unmittelbarer Nähe bleiben.«
»Wie viele brauchen wir denn noch? Und in welches Dorf gehen wir?«, fragte Sophie mit angespannter Haltung. Jetzt sollte ihre kurze, entspannte Woche bei den Rebellen also doch noch gefährlich enden. Und darauf hatte Sophie keine Lust. Aber sie musste ihren Freunden und damit allen Rebellen helfen.
»Vielleicht fünf Leute … Mal schauen, wer sich gut dafür eignet. Wir laufen einfach in jedes Dorf, und wenn wir neue Anhänger finden, müssen diese erst mal verhört und überprüft werden. Für die Befragungen brauchen wir folglich auch ein paar Leute. Ich überlege mir das noch genauer.«
»Und du darfst das entscheiden?« Sophie bekam auf einmal Bammel, als sie an einen Kampf denken musste, und schluckte trocken ihr Ei hinunter.
»Jap«, sagte Adrian stolz und schaute selbstbewusst in die Runde. »Ich wurde vor deiner Ankunft als Anführer meiner Gruppe für einen ganzen Monat gewählt. Aber eigentlich bestimmen wir alle. Ich nur ein kleines bisschen mehr.« Lächelnd legte er Sophie einen seiner gebräunten Arme um die Schulter.
Nachdem Sophie sich fertig gemacht und ihren warmen, sauberen Mantel angezogen hatte, traf sie sich mit Adrian und den anderen vor der Höhle.
Draußen standen schon Akim, der mürrisch an seinen zwei Schwertern herumspielte, seine Schwester Violetta, die mal wieder ihren Hasenmund aufstehen hatte, Warwara, die sich mit den besten Freundinnen Liane und Solvej unterhielt, die kurzhaarige Ramona, die mit ihrem Freund Aloys flirtete, und die hübsche Alessia, die sich an den ebenso attraktiven Ahmad ranmachte und mal wieder mit irgendetwas angab. Ohne zu zögern, gesellte sich Sophie zu der Gruppe und wurde freudig begrüßt.
»Ich musste zwar das Lichtsammlertraining ausfallen lassen, aber Etienne übernimmt es für mich.« Violetta schaute Sophie aus ihren Diamantenaugen an.
»Jetzt beschwer dich nicht! Ich musste auch meinen Kampfunterricht ausfallen lassen. Falls es zu einem Kampf kommt, können wir das Gelernte endlich anwenden, oder? Ach, Sophie, immer zuerst auf die Hände zielen, ja? Und für euch alle gilt, dass wir versuchen, niemanden zu töten, okay?« Aloys legte seinen muskulösen Arm um Ramona. »Und nicht so wie beim letzten Mal …«
Alle schauten betreten auf die nasse Wiese.
Was war letztes Mal passiert? Fragend schaute Sophie in die Gesichter, aber als sie Warwaras Blick auf sich spürte und ihn fragend erwiderte, schüttelte die braunhaarige Lichtsammlerin den Kopf.
Nach ein paar Sekunden hörten alle auch schon das grunzende Gelächter von Andra, und Adrian sowie auch Sven kamen mit Gila in der Mitte aus der Höhle. Das große Mädchen lächelte Sophie spöttisch an, und Sophie grinste ebenso gespielt verächtlich zurück. Sophie war beruhigt. Gila würde Sophie sicherlich nicht im Stich lassen, und sie hatten bereits zusammen gekämpft.
Nachdem Adrian alle begrüßt und noch ein paar Regeln erklärt hatte – wie zum Beispiel sich gegenseitig zu helfen und nicht gleich preiszugeben, dass sie Rebellen waren –, rief er: »Okay, auf geht’s!«
»Ich habe aber noch eine Regel!«, sagte Warwara. »Bitte nicht streiten!«
Sophie mochte Warwara sehr, aber was ihr Friedensapostelgehabe anging, konnte sie ziemlich nerven.
Die anderen fanden das wohl auch, denn sie stöhnten laut auf, während sie die Wege in den hohen Bergen hinunterkletterten.
»Das letzte Mal haben manche von uns auch gestritten. Dann ist die Gruppe auseinandergegangen, und wir konnten unsere Mission nicht erfüllen«, erklärte Warwara ruhig. »Der Edle kennt keinen Streit, er ist langsam im Wort und rasch in der Tat.«
Seit Sophie in den Dämmerungshöhlen lebte, wurde sie nur so von intelligenten Weisheiten überschüttet, denn die Lichtsammler und Schattendämonen hatten sie alle von Jadwiga und Etienne gelernt.
Nachdem Warwara diese Worte ausgesprochen hatte, lächelte Sophie amüsiert.
Den ganzen Weg redeten die Rebellen fröhlich miteinander, und wenn Andra durchgeknallte Sachen machte – wie zum Beispiel einfach mal einen gefährlich steilen Weg auf den Händen hinunterzulaufen –, lachten alle, sodass die Stimmung ausgelassen wurde.
Als die Rebellen schnaufend das Loch fanden und nacheinander die Strickleiter hinunterkletterten, fragte Sophie Aloys: »Wer sprang denn für dich heute im Kampfunterricht ein?«
»Kyle. Er ist ein guter Kämpfer.«
Sophie hielt verblüfft inne. Kyle? Der nervige, blonde, flirtende Kyle war ein guter Kämpfer? Automatisch musste sie grinsen. Das hätte sie von ihm gar nicht erwartet.
Den ganzen Weg zu den Dörfern redeten Sophie und Aloys miteinander. Adrian musste vorne die Truppe anführen.
»Wie viele passen denn eigentlich in die Dämmerungshöhle hinein?«, wollte Sophie wissen.
Nachdenklich schaute Aloys sie mit seinen schmalen, braunen Augen an. »Wer?«
»Na, Menschen. Also ich meine Schattendämonen und Lichtsammler.«
»Puh! Das könnten ganz schön viele sein. Bis dahin, wo ich mal gelaufen bin, hätten circa zweihundert Platz und jeder seine eigene Höhle.« »Na dann!«
»Was dann?«
»Na dann werden wir so viele Anhänger finden müssen, sonst werden wir diesen Krieg sicherlich nicht gewinnen …«
Stirnrunzelnd sah der junge Mann Sophie an und nickte. »Aber du musst wissen, Sophie, dass es sehr schwierig ist, die Leute von uns zu überzeugen. Sehr, sehr schwierig.«
Bald verließen sie die lange Höhle, und diesmal bekam Sophie mit, wie es steil nach unten ging. Die Höhle wurde durch das grelle Licht, das Violetta in ihren Händen hielt, richtig hell, und Sophie sah die vielen Insekten, die an den Wänden und auf dem Boden des Tunnels krabbelten.
Während sie zu dem Dorf liefen, wurden die vereinzelten Sonnenstrahlen immer seltener, aber durch die Anstrengung wurde Sophie wärmer, und sie fing bald an zu schwitzen.
Später befanden sie sich in dem Dorf, in dem schon vereinzelte Leute herumliefen und ihrer Arbeit nachgingen. Die Rebellen teilten sich auf, blieben jedoch trotzdem in unmittelbarer Nähe.
Gila und Adrian blieben bei Sophie, und bald legte Adrian los. Plötzlich lief er zu einem Mann mittleren Alters und fragte ihn, wo es hier etwas zum Essen gab. Durch seine Offenheit kamen sie schnell ins Gespräch, und nach ein paar Minuten wurden auch Sophie und Gila mit hineingezogen. Sie erfuhren von dem Mann, dass er ein Handwerker war und den Krieg natürlich auch nicht mochte.
Das war doch klar!, schoss es Sophie durch den Kopf, aber ob er sich dann auch dagegen wehren würde, war wieder eine andere Frage.
Nach zehn Minuten erzählte Adrian ihm von den Rebellen, und der Mann wurde schlagartig stumm und wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihnen ab. Eilig lief er zu der anderen Straßenseite.
Und da wusste Sophie, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie musste handeln und zwar sofort!
Mutig rannte sie zu dem erleuchteten Podest, auf dem sonst Theaterstücke vorgeführt wurden oder der Bürgermeister Ansprachen hielt. Mit klopfendem Herzen sah sie, wie sich eine Menschenmasse bildete, die nun aus den Häusern in die Nacht strömten.
Augenblicklich warfen Adrian und die anderen Rebellen ihr warnende Blicke und Zeichen zu, aber Sophie fühlte sich wie in einem Rausch und ließ sich nicht entmutigen.
Insgesamt mussten circa fünfzig Schattendämonen vor ihr stehen – mit den Rebellen, die ihre Kutten tief ins Gesicht gezogen hatten, sodass man die verräterischen Augen der Lichtsammler nicht sehen konnte.
Es dauerte nicht lange, da rief ein kleiner Junge ihr zu, sie solle endlich anfangen.
Sophie schluckte einen großen Kloß hinunter, dachte dann jedoch an Zam. Warum musste sie jetzt ausgerechnet an ihn denken?
Vielleicht brauchte sie einfach ein wenig von ihm. Ein wenig von seinem Mut, seiner Offenheit, seiner Entschlossenheit und vor allem von der nicht vorhandenen Angst vor den Konsequenzen, die diese ganze Geschichte haben könnte. Sie musste auch mal auf Risiko spielen. Jeder sollte das einmal tun. Und dies war genau der richtige Moment dafür.
»Mein Name ist Sophie. Ich bin diejenige, die ihr alle schon kennt!«, rief Sophie zitternd in die Menge hinein.
Verwirrte Blicke wurden zu ihr hochgeworfen.
Sophie sprach schnell weiter und versuchte, dies mit harter Stimme zu tun: »Ich bin das Mädchen aus der Prophezeiung.« Sie musste es sagen, sie hatte keine andere Wahl. Denn die Hoffnung lag nur in dieser verdammten Prophezeiung.
Um das misstrauische Gemurmel in verblüffte Schreie zu verwandeln, riss Sophie ihre Kapuze hinunter, und alle konnten sehen, dass sie ein Mensch war.
»Ich muss euch allen etwas erzählen«, fuhr Sophie fort, und ihre Stimme wurde endlich fest. »Wie ihr wisst, sind die Lichtsammler in diese Welt eingedrungen, und die große Schlacht ist nicht mehr weit. Aber um dem Töten und den Gewalttaten ein Ende zu setzen, haben sich ein paar Leute zu einer Gruppe zusammengetan. Ich gehöre dazu, denn ich werde mich auf keinen Fall auf eine der beiden Seiten stellen.« Sophie ließ ihren klaren Blick durch die nun immer größer werdende Menge gleiten und sprach dann lauter weiter: »Wir müssen nicht gegen die Lichtsammler kämpfen! Wir müssen gegen diesen verfluchten Krieg kämpfen. Nur dann ist es auch eine Ehre, sein Leben zu lassen. Die Rebellengruppe kämpft zusammen gegen diese blinde Gewalt, auch wenn wir zu diesem Zweck manchmal selbst Gewalt einsetzen müssen. Dieser jahrhundertlange Krieg hätte ein Ende, und wir könnten alle in Frieden leben. Wir Rebellen kämpfen nämlich zusammen: Schattendämonen und Lichtsammler. Lichtsammler mit Schattendämonen. Und ich hoffe, ihr schließt euch uns an, sodass wir alle wieder ruhig schlafen können und keine Angst um unsere Kinder oder unser Haus haben müssen. Bitte, kämpft mit uns gegen dieses unfaire Verhalten!«
Fassungslos starrten die Rebellen zu ihr hoch und ließen ihre Kapuzen noch mehr ins Gesicht fallen. Verzweifelt schaute Sophie in das stille Publikum. Wieso regten die sich denn nicht?
Plötzlich fing eine alte Frau an zu buhen. Und weitere fielen mit ein.
Sophies Herz begann zu rasen. Sie waren geliefert – erst recht, falls hier Schattenkrieger unter diesen Leuten waren.
In dem Moment erklommen Adrian und Sven das Podest, und als sie mutig ihre Kapuzen hinunterzogen, wurden Schreie hörbar.
»Ein Hinterhalt! Das Mädchen hat uns angelogen!«, schrie ein Mann.
Die Leute rannten auf einmal durcheinander.
»Nein! Nein, sie sind doch auf unserer Seite! Wir wollen doch bloß das Beste …«
Doch Sophies verzweifelten Rufen wurde gar keine Beachtung mehr geschenkt.
»Oh nein! Adrian, es tut mir so leid, ich habe uns alle ins Verderben gestürzt, das war so egoistisch von mir.«
Adrian brüllte die panische Menge an, doch niemand hörte ihn. Sven funkelte Sophie wütend an.
»Sie werden uns alle umbringen! Schnell, wir müssen hier weg!«, schrie ein junges Mädchen und packte ihren kleinen Bruder, um mit ihm zu verschwinden.
Sven wollte schon von der Bühne hinunterspringen, als plötzlich Lanzenspitzen auf sie zeigten. Sie saßen in der Falle. Und das war alles Sophies Schuld. Verzweifelt lief sie zu Adrian, der sie beschützend in die Arme nahm. Hoffentlich brachten sich die anderen in Sicherheit.
»Stopp! Lasst mich durch!« Ein sehr alter Mann mit nur einem Zahn humpelte auf sie zu.
Sophies Augen wurden größer, als sie den lustigen Hut des alten Mannes von der Kutsche erkannte.
»Ich habe mich bei meiner ersten Begegnung mit dir noch gar nicht vorgestellt«, schmunzelte der Mann.
Die Wachen ließen erschrocken ihre Waffen fallen. Als der alte Mann mitten auf dem Podest stand, liefen alle nicht mehr durcheinander und blieben wie angewurzelt stehen. Die Schattendämonen, die sich in den Häusern, um die Wasser aufschäumte, versteckt hatten, schauten besorgt aus den Fenstern.
»Mein Name ist Azzo. Ich bin der Bürgermeister dieser ängstlichen Meute.« Er grinste sie zahnlos an.
»Ihr kennt euch?«, fragte Adrian zaghaft.
Sophie nickte und murmelte dann: »Er hat mich ein Stück in seiner Kutsche mitgenommen.«
»Kommt näher, Freunde, und bitte glaubt, was dieses Mädchen gesagt hat!«
Ungläubiges Schweigen herrschte.
»Ja, das Mädchen spricht die Wahrheit, ihr habt richtig gehört. Bitte, Rebellen, kommt heraus und steigt auf die Bühne, sodass wir euch sehen können!«, rief Azzo.
Nach einem Nicken von Adrian, der dem alten Mann wohl vertraute, krochen mutig Akim, Violetta, Warwara, Aloys, Ramona, Andra, Alessia und Ahmad aus ihren Verstecken heraus. Die Lichtsammler und Schattendämonen drängelten sich dicht aneinander.
»So … liebe Freunde! Haltet mich nicht für verrückt! Ich weiß, dass ich sehr alt bin und ein paar schon auf meinen Posten als Bürgermeister aus sind, aber ich versichere euch, das hier ist eine richtige Entscheidung. So lasst uns mit dem Prophezeiungskind und den anderen Rebellen mitgehen! Dieser Krieg hat keinen Sinn, und das wissen wir alle!«
Verblüfft starrte Sophie den alten Mann an, der ihr zur Seite stand und diese Worte so feierlich ausgesprochen hatte, dass Sophie hoffte, dass doch noch alles gut werden könnte.
»Hört doch nicht auf ihn! Das sind Lichtsammler, die uns alle umbringen wollen!«
»Ach, halte deinen Mund, Marta!«, schrie ein junger Mann die alte Frau an und fing auf einmal laut an zu jubeln.
Bald wurden die Jubelschreie zahlreicher, und es mussten dann mehr als achtzig Hände sein, die nach oben gestreckt wurden.
Der Lärm der jubelnden Schattendämonen war ohrenbetäubend.
»Sophie! Du hast es geschafft, wir haben so viele neue Anhänger auf einmal bekommen wie noch nie! Das müssen doppelt so viele sein, wie wir bisher waren!«
»Tja, dann reichen Biggi und Jeip als Köche wohl nicht mehr aus!«, rief Sophie, während Adrian sie leidenschaftlich hochhob.
Die Menschen waren immer noch voller Enthusiasmus, während sie mit gepackten Taschen und in sechs langen Reihen vor den Rebellen standen, die jeden Einzelnen kontrollierten und ausfragten. Das war Gilas Idee gewesen.
»Wir brauchen Sicherheit und koordiniertes Abchecken!«, hatte sie wild entschlossen verkündet.
Dabei hatte sie Sophie an Viola erinnert.
Als es dann hell wurde, führten die Rebellen die Neuen durch den Geheimgang in die Berge, wo zuerst Alarm geschlagen wurde, da die Wachen dachten, sie würden angegriffen werden. Doch als sie dann Sophie, Adrian, Sven, Gila und die anderen Rebellen fröhlich vor den Dorfbewohnern hinauflaufen sahen, wurde schnell ein großes Festmahl vorbereitet, und jeder der Neuen musste sich in der Treffhalle vorstellen. Das dauerte den ganzen Tag.
Nachdem alle Neuen weitere Höhlen bezogen hatten, legte Sophie sich auf ihr Bett, wo sie direkt einschlief. Froh und hoffnungsvoll.
Luca und die anderen Kinder begrüßten sie, und wie immer erzählte Sophie ihnen von ihren Erlebnissen.
»So viele neue Anhänger? Aber das ist ja wunderbar! Ach, Sophie, ich würde das so gerne sehen …« Luca strich sich das braune Haar aus der Stirn und verblasste auch schon wieder.
Langsam wachte Sophie auf. Es war noch dunkel, also konnte sie nicht lange geschlafen haben. Vorsichtig stand sie auf und hörte lautes Schnarchen, das aus den Nachbarhöhlen drang.
Auf Zehenspitzen lief sie nach draußen. Die Fackeln, die an den Wänden hingen, flammten immer wieder auf, während Sophie an ihnen vorbeilief.
In der kühlen Luft begrüßte sie Jupp, Joel und Yamsi, die engste Vertraute der Anführerinnen.
»Was machst du da draußen?«, fragte Yamsi unwirsch und spitzte böse ihren dunkel geschminkten Mund. Ihre dunklen Haare, die sie zurückgebunden hatte, wehten im kühlen Wind.
»Lass sie doch!«, sagte Jupp, während er kopfschüttelnd seine hellen Augenbrauen zusammenzog, wie es Ahmad immer tat.
»Stimmt!«, meinte nun auch der blonde Joel. »Ich gehe mit Jaak auch oft im Dunkeln raus an die frische Luft, wenn er nicht schlafen kann.«
»Aber er ist ein Baby, Joel!«, giftete die attraktive Frau den jungen Mann an.
»Aber der Mann eben, der ist doch auch rausgegangen«, sagte nun ein Schattendämon, dessen Namen Sophie wieder vergessen haben musste.
»Wer?«, fragte Sophie neugierig.
»Na, Raimo … Oh!«
Alle sahen nun Jupp an, der sich an den hellen Bartstoppeln kratzte.
»Was ist denn?«, fragte Joel.
»Hoffentlich tut er sich nichts an.« Jupp beugte sich verschwörerisch vor. »Ihr wisst schon, er ist doch selbstmordgefährdet …«
Bei diesen Worten rannte Sophie schon die von Frost überzogene Wiese hinunter. An einem Hügel stand eine Person.
Sophie riss die Augen weit auf. »Raimo!«, schrie sie nun, mit Adrenalin in ihren Adern. Er wollte doch nicht etwa …»Raimo!«, schrie sie wieder entsetzt und lief durch die weißen Schneeflecken. »Verdammt! Was tust du da, du Idiot?!« Sophie war kurz vor dem einhundert Meter tiefen Abgrund stehen geblieben und wich erschrocken zurück.
»Hallo, Sophie!« Der junge Lichtsammler fuhr sich lächelnd durch seine braunen Haare.
»Was zum Teufel? Ich dachte …«
»Was dachtest du denn? Und was machst du hier?« Raimo stand einfach da und schaute verträumt in die Sterne.
Langsam zog Sophie den jungen Mann nach hinten, wo er sich verblüfft neben die erleichterte Sophie auf den Boden setzte.
»Was ist denn los?«, wollte Raimo wissen.
»Oh Gott, du hast mich so erschreckt! Ich dachte wirklich, du willst dir das Leben nehmen.«
Ärgerlich funkelte er sie an und fuhr sich über sein markantes, stoppeliges Kinn. »Diese Phase habe ich überwunden. Darf ich etwa nicht mal kurz rausgehen, wenn ich von Albträumen geplagt werde? Und was machst du überhaupt hier?«
»Na ja, dich retten«, murmelte Sophie zögerlich und fuhr dann fort: »Außerdem bin ich aufgewacht. Keine Ahnung warum.«
»Nur weil ich so einen jammernden Bruder wie Ahmad habe, heißt das nicht, dass ich mir das Leben nehmen will. Obwohl ich das schon oft vorhatte. Aber das hatte einen anderen Grund …«
»Was denn für einen?«, fragte Sophie zaghaft und fuhr durch das feuchte, kalte Gras, auf dem sie saßen.
»Ich hatte einfach alles verloren. Meine Freunde, meine Eltern und vor allem meine Verlobte. Wir wollten am nächsten Tag heiraten.«
Traurig schaute Sophie in Raimos grüngraue Augen. So kurz vor dem schönsten Tag seines Lebens. »Das muss furchtbar gewesen sein …« Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Aber was hätte sie in solch einer Situation auch schon sagen können?
»Natürlich. Aber was noch viel schlimmer war: Ich habe sie betrogen.«
»Du hast sie betrogen? Vor eurer Hochzeit?« Fassungslos starrte Sophie in die funkelnden Sterne und musste im selben Augenblick an Zam denken. Er schwirrte heute die ganze Zeit in ihrem Kopf herum!
»Nein, es begann hier bei den Rebellen, als ich sie das erste Mal sah. Das war kurz nach dem Tod meiner Verlobten.«
»Wen hast du gesehen?«, flüsterte Sophie. Sie konnte ihre Neugierde nicht mehr zügeln. »Kenne ich sie?«
Raimo lachte auf. »Aber ja. Anjutha. Ich bin hoffnungslos in sie verliebt …« Er schaute wieder verträumt in den Nachthimmel.
»Und ihr wart zusammen?« Sophie konnte sich nicht erinnern, ihn je Anjutha küssen gesehen zu haben.
»Nein. Ich traue mich nicht, es ihr zu sagen.« Verschämt schaute er nun auf seine Handflächen. »Ich weiß, ich benehme mich wie ein pubertierender Lichtsammler … Wieso erzähle ich dir das eigentlich alles?« Er blickte sie mit errötetem Gesicht an, soweit man das in der Dunkelheit erkennen konnte.
»Weil das alles raus muss«, antwortete Sophie knapp. »Du musstest es jemandem erzählen, ansonsten schleppst du die Last bloß mit dir herum. So kommt es einem vor, als könnte man sie wenigstens teilen.«
Raimo dachte über Sophies Worte nach. »Ich sagte, ich habe sie betrogen. Damit meinte ich, dass ich einfach so plötzlich nach dem Tod meiner Geliebten eine andere liebe. Das ist doch nicht fair! Aber … Aber ich kann einfach nichts dagegen unternehmen.«
Sophie nahm nun seine Hand in die ihre. Auch wenn sie nicht so viel mit dem Mann zu tun hatte, er tat ihr leid, und sie musste Raimo Trost spenden.
Außerdem konnte er so nicht weiterleben. In diesem Augenblick wurde Sophie bewusst, was es für eine fürchterliche Qual für ihren Vater war, so kurz nach Leonies Tod Yvonne geheiratet zu haben. Und Sophie machte ihm damit ständig ein schlechtes Gewissen, obwohl er recht hatte. Man musste loslassen können und normal weiterleben – und man konnte nichts dafür, wenn man sich neu verliebte.
»Meine Mutter starb, und kurz nach ihrem Tod heiratete mein Vater eine neue Frau. Für mich war das fürchterlich, und ich konnte einfach nicht glauben, dass er das mir und meiner Mutter antat. Aber nun habe ich verstanden, dass das Leben weitergeht. Meine Mutter hätte gewollt, dass mein Vater wieder glücklich wird. Und deine Geliebte, dass du wieder glücklich wirst.«
Mit glänzenden Augen schaute Raimo sie an und drückte sanft ihre Hand, was Sophie als Dank interpretierte.
»Morgen werde ich sie fragen«, sagte der junge Lichtsammler mit fester Stimme. Und mit diesen Worten und einem Lächeln lief er auf die Höhle zu.
Langsam stand Sophie auf. Sie war glücklich, einem Menschen einen guten Rat gegeben und etwas Neues dazugelernt zu haben.
Wenige Augenblicke später kehrte sie zu den Höhlen zurück. Gierig sog sie die kalte Luft in ihre Nase ein und wollte gerade zu den Wachen gehen, die in Grüppchen bei den Lagerfeuern saßen, da ließ sie etwas stocken.
Was war das da hinten? Eilig lief sie wieder zurück und rannte dann nach rechts.
Den Umriss eines jungen Mannes, der auf eine dunkle Gestalt zulief, konnte Sophie erkennen. Als sie näher kam, erkannte sie Raimo und Anjutha, die lächelnd dastand. Ihre dunkle Haut verschmolz fast mit der Dunkelheit, aber Sophie konnte ihre hellbraunen Augen in dem Licht der Glühwürmchen flimmern sehen. Was machte sie so spät hier draußen?
Sophie lächelte. Das war nebensächlich. Vielleicht hatte Anjutha ja sogar ihr Gespräch gehört. Der Moment war so romantisch, dass Sophie am liebsten weiterhin zugesehen hätte, aber das gehörte sich nicht, und so lief sie müde, aber lächelnd wieder zu den Höhlen.
»Hallo!«, sagte sie fröhlich zu den Wachen, die gerade ein Lied sangen.
Yamsi saß einfach da und starrte mit ihren Augen, die Sophie so sehr an Edelbitterschokolade erinnerten, trübsinnig in die Fackeln, während die anderen fröhlich und ausgelassen auf Trommeln und Zupfinstrumenten spielten.
»Und wie war dein Spaziergang? Wieso bist du so schnell abgehauen?«, fragte Jupp und trommelte auf einer kleinen, roten Trommel herum.
»Er war schön. Ich habe noch Anjutha mit Raimo gesehen.«
Sie wollte gerade gehen, als Yamsi plötzlich hochfuhr.
»Sagtest du Anjutha?«
»Ja. Sie steht dahinten zusammen mit Raimo. Ich würde sie jedoch nicht stören.« Leise lachte Sophie auf.
»Aber sie ist doch gar nicht aus der Höhle gekommen, oder!?«, rief Yamsi verwirrt.
Die anderen schüttelten nachdenklich den Kopf.
Sophie riss die Augen auf. Anjutha war noch in der Höhle? Aber wer …
Sophie rannte los. Sie wusste, wer oder was dort hinten Raimo anlockte – sie hatte es selbst schon einmal erlebt.
»Was ist denn los?«, schrie Jupp ihr hinterher.
Die anderen waren aufgesprungen, und ein paar rannten Sophie sogar nach.
»Nein! Raimo, renn weg!« Verzweifelt kam Sophie dicht vor dem kalten Wesen und Raimo zum Stehen.
Anjutha trug immer ein Haarband – das kalte Wesen jedoch nicht. Anstatt den Fehler zu bemerken, war Raimo wie in Trance gefangen. Er schaute das kalte Wesen, das lockend eine Hand nach ihm ausstreckte, hypnotisiert an.
»Was passiert da? Was ist denn los, Sophie?«, riefen nun Yamsi und ein paar andere Rebellen, die ihr gefolgt waren.
»Nein! Raimo, jetzt komm schon! Das ist gar nicht Anjutha.«
Fast schluchzend rannte Sophie auf Raimo zu, der die Hand des kalten Wesens berührte und dann seine Lippen auf die von der vermeintlichen Anjutha drückte.
Auf einmal wurden seine Augen groß, und er fing an, fürchterlich zu zappeln und zu schreien, während er versuchte, sich von dem Mund des kalten Wesens zu befreien.
Sophie sackte auf die Knie.
»Was passiert da, verdammt noch mal?!«, brüllte Yamsi.
»Das ist ein kaltes Wesen. Sie sind zurückgekehrt, und dieses Ding hat gerade Raimo getötet. Es saugt seine Seele auf«, hauchte Sophie, und ihre Augen wurden nass vor Hilflosigkeit.
In dem Moment sauste ein Pfeil in das Wesen hinein, das jedoch immer noch Anjuthas Gestalt angenommen hatte und sich nicht stören ließ.
»Nein, es hat keinen Sinn! Man kann sie nicht töten, das wisst ihr doch. Und Raimo ist verloren.«
Traurig wendete Sophie ihren Blick von dem sich verzweifelt wehrenden Raimo ab, dessen Haare nun ganz weiß wurden und sich langsam in Flammen verwandelten.
