Witte
»H aben Sie sie hinausbegleitet, Witte?«
Am nächsten Morgen betritt Mr. Black die Küche in maßgeschneidertem Business-Anzug und perfekt gebundener Krawatte. Beides zählte vor meinem Erscheinen nicht unbedingt zu seinem gewohnten Kleidungsstil. Ich erst machte ihn mit den Feinheiten erstklassiger Couture für den Gentleman vertraut, und er lernte begierig.
Rein äußerlich erinnert kaum noch etwas an den eher grobschlächtigen jungen Mann, der mich vor sechs Jahren einstellte. In jenen Tagen, unmittelbar nach dem Verlust seiner Frau, bestand meine vorrangige Aufgabe darin, mich all jener anzunehmen, die mit Nachfragen und Beileidsbekundungen an ihn herantraten. Mit der Zeit nutzte er seinen grenzenlosen Schmerz dazu, sich in der Arbeit zu vergraben und nach Erfolg zu streben. Dies und seine außerordentliche Intelligenz brachten die Pharmafirma, die sein Vater durch Unterschlagungen in die Insolvenz getrieben hatte, wieder in Schwung.
Entgegen allen Erwartungen setzte er sich durch – und triumphierte.
Ich platziere den Frühstücksteller exakt zwischen dem Silberbesteck, das auf dem schwarzen Marmor der Kücheninsel bereits ausliegt. Rührei, Speck, frisches Obst – seine Grundnahrungsmittel. »Ja, Miss Ferrari ist gegangen, während Sie unter der Dusche waren.«
»Sie heißt Ferrari?«, erwidert er leicht verwundert. »Im Ernst?«
Ich bin nicht überrascht, dass er sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hat, bloß traurig. Wer die Frauen sind, bedeutet ihm nicht das Geringste. Nur, dass sie ihn an Lily erinnern.
Zeichen aufrichtiger Zuneigung gegenüber einer Frau habe ich bei ihm noch nie erlebt – von seiner Schwester Rosana einmal abgesehen. Er ist stets höflich, ja sogar charmant, wo es die Umwerbung erfordert. Aber jede Affäre bleibt auf eine einzige Nacht beschränkt. Nie hat er einer dieser Damen Blumen geschickt, sich zu einem weiteren telefonischen Kontakt hinreißen lassen oder sie gar zum Essen ausgeführt. So weiß ich nicht mal, wie er sich in einer wirklich engen Beziehung einer Partnerin gegenüber verhält, und werde diese Wissenslücke wohl auch nie schließen können.
Er greift nach dem Kaffee, den ich ihm gerade serviert habe, und geht in Gedanken offenkundig die Termine des heutigen Tages durch. Seine letzte Affäre ist bereits für immer aus seinem Kopf getilgt. Er schläft wenig und arbeitet zu viel. Neben seinen Mundwinkeln zeichnen sich tiefe Furchen ab, die bei einem Mann seines Alters nicht vorhanden sein sollten. Ich habe ihn lächeln sehen und auch schon lachen gehört, aber nie hat die Fröhlichkeit seine Augen erreicht. Er durchleidet das Leben. Wirklich leben tut er es nicht.
Ich habe ihn gedrängt, sich die Zeit zu nehmen und das Erreichte auch zu genießen. Doch er sagt nur, dass er das Leben erst richtig genießen könne, wenn er tot sei. Sein einzig wahres Ziel bestehe darin, mit Lily wiedervereint zu sein. Alles andere diene bloß dazu, sich die Zeit bis dahin irgendwie zu vertreiben.
»Das mit der Party gestern Abend haben Sie super gemacht, Witte«, sagt er geistesabwesend. »Natürlich leisten Sie immer hervorragende Arbeit, aber dennoch … Es schadet ja bestimmt nicht, wenn ich hin und wieder erwähne, wie sehr ich Ihre Dienste zu schätzen weiß, oder?«
»Nein. Vielen Dank.«
Ich lasse ihn in Ruhe frühstücken und die Zeitung lesen und gehe an den Spiegelwänden vorbei den langen Flur hinunter in den privaten Flügel der Wohnung, der für Gäste grundsätzlich tabu ist. Die hübsche Miss Ferrari hat die Nacht in einem Schlafzimmer am anderen Ende des Penthouse verbracht, in einem klinisch weiß und steril gehaltenen Studio, dessen Einrichtung betont krass vom Rest der Wohnung abweicht. Lily hätten die Räumlichkeiten mit Sicherheit nicht gefallen, und gerade diese Tatsache sollte offenbar garantieren, dass ihr Geist diesen Ort meidet und nichts mitbekommt.
Gekauft hat Mr. Black das Penthouse kurz nach meiner Anstellung, als das ganze Hochhaus noch im Bau war. Obwohl er den Innenausbau die ganze Zeit persönlich überwachte und sich von der Lage der Wände und Türen bis zur Auswahl der Materialien um alles kümmerte, ist mir unklar, ob die Räume tatsächlich seinen eigenen Geschmack widerspiegeln. Denn jedes Möbelstück und jedes Wohnaccessoire wurde unter dem Gesichtspunkt ausgesucht, ob es Lