16. Kapitel: Die große Schlacht

Abends strömten alle Rebellen in die Versammlungshalle. Die große Schlacht stand unmittelbar bevor. Unter den Rebellen herrschte eine angespannte Stimmung, und noch nicht einmal Andra lachte.

Sophie und Zam setzten sich zu ihren Freunden an den Tisch, und Sophie fragte sich, wie es nach den Kämpfen sein würde. Würde jemand in ihrer Runde fehlen?

Jadwiga und Etienne betraten die Halle und stellten sich auf das Steinpodest. Die Menge verstummte, und auch Sophie wurde aus ihren Gedanken gerissen.

Sophie konnte Jadwigas Augen zwar nicht sehen, aber sie wusste, dass in ihnen wieder die Entschlossenheit brannte – noch viel stärker als je zuvor.

»Das Wesen eines Geschöpfs hängt vom Einfluss guter oder schlechter Freunde ab. Und ihr wart die ganze Zeit, die ihr hier verbracht habt, sehr gute Freunde!«, rief Etienne feierlich in die riesige Menge hinein, die endlich die Treffhalle ganz ausfüllte. »Die große Schlacht steht an, und wir werden in zwei Stunden aufbrechen. Ich hoffe, wir können der Schatten- wie auch der Lichtseite zeigen, dass wir uns nicht bekriegen müssen und dieses Verhalten auch zu nichts führt.« Ihre Stimme hallte von den hohen Höhlenwänden wider.

Die Menge jubelte, und Ina, die dunkelhäutige Alla und auch Noah hielten sich die Ohren zu. Als nun Jadwigas rote Locken zum Vorschein kamen, verstummte die Menge wieder.

»Frieden ist, wenn den Kindern bei dem Wort Krieg nichts mehr einfällt. Frieden ist, wenn man mit jedem befreundet sein darf. Wir werden den Frieden finden, Freunde! Und auch wenn es Opfer geben wird, lohnt es sich, dafür zu kämpfen!«, schrie Jadwiga energisch.

Die Rebellen klatschten begeistert.

Jadwiga fuhr fort: »Jedoch hört: Frieden ist nicht nur Abwesenheit von Krieg; Frieden ist eine Tugend, eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen, Gerechtigkeit! Wir haben nicht nur zwei Feinde, die wir auf unsere Seite zu ziehen versuchen werden. Nein! Wir haben noch einen dritten Feind, den wir zu bekämpfen gelernt haben. Und wir werden ihn bezwingen. Aber nur, wenn alle zusammen kämpfen. Und zwar tatsächlich alle! Lichtsammler und Schattendämonen.«

Eine lange Pause entstand, und verwirrtes Gemurmel breitete sich aus. Ein weiterer Feind 

Sophie kannte ihn schon und zwar sehr genau.

»Kalte Wesen, Freunde!«, rief Jadwiga nun.

Die Worte hallten bedrohlich an den Wänden wider, sodass Sophie sah, wie ein paar der Rebellen zusammenzuckten.

»Einige von uns haben ein spezielles Training absolviert, um die kalten Wesen besiegen zu können. Wir sind also gut vorbereitet!«, verkündete Jadwiga.

»Wir müssen euch noch etwas sagen«, ertönte plötzlich die Stimme von Etienne. »Wir wissen, wie man die Portale verschließt. Deshalb überlegt euch, wo ihr in Zukunft leben möchtet – hier bei den Rebellen oder in eurer ursprünglichen Heimat!«

Laute Stimmen redeten erschrocken, verwirrt oder auch einfach wütend durcheinander.

Sophie konnte etwas nicht heraushören: Erleichterung. Verstanden die Rebellen denn nicht?

Etienne sprach weiter: »Wir müssen die Portale verschließen, ansonsten wird es immer wieder Krieg geben. Unsere kleine Gruppe konnte zwar zusammenleben, da wir alle der gleichen Meinung sind, aber der Hass der Königshöfe der beiden Welten wird nicht einfach so verklingen. Es gab bereits mehrere Rebellengruppen in unserer Geschichte, aber keine konnte auf Dauer den Frieden aufrechterhalten, wenn die Portale geöffnet waren.«

Sophie beobachtete angespannt die Gesichter der Lichtsammler und Schattendämonen, und bald nickten ein paar auch schon zustimmend. Andere waren immer noch etwas misstrauisch, aber Sophie ignorierte sie einfach.

»Also, Freunde, denkt immer daran: Trennt euch nie von euren Träumen! Sind sie verschwunden, so mögt ihr zwar noch existieren, aber ihr habt aufgehört zu leben. Ihr seid Rebellen! Eure Hoffnungen sind die allerstärksten Waffen, die ihr mit euch tragt!«, rief Jadwiga laut.

Schließlich brach die Menge in großen Jubel aus, und diejenigen, die kämpfen wollten, stellten sich in Reihen auf.

Auch Zam und Sophie schlossen sich den Freiwilligen an. Zam drückte Sophie einen dicken Kuss auf die Stirn, sodass sie sich wie neugeboren fühlte. Nun war Sophie sich ganz sicher, dass sie es zusammen schaffen würden. Sie würden die Welt verändern. Nein, drei Welten auf einmal. Sie und Zam zusammen. Sanft strich sie ihm durch das schwarze Haar.

Eine Stunde später verabschiedeten Sophie und Zam sich von Ina, Alla, Andra, Edda, Estafania und Noah, der sich weinend an Sophie hing.

»Ich komme bestimmt wieder, Noah! Und außerdem passen Edda und Ina doch auf dich auf.«

»Und ich passe auf sie auf, das weißt du doch, Kleiner!« Zam legte Sophie einen Arm um die Taille.

Noah schaute die beiden mit großen, glänzenden Augen an und wischte sich über die Nase.

»Wenn man jemanden verliert, den man geliebt hat, dann stirbt ein Stück des eigenen Lebens mit ihm. Aber wenn man sich etwas von dem bewahrt, das sich einem durch ihn an innerem Reichtum erschlossen hat, wird er in einem gegenwärtig und durch einen selbst hindurch auch in Zukunft lebendig sein«, sagte Etienne, die Noah auf den Arm nahm.

Ihre Worte verstand der Kleine noch nicht, und Sophie wusste, dass sie eigentlich an sie gerichtet waren. Jetzt erst wurde ihr klar, dass auch Adrian, Gila, Warwara, Akim und die anderen sterben könnten – und Zam. Sophie schluckte. Nein, sie musste zuversichtlich bleiben. Niemand ihrer Freunde würde sterben. Sie würden es lebend und triumphierend wieder hierherschaffen. Und ob sie es schaffen würden!

Noch einmal umarmte Sophie Noah, zog dann ihren Gürtel fest und steckte das Schwert wie auch die zwei Messer ein.

Als sie aus der Höhle traten, schauten die anderen Rebellen, die hierblieben, sie mit großen Augen an und wünschten ihnen Glück. Ceus kam, und Zam und Sophie sprangen auf ihn.

Sophie drehte sich noch einmal zu den Dämmerungshöhlen um. Ob sie sie jemals wiedersehen würde?

Schließlich schmiegte Sophie sich ganz dicht an Zam, der so vertraut nach verdunstetem Regen roch.

Mittlerweile ritten ein paar der Lichtsammler und Schattendämonen auf Pferden und Bären vor den anderen her. Die Rebellen, die zu Fuß unterwegs waren, folgten ihnen.

Der Weg dauerte mehrere Stunden, und sie kamen an niedergebrannten Städten und Dörfern vorbei. In anderen Orten verbarrikadierten die Bewohner ihre Häuser oder schlossen sich ihnen spontan an.

Bald erreichten die Rebellen die Felder der Winde. Sophie verschlug es die Sprache. Zwei riesige Heere standen sich bereits gegenüber und warteten auf die Dämmerung, denn in dieser Zeit waren die Kräfte beider Welten gleich stark.

Die Bäume des schützenden Waldes verdeckten zwar die Rebellen, aber Sophie fühlte sich ihrer Aufgabe jetzt schon nicht mehr gewachsen.

»Zam, ich habe Angst«, raunte sie dem Schattendämon zu, während der krampfhaft nach Sophies Hand griff.

»Ich auch, Sophie. Ich auch.«

»Meine Brüdern und Schwestern! Wir stellen uns nun. Wir wissen noch nicht, welches Ende diese Schlacht nehmen wird, aber wir werden unsere ganzen Hoffnungen auf sie setzen. Wir helfen einander, so gut es geht, und wenn es zu einem Kampf kommt, sind wir bestens darauf vorbereitet. Es wird etwa eine halbe Stunde dauern, bis wir bei den Kriegern ankommen. Und dann, Freunde, wird alles Leid ein Ende haben! Wir werden siegen!«

Plötzlich hob Jadwiga ihr Schwert in die Luft, und Etienne tat es ihr lächelnd gleich. Als die beiden goldenen Schwerter sich berührten, brach die Menge in tobendes Kriegsgeheul aus und rannte die Hügel hinunter zu dem Feld, wo die Krieger in genauestem Abstand voneinander entfernt standen. Die ersten dreißig Reihen taten Sophie besonders leid, da diese Kämpfer wussten, dass sie ihre Familien sicherlich nie wiedersahen.

Schreiend und mit festem Schritt rannten Sophies Freunde wie auch die anderen auf die Streitmächte der Welten zu. Sophie und Zam ritten auf Ceus zu dem Kriegsfeld.

Bald konnte Sophie die Anführer der beiden Welten ausmachen.

Der König der Schattendämonen sah wild aus. Seine dunklen Augen sprühten bloß so vor Hass, und der Wind zerzauste seine braunen Locken. Er trug außerdem einen dunklen Bart, der ihn fast wie einen Wolf aussehen ließ.

Auf der anderen Seite, vielleicht bloß einhundert Meter entfernt, fand Sophie eine junge Frau mit vom Nieselregen durchnässten Haaren und leuchtend hellen Augen, die sogar noch mit mehr Licht als die von Violetta getränkt waren. Doch diese Augen versprühten eine solche Kälte und eisige Klarheit und waren nicht schön im Gegensatz zu Violettas.

Als beide Seiten die Rebellen auf sich zukommen sahen, nahmen sie sofort Angriffsstellung ein.

Circa zwanzig Meter vor den Streitmächten blieben Jadwiga und Etienne mit ihrem weißen und schwarzen Pferd stehen.

Sophie hielt die Luft an. Jeden Moment konnte eine der beiden Weltenmächte einen Befehl erteilen, und alle Rebellen würden sterben.

Aber nichts dergleichen geschah.

»Mein Name ist Jadwiga, und sie heißt Etienne!«, rief Jadwiga laut. »Wir wollen euch warnen!«

Es war schon ein Wunder, dass man sie überhaupt reden ließ und der König der Schattendämonen oder die Königin der Lichtsammler sie nicht unterbrach.

Sophie bewunderte Jadwiga für ihren großen Mut, vor so vielen Personen zu sprechen und eine solch ausdrucksvolle Stimme zu haben. Ihre Worte wurden auch an den Rest der beiden Heere weitergegeben.

Manche Krieger wirkten nervös, als sie erkannten, dass vor ihnen Lichtsammler und Schattendämonen als Einheit auftraten.

»Wovor wollt ihr uns warnen? Vor euch kleinen Rebellen, die unseren Krieg aufhalten wollen?«, rief der König.

Seine Stimme ging Sophie durch Mark und Bein. Der König war furchteinflößend.

Nun rief die Königin der Lichtsammler: »Wir werden gegen euch kämpfen und gleichzeitig auch gegen die Schattenseite. Uns ist egal, ob ihr Lichtsammler bei euch habt! Ihr seid Verräter!«

Sophie hätte gedacht, die Stimme der Königin wäre nicht laut genug, um zu ihnen durchzudringen, aber da hatte sie sich geirrt.

»Ich bitte euch wirklich um Verzeihung, aber so lasst mich sprechen!« Etiennes Ton war sanft, aber entschlossen.

Der König der Schattendämonen nickte, und auch die Königin der Lichtseite nickte entschieden. Durch die angespannten Rebellen lief eine Welle der Erleichterung.

»Ihr habt sicherlich schon von den kalten Wesen gehört, die hier herumirren und sich euer Volk als Opfer nehmen! So lasst uns zusammen gegen diese Ausgeburten der Hölle kämpfen und sie vernichten! Sie sind unsere wahren Feinde – und nicht ihr gegenseitig!«

In diesem Augenblick begann die Morgendämmerung, und beide Könige, die Lichtsammlerin auf ihrem weißen Pferd und der Schattendämon auf einem schwarzen Bären, gaben Befehle.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, murmelte Zam traurig und gab Sophie einen letzten Kuss auf den Mund, bevor die Prophezeiung wahr werden würde und die große Schlacht begann.

Sophie hoffte inständig, dass es nicht ihr letzter Kuss war.

Es dauerte nicht lange, da ertönten auch schon zwei Kriegshörner, und schreiende Lichtsammler und Schattendämonen trafen aufeinander. In einer Abfolge von Sekunden fielen die ersten Krieger bereits tot auf den Boden, und die Felder der Winde färbten sich blutrot.

»Oh nein! Oh nein …«

Sophie schüttelte den Kopf, als man bloß noch kämpfende Lichtsammler und Schattendämonen sah, die aufeinander brutal einstachen und sich gegenseitig ermordeten. Sie hatte versagt.

Zam schrie ihr etwas ins Ohr, aber durch den Lärm verstand Sophie kein einziges Wort. Neben ihr fingen schon die ersten Schattenkrieger und Lichtkrieger an, die Rebellen zu bekämpfen, und mit aufgerissenen Augen sah Sophie durch den aufwirbelnden Staub, dass viele zu Boden gingen.

Ein Lichtsammler schlug auf sie ein, aber schnell gewann Sophie die Oberhand. Auch wenn er fast doppelt so groß war wie sie, warf sie sich flink auf ihn und entschwand dann durch seine Beine. Man konnte kaum etwas erkennen, doch als der Lichtkrieger sie wieder mit dem Schwert bedrohte, rammte Gila ihm mit einem hasserfüllten Aufschrei das Schwert in den Rücken und zog es mit einem ekligen Geräusch wieder heraus. Dankbar nickte Sophie ihr zu.

Sofort kamen drei neue Gegner auf sie zu. Zam beschützte sie, so gut er konnte, aber eine Schattenkriegerin brachte Sophie selbst um. Ob sie mit diesen fürchterlichen Gewissensbissen noch ein normales Leben führen konnte, wusste sie nicht. Zunächst mal musste sie überleben.

Es schien aussichtslos. Schattendämonen und Lichtsammler bekämpften sich, aber beide Seiten brachten auch brutal Rebellen um, die nicht die Gewänder der Lichtkrieger oder der Schattenkrieger trugen.

Eine Schattenkriegerin versuchte, Sophie durch Schattenbändigen zu töten, doch Sophie hatte ihren Schutzschild schon ausgefahren, und so konnte sie sich gleichzeitig auf eine andere Schattendämonin konzentrieren, die mit Gebrüll auf sie zustürzte.

Aber genau in dem Moment, als Sophie glaubte, ihr Gesicht zu erkennen, sah sie den Schatten auf Zams Hand, der schnell wieder verlosch, und die Schattendämonin fiel kopfüber auf den blutbeschmierten Boden. Ihre Kapuze rutschte zurück, und verächtlich spuckte Sophie auf die schwarzen Haare der toten Yamsi.

Stirnrunzelnd schaute Gila Sophie an und verteidigte dann Liane und Solvej, die flink die Füße eines Schattendämons an die eines anderen fesselten und somit den Lichtsammler, der sie von hinten angriff, nicht sehen konnten. Gila feuerte im richtigen Augenblick einen Pfeil auf ihn ab, der ihn am Kopf traf.

Schnell schaute Sophie auf, denn sie hatte einen plötzlichen Schmerz an ihrem Bein gespürt. Doch Neele hatte Sophies Angreifer mit einem Schrei zur Strecke gebracht. Mit einem sachten Lächeln blickten sie sich an.

Überall flogen Feuerbälle durch die Luft. Sophie blieb fast das Herz stehen: Zam kämpfte gerade mit einem Lichtsammler und sah das Feuer nicht, das genau auf ihn zuflog. So schnell wie möglich sprintete sie zu ihm hinüber, als er sich gerade umdrehte. Seine Augen waren schreckgeweitet, aber das Feuer blieb aus, da Sophie ihren Schutzschild ausgebreitet hatte. Die Flammen verloschen einfach, und auch die nächsten Flammenstöße gingen in der Luft verloren.

Bald griffen vier Lichtsammler gleichzeitig Sophie an, welche sie geschickt abwehrte. Rücken an Rücken kämpften Zam und Sophie, und kurz darauf kam auch noch Gila hinzu.

Letztendlich war es jedoch Jadwiga, die sie rettete. Schnell wie ein Blitz vernichtete sie die Schatten ihrer Feinde und somit auch deren Leben.

Etienne folgte ihr auf dem Fuße und verbrannte alles, was ihr in den Weg kam und kein Rebell war.

Sophie erinnerten die Schattendämonen an Zombies – an willenlose Werkzeuge des Königs. Ungebändigter Hass auf diesen erfüllte Sophies Herz, als sie sah, wie ein Mädchen in ihrem Alter von Zam getötet wurde und der verschleierte Blick aus ihren Augen wich, bevor sie auf die Seite fiel. Der König und seine Krieger verwandelten einfache, unschuldige Bürger in willenlose Kreaturen, um sie für den Krieg zu benutzen!

Der Hass und ihre Wut gaben Sophie neue Kraft, und sie warf sich schreiend auf einen Schattenkrieger, den sie auch noch kannte: Leutnant Lodewijk. Es war, als hätte das Schicksal ihre Wege erneut kreuzen lassen.

Erschrocken und danach mit einem bösen Grinsen auf den Lippen schaute der Schattendämon sie an. Dann versuchte er, ihren Schatten zu bändigen, aber es missglückte, und Sophie fand seinen verwirrten Gesichtsausdruck ziemlich amüsant. Zam erledigte den Rest, und mit zusammengebissenen Zähnen rammte Sophie ihr Schwert in den toten Leutnant.

Ein paar Minuten später beobachtete Sophie, wie eine Lichtsammlerin etwas vom Boden aufhob und einsteckte. Etienne musste es auch gesehen haben und nahm zusammen mit Sophie die Verfolgung auf.

»Wer bist du?!«, rief Etienne der Frau hinterher.

Die Frau schleuderte als Antwort Feuer auf sie, während sie sich einen Weg durch die kämpfenden Krieger bahnte.

Sophie und Etienne hasteten hinterher. Diese Lichtsammlerin musste eine besondere Aufgabe haben!

Adrian schloss sich ihnen an, und mit einem tapferen Lächeln auf den Lippen beschützte er Sophie vor weiteren Angriffen.

Als Sophie Jadwigas rote Mähne sah, die ihre Freundin suchte, winkte Sophie sie zu sich. Mit einem fragenden Blick kämpfte sich die Schattendämonin zu ihnen durch, und zusammen setzten sie die Verfolgung der Frau, die nun in den Wald lief, fort.

»Wer ist das?«, schrie Sophie und musste sofort anfangen zu husten, da sie feinen Staub eingeatmet hatte.

»Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!«, rief Etienne, während sie mit Feuer die Feuerbälle der Feinde wieder zurückschickte.

So lange es ging, hatte Sophie den Schutzschild aktiviert und merkte nicht einmal, als ein Schattenkrieger versuchte, sie zu töten. Adrian spannte einen Pfeil in den Bogen, und im nächsten Augenblick fiel der Schattendämon verletzt hin. Adrian hatte es immer gehasst, Waffen zu benutzen, aber im Krieg blieb einem gar nichts anderes übrig.

Sie folgten der blonden Frau in den Wald, verloren sie aber bald aus den Augen.

Die Rebellen liefen noch ein Stück weiter in den Wald hinein und blieben dann stehen.

In dem Augenblick, als Sophie erkannte, dass sie in eine Falle gelockt worden waren, waren die Rebellen bereits umzingelt.

Ohne zu zögern, riss Sophie ihre Kapuze hinunter, in der Hoffnung, dass sie sie vielleicht am Leben lassen würden, da Sophie das Mädchen der Prophezeiung war, das sie gesucht hatten.

Doch da sah Sophie einen Schattendämon von einem Baum zum nächsten huschen und dachte schon, er würde zu den Rebellen gehören. In seinen Armen hing ein dünnes Mädchen, das die Augen geschlossen hatte.

Der Schattendämon legte es vor die Lichtsammlerin, die sie verfolgt hatten.

»Gute Arbeit!«, sagte die Frau triumphierend und murmelte dann: »Wir brauchen den Spion nicht mehr, erledigt das!«

Eine andere Lichtsammlerin stellte sich breitbeinig vor den nun panischen Spion und ließ Flammen aus ihren Händen in Richtung des Schattendämons schießen.

Dieser wurde von seinen Beinen gerissen und zwischen die Bäume geworfen, wo sein qualvolles Schreien bald verklang und Rauch aufstieg.

Trotz dieser grausigen Szene hatte Sophie nur Augen für das Mädchen auf dem Boden. Für das blondierte Mädchen mit den vertrauten Gesichtszügen. Mia!, durchfuhr es sie, und sie hatte das Bedürfnis, zu ihrer kleinen Schwester zu laufen, die so verloren mit flatternden Wimpern auf dem Boden kauerte.

»Du bist das Mädchen aus der Menschenwelt, habe ich recht?«, zischte die Lichtsammlerin. »Dann ist das also deine Schwester. Wenn du sie lebend zurückhaben willst, musst du dich für eine Seite entscheiden, Mädchen. Für die richtige.«

»Wer bist du überhaupt?« Wütend funkelte Sophie die Lichtsammlerin an und spürte, wie Jadwiga und Etienne sich hinter ihr anspannten.

»Ich bin die engste Vertraute der Hoheit. Aber das kann dir egal sein. Ich möchte bloß, dass du dich für unsere Seite entscheidest! Und zwar schnell! Mia, steh auf!«

Mit großen Augen beobachtete Sophie, wie Mia, die wirklich mager war, langsam aufstand. Als Mia ihre Augen öffnete, musste Adrian Sophie festhalten, damit diese nicht umkippte.

Ihre Augen!

Sophie musste fast würgen. Mias Augen waren leer, und der verschleierte Blick des Mädchens von eben lag darin.

»Was habt ihr mit ihr gemacht?!«, schrie Sophie und machte ein paar Schritte auf ihre Gegner zu.

Die Lichtsammler warfen kleine Feuerbälle auf sie, die jedoch einfach an ihr abprallten, um danach in der Luft zu verlöschen.

»Bleib stehen, wo du bist!«, befahl die Lichtsammlerin, die die Vertraute der Königin war.

Sophie blieb stehen.

»Ich habe nichts mit ihr gemacht. Das war der junge Mann von eben, der Schattendämon.«

»Lasst Mia in Ruhe! Ich habe sowieso nicht die besonderen Kräfte, die ihr von mir erhofft, und meine Schwester ist unschuldig.«

Adrian wollte schon einen Schritt auf sie zu machen, aber die Anführerinnen hielten ihn zurück.

»Ach, du hast gar keine Kräfte? Du bist einfach ein normales Mädchen, das Feuer abwehren kann?« Die Frau grinste böse. »Mehr hast du also nicht drauf?«

Sophie schwieg.

»Na dann … Mia, greif deine geliebte Schwester an und töte sie!«

Die Lichtsammlerin sagte das so genüsslich, so unglaublich schadenfroh, dass Sophie sich auf sie stürzen wollte.

Doch Mia kam ihr zuvor. Mit leerem Blick starrte sie Sophie an und hob dann ein Messer auf, das auf dem Boden lag.

»Nein! Mia, verdammt noch mal! Ich bin es, erkennst du mich denn nicht?«, schrie Sophie verzweifelt.

Während sie ihrer Schwester auswich, die sie gnadenlos umbringen wollte, kämpften Jadwiga, Etienne und Adrian gegen die anderen Lichtsammler.

Geschickt wich Sophie den Schlägen mit dem Messer aus und schubste Mia sogar einmal nach hinten. Sie wollte doch nicht gegen Mia kämpfen! Sie wollte sie retten.

Dann hörte sie einen Schrei. Ob es ihrer war oder der eines anderen, wusste Sophie nicht. Sie merkte bloß, wie sie über einen Stein stolperte und ihr Fuß sich dann in einer Wurzel verhedderte. Sophie fiel auf den Boden.

In dem Moment, als Mia sich auf sie stürzte, dachte Sophie, dass der Tod eines geliebten Menschen nicht das Schlimmste war, was einem passieren konnte. Das Schlimmste war, wenn ein Mensch, den man liebte, sich plötzlich gegen einen wendete.

Dann ging alles ganz schnell. Adrian tötete die Lichtsammlerin, die Mia auf Sophie gehetzt hatte, woraufhin Mia in sich zusammensackte.

Schluchzend rappelte Sophie sich auf und beugte sich hastig über Mia. »Mia, Mia! Was ist mit dir?«

Eine Hand drückte ganz sanft die von Sophie.

»Mia? Mia! Du lebst!«

»Sophie! Was ist passiert?«

Sophie umarmte erleichtert ihre kleine Schwester. Endlich waren sie wieder vereint!

»Sophie, ich möchte dich wirklich nicht stören, aber schau dir das mal an!« Etienne hielt drei runde, blutige Gegenstände in den Händen.

»Das sind Augen! Etienne, Jadwiga, das sind die Augen der Kinder!«, rief Sophie.

Ungläubig blickte Jadwiga auf die runden Augen in den Händen von Etienne. »Du hast recht! Du hast tatsächlich recht! Aber woher hatte diese Lichtsammlerin die Augen?«

»Kannst du ihre Seelen nicht mithilfe der Augen befreien? Du sagtest doch, dass du das kannst!«, meinte Sophie.

Jadwiga nickte und begann, abgehackte Bewegungen mit Beinen und Händen zu machen, bis sie schließlich in einen tiefen Trancezustand verfiel.

Sophie verspürte plötzlich heftige Kopfschmerzen. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie konnte sich nicht mehr von der Stelle bewegen. Hilflos musste sie mit ansehen, wie Schattendämonen herbeieilten und sie angriffen. Etienne warf sich noch beschützend vor ihre Freundin Jadwiga, doch beide Anführerinnen wurden von Pfeilen getroffen und sackten zu Boden. Adrian schrie Sophie verzweifelt an, hob Mia hoch und flüchtete.

Und dann sah Sophie nur noch eine Farbe: Rot.

Was passierte mit ihr? Diese Frage stellte Sophie sich wieder und wieder. Wo war sie, und was war sie?

Im Wald war sie auf jeden Fall nicht mehr, denn sie konnte die Szene nun aus der Vogelperspektive beobachten. Sie sah die blutüberströmten Körper von Etienne und Jadwiga auf dem Boden liegen und das Schlachtfeld, auf dem sich immer noch Lichtsammler und Schattendämonen befanden. Es dauerte nicht lange, bis sie die leuchtenden Gestalten erblickte, die von den Hügeln auf die kämpfenden Lichtsammler und Schattendämonen zuschwirrten. Und das in einem Mordstempo. Kalte Wesen!

»Endlich sehe ich wieder alles!«

Luca?! Was machte er hier? Und wo war er überhaupt? Sie konnte ihn nicht sehen, sondern nur hören.

»Sophie, ich danke dir für alles! Meine Seele wurde befreit und kann jetzt endlich Ruhe finden. Stella und Dharma sind schon dort, wo ich nun auch hingehe.«

Sophie wollte weinen und etwas sagen. Aber sie konnte nicht.

»Es tut mir sehr leid, dass Etienne und Jadwiga sterben, Sophie.

Bitte vergiss Stella, Dharma und mich nicht! … Ich hab dich lieb, Sophie!«

Dann verschwand Luca für immer. Sophie war sich dessen nicht bewusst gewesen, dass er ganz aus ihrem Leben verschwinden könnte. Aber es musste so wohl das Beste für ihn und die anderen verlorenen Kinder sein. Er wirkte zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, richtig glücklich. Sophie rief sich noch einmal den Jungen mit der dunklen Haut, der Stupsnase und den dünnen, braunen Haaren ins Gedächtnis.

Auf einmal fiel sie. Sie fiel und fiel, und der Boden kam immer näher.

Sophie riss die Augen auf und sprang ebenso schnell auf. Vor ihr lagen Jadwiga und Etienne. Beide starben. Sie starben zusammen.

Eine Träne tropfte auf den Boden vor Sophie, aber mehr Zeit hatte sie nicht, um zu trauern. Sie musste alle warnen!

So flink es mit ihrem schmerzenden Fuß möglich war, rannte sie aus dem Wald. Und was sie dann sah, verschlug ihr die Sprache.

Zam stand auf dem großen Ceus und gab Schattenkriegern und Lichtsammlern, die ganz plötzlich mit dem Kämpfen aufgehört hatten und nicht mehr auf ihre Könige hörten, Anweisungen.

Zam! Sophie war so glücklich, dass sie am liebsten zu ihm gerannt wäre.

Die Krieger arbeiteten zusammen, ja, sie kämpften paarweise gegen die kalten Wesen. Ein Lichtsammler musste sich ihnen nähern, und wenn die kalten Wesen eine Gestalt annahmen, stahl der Schattendämon ihren Schatten.

Schattendämonen und Lichtsammler.

Vereint.

Sie hatten es geschafft!

Bald wurde es Nacht, und beide Gruppen zogen sich zurück. Die kalten Wesen waren besiegt.

Hätten Jadwiga und Etienne das noch sehen können!, dachte Sophie betrübt. Sie wären so stolz gewesen und hätten bestimmt wieder irgendeine Weisheit von sich gegeben.

In den Dämmerungshöhlen wartete man schon auf die Rückkehr der Rebellen. Die Nachricht vom Tod der beiden Anführerinnen und weiterer sechsundachtzig Personen wurde traurig aufgenommen.

Sophie trauerte auch, war jedoch erleichtert, dass sie und ihre engsten Freunde mit dem Leben davongekommen waren – Mia, Adrian, Gila und Zam lebten!

Mia und Sophie hatten sich so viel zu erzählen, dass Tage vergingen, bis sie auch jede Kleinigkeit losgeworden waren. Mia war am Königshof der Schattendämonen gefangen gehalten worden und hatte dort als Sklavin arbeiten müssen. Sie hatte sich sehr verändert und freute sich über jede Scheibe Brot, nörgelte an nichts herum, und Sophie sah sie das erste Mal tagelang ungeschminkt und ungestylt herumlaufen.

Violetta und Warwara wurden zu den neuen Anführerinnen der Rebellen gewählt und hatten somit die Aufgabe, die Portale mit den Scherben aus Sophies Puppe zu verschließen. Die meisten Rebellen kehrten zuvor jedoch in ihre ehemalige Heimat zurück.

Auch Sophie wollte mit Mia in ihre Welt zurückkehren. Sie konnten Manfred und Yvonne, die bestimmt krank vor Sorge und Trauer waren, nicht länger leiden lassen. Adrian hatte beschlossen, mit ihnen zu gehen. Sven war hingegen fest entschlossen, bei Warwara zu bleiben, da er sie von Herzen liebte.

Der Abschied fiel Sophie unglaublich schwer. Zwar beschlossen Zam und sie, sich durch das geheime Portal im See zu besuchen, den Alltag würden sie jedoch nicht mehr miteinander teilen können.

Als der Tag der Abreise gekommen war, standen Sophie, Mia und Adrian zusammen mit Zam vor den Dämmerungshöhlen. Alle Rebellen, die noch da waren, hatten sich versammelt, um sie zu verabschieden.