»Was passiert mit ihm?«, kreischte eine Schattendämonin. »Oh Gott! Können wir denn gar nichts tun? Wir müssen das kalte Wesen doch aufhalten, irgendwie!«
»Er verwandelt sich auch in eines. Wir müssen hier weg, sofort!«
Sophie sprang auf und blickte noch einmal zurück auf den zuckenden Körper von Raimo, der bald wie eine leere Hülle aufstand. Das kalte Wesen und der verwandelte Raimo bewegten sich langsam auf die Höhle zu.
Die Wachen schrien auf und hasteten zu der Höhle, um die anderen zu warnen.
Sophie stürmte in die Schlafsäle der Anführerinnen und schrie: »Aufwachen! Schnell, da draußen sind kalte Wesen, die Raimo getötet haben, wir müssen die Höhle verbarrikadieren!«
Die beiden Anführerinnen reagierten sofort, und mehr als fünfzig weitere Rebellen liefen nun wild durcheinander.
»Lasst uns durch! Ich weiß, wie man sie besiegt!«, schrie Jadwiga.
Sophie lief mit pochendem Herzen neben Jadwiga her, deren flammenrote Locken und schwarzes Gewand beim Laufen wehten. »Aber du kannst sie nicht umbringen! Man kann sie doch gar nicht töten! Das geht nicht. Es wäre Selbstmord.«
Jadwiga funkelte sie aus ihren braunen Augen an. »Du hast einen Schutzschild. Du musst den Köder spielen!«
»Aber das geht nicht, Jadwiga! Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin!«
Da legte Etienne ihr eine schlanke Hand auf die Schultern und flüsterte mit ihrer hellen Stimme: »Du bist so weit, Sophie. Möge es dir gelingen!«
Das hoffte Sophie auch.
Ängstlich drängten sich Schattendämonen und Lichtsammler nebeneinander gegen die Felsenhöhlen, um den Anführerinnen und Sophie Platz zu machen.
»Man kann sie besiegen, Sophie! Hab keine Angst und vertraue mir einfach! Das Einzige, das du tun musst, ist, der Verlockung dieser Wesen nicht zu verfallen.«
Als sie aus dem großen Höhleneingang traten, saugte das eine kalte Wesen bereits sein nächstes Opfer aus, eine Lichtsammlerin, die gerade merkte, dass ihr hübscher Junge in Wahrheit ihr schlimmster Albtraum war.
»Holt Gila zu mir!«, befahl Jadwiga und fuhr fort: »Sophie, begib dich in die Nähe des Wesens! Es kann dich nicht berühren, das weißt du. Und alle anderen in die Höhle!«
Langsam schritt Sophie in die dunkle Nacht hinaus und hörte die erschrockenen Aufschreie, als sie sich nervös der leeren Hülle von Raimo näherte. Dieser verwandelte sich schnell in jemanden, um Sophie anzulocken.
Die Gestalt, in die er sich verwandelte, ließ Sophie jedoch stocken. Sie hätte Adrian erwartet, da er es war, den sie liebte, aber das kalte Wesen näherte sich ihr als Zam.
Verwundert blieb Sophie stehen, und dann begann ihr Herz auf einmal, laut zu pochen. Zam … Warum war es Zam?
Ihr Atem ging schneller, und sie bewegte sich auf das kalte Wesen zu. Sein Zahnlückenlächeln war unübersehbar. Aber das war doch unmöglich! Zam war doch gar nicht hier, und er hatte ihr persönlich noch gesagt, die kalten Wesen würden vor ihren Opfern in einer Gestalt sichtbar, die häufig mit den Opfern in enger Verbindung stand …
Vielleicht konnten die Wesen ja auf den Grund ihres Herzens, auf den Grund ihrer Seele schauen. Aber sie liebte doch Adrian, oder?
Es war, als stünde der wahre Zam vor ihr, und Sophie merkte, wie sehr sie ihn vermisst hatte.
»Zam«, murmelte sie leise.
Er streckte die Hand nach ihr aus und flüsterte mit seiner Stimme, die Zams Stimme war: »Sophie! Es tut mir so leid!«
Sie wollte sich in seine Arme stürzen und sich dann an ihn schmiegen … Ihr Schutzschild, den sie vor wenigen Minuten noch in ihrem Inneren aufgebaut hatte, verlosch ganz.
Die verlockende Anziehungskraft konnte nicht von dem Wesen stammen, das eben noch flackernd weiße Haare gehabt hatte.
Er war es. Zam war es wirklich!
»Zam! Ich habe dich so vermisst!«
Sophie wollte sich gerade in seine Arme stürzen, als sie sah, wie sein Schatten anfing zu beben und dann ganz verschwand. Zam fiel kraftlos und mit einem Keuchen auf den Boden, sodass Sophie die Augen weit aufriss.
»Nein! Zam!« Mit Tränen in den Augen drehte sie sich um.
Jadwigas Augen wurden abrupt wieder heller, und die Schatten in ihren Augenhöhlen verblassten ganz. Triumphierend schaute sie auf die tote Gestalt von Zam, die sich plötzlich in Luft auflöste.
»Was hast du getan? Was hast du getan, Jadwiga? Nein, nein, das stimmt nicht, er ist nicht tot! Er ist nicht tot. Du hast ihn nicht getötet.« Mit einem Tränenschleier funkelte Sophie Jadwiga böse an. »Es war Zam! Du hast ihn umgebracht. Wieso hast du das getan?«
Mit traurigem Blick kam Warwara auf sie zu und kniete sich neben sie, um sie in ihre Arme zu nehmen. Zuerst wehrte Sophie sich noch, dann jedoch wurde sie von Warwaras Ruhe überwältigt, und ihre Tränen fanden ein Ende.
»Es war nicht Zam. Das war ein kaltes Wesen.«
Plötzlich wurde in ihr wieder alles klar. Sie fing wie wild an zu nicken und murmelte dann: »Ja. Oh nein! Ich habe versagt. Ich konnte meinen Schutzschild einfach nicht kontrollieren. Ich war so in Trance … Und Zam … Ich weiß nicht, aber es ist einfach alles wieder in mir hochgekommen! Ich dachte, er würde wirklich sterben, weißt du? Ich dachte, ich hätte ihn verloren.«
Warwara redete beruhigend auf sie ein, dann liefen sie zusammen zurück zu der Höhle, wo mindestens neunzig Schemen leise warteten. Nur hier und da war ein kleines Wimmern eines Babys zu hören. Alle ängstlichen Augen waren auf Sophie gerichtet, und dann schweiften sie ab und beobachteten, wie Gila und Jadwiga die kalten Wesen durch ihre Schattenkraft umbrachten.
Es funktioniert nur in verwandelter Form, wurde Sophie klar, nachdem die Wesen sich aufgelöst hatten. Als Jadwiga und Gila müde wiederkamen, breitete sich statt Jubel betretenes Schweigen aus.
»Wir haben zwei Lichtsammler verloren. Zwei Stimmen, die uns vertraut waren, schweigen. Zwei, die immer für uns da waren, leben nicht mehr. Aber denkt daran: Was uns bleibt, sind Liebe, Dank und Erinnerung an viele schöne Momente.« Etienne hielt nach der ganzen Aufregung in dem Speisesaal, der sogar mit diesen vielen Rebellen nur bis zur Hälfte gefüllt war, eine Trauerrede.
Viele Rebellen weinten, als sie von der Nachricht erfuhren. Als Sophie traurig nach braunen Locken suchte und bald darauf Anjutha mit einem lila Band über ihren offenen Haaren fand, sah sie, wie der jungen Frau die Tränen wie Flüsse über das Gesicht liefen. Vielleicht hatte sie Raimo ja auch geliebt. Ob sie wusste, was er für sie empfunden hatte? Sophie beschloss, es ihr morgen zu erzählen.
Als die lange, bedrückende Trauerrede der beiden Anführerinnen mit den Worten »Aus unserem Leben bist du gegangen, in unserem Herzen bleibst du!« endete, schwieg der ganze Saal, und sie zündeten Kerzen an.
Jadwiga erklärte noch ein paar grundlegende Sachen über die kalten Wesen, aber Sophie konnte kaum zuhören, obwohl sie wusste, dass es sehr wichtig war. Ihre Gedanken schweiften immer wieder von Zam zu Adrian, von Adrian zu Raimo und dem Unheil, das an diesem Tag geschehen war.
Sophie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich und bekam beim Frühstück am nächsten Morgen keinen Bissen hinunter. Den anderen musste es nach dem Angriff des kalten Wesens so ähnlich ergehen wie ihr. Bedrückte Stimmung herrschte in den Hallen, und sogar Andra schaute betrübt auf ihre Brote, auf denen sie mit verschiedenen Brotbelägen Gesichter dargestellt hatte. Es waren traurige Gesichter, die einen Mund hatten, der falsch herum war.
Auch das Trainieren fiel allen schwer, und hin und wieder hörte Sophie ein jämmerliches Seufzen in irgendeiner dunklen Ecke.
Inzwischen wusste sie, dass Anjutha von Raimos Liebe gewusst hatte. Es stand deutlich in ihrem Gesicht geschrieben. Außerdem legte sie die meisten Blumen neben das Kreuz, in dem in einer fremden Schrift Raimos Namen eingraviert worden war.
»Aber wir können doch nicht einfach nichts vergraben!«, rief Eliza laut, während ihre hellen Haarwellen hinter Etienne her wirbelten. »Ich möchte ein richtiges Grab für meinen Neffen – und nicht nichts!«
Auch Raimos Bruder Ahmad hatte das Ableben von Raimo sehr getroffen. Er hockte bloß noch in seiner kleinen Höhle, und wenn er mal zum Essen herauskam, waren seine hübschen Augen verquollen und seine Augenbrauen noch mehr zusammengezogen. Er sprach mit niemandem ein Wort.
Und nach ein paar Tagen fand man ihn mit einem Abschiedsbrief tot auf.