»Liane hat dir ein paar Grämchen in deine Taschen gepackt«, flüsterte Solvej Sophie ins Ohr, als sie sie umarmte.

Ina und Noah weinten und waren kaum zu beruhigen. Sophie versprach ihnen, bei ihrem nächsten Besuch etwas Schönes aus ihrer Welt mitzubringen. Sie hatte die beiden Kinder wirklich sehr lieb gewonnen.

Estafania umarmte sie unbeholfen. »Du hast uns alle gerettet, Mädchen. Und dafür danke ich dir sehr. Ich werde in Zukunft bei meinen Visionen besser aufpassen, das verspreche ich dir.«

Edda drückte Sophie fest an sich. »Pass gut auf dich auf, ja?«

»Und immer zuerst auf die Hände schlagen, wenn du angegriffen wirst«, lachte Aloys und legte Sophie eine Hand auf die Schulter.

»Ja, wobei ich hoffe, erst einmal nicht mehr kämpfen zu müssen«, entgegnete Sophie. »Aber du warst der beste Lehrer, den man sich nur wünschen kann! Vielen Dank für alles!«

Sophie ging reihum und verabschiedete sich auch von den restlichen Rebellen – von Ramona, Liane, Eliza, Wera und Jupp, den drei Freunden Neele, Mads und Lino, von den Köchen Biggi und Jeip und deren Tochter Alessia, den blonden Brüdern Alphons und Kyle, Clement mit Xander auf dem Arm und seinen Geschwistern Ulin und Alla, von Andra, deren Lachen sie sicherlich vermissen würde.

»Du bist etwas Besonderes, Sophie«, murmelte Violetta und fing an zu weinen.

»Etwas ganz Besonderes«, bestätigte Warwara, und Akim und Sven nickten zustimmend.

Zuletzt drückte sie Gila und schenkte ihr eine Haarspange, die sie mithilfe der verlorenen Kinder in die Dämmerungshöhlen teleportiert hatte. »Für dich. Damit du ab und zu an mich denkst!«

Gila, die sonst ein eher raues Wesen hatte, liefen vor Rührung ein paar Tränen die Wangen hinab, und sie winkte ihnen lange nach.

An dem weißen, schäumenden See angekommen tauchten sie zu viert zu dem Spiegel hinab. Beim Übergang in die Menschenwelt sah Sophie nur Zams Gesicht vor sich, der sie an beiden Händen festhielt. Er küsste sie innig und verschwand wieder in seine Welt.

Als Sophie und Mia zu Hause ankamen, konnten Manfred und Yvonne kaum glauben, dass ihre Kinder nach mehr als drei Monaten endlich zurückgekehrt waren. Sie waren überglücklich. Sogar Yvonne umarmte Sophie innig und herzlich. Auch als Sophie und Mia abends in ihren Betten lagen, schauten die beiden immer wieder in ihre Zimmer, um sich zu vergewissern, dass die beiden Mädchen wirklich da waren.

Es war wunderschön, wieder zu Hause zu sein. Sophie und Mia genossen es, wieder unbesorgt in einem warmen Bett schlafen zu können und genug Essen zu haben.

In der Schule wurden sie als Helden gefeiert, vor allem Adrian, da Mia erzählte, er hätte sie gefunden und gerettet. Ob jemals jemand die wahre Geschichte herausfand? Außer Adrians Eltern, die natürlich sehr betrübt darüber waren, dass Adrian ohne seinen Bruder Sven zurückkam, erzählten sie niemandem etwas von den anderen Welten. Wer hätte ihnen schon geglaubt?

Sie berichteten lediglich von der alten Frau mit nur einem Auge, die sie entführt und festgehalten hätte.

Ein paar Tage später fand die Polizei dann tatsächlich die Frau tot in ihrem Haus. Nur Sophie, Mia und Adrian wussten, dass es sich bei ihr um die Sucherin gehandelt hatte.

Sophie vermisste die verlorenen Kinder in ihren Träumen sehr. Leider wusste sie zu wenig von ihnen, um ihre Familien finden zu können.

Jeden Tag vor dem Zubettgehen dachte Sophie sehnsüchtig nur an einen: Zam. Einmal im Monat traf sie sich mit Zam. Immer am vierundzwanzigsten. Ihrem Vater erzählte sie nicht, wo sie an diesen Tagen hinging, die sie in ihrem Kalender rot markiert hatte.

Immer wieder freute sie sich aufs Neue, wenn sie den Weg durch den Wald lief und den versteckten See mit der wunderschönen Lichtung erblickte.

Und ihr Herz begann immer wieder zu rasen, wenn sie Zam und sein wunderbares Lächeln sah.

Dieses Zahnlückenlächeln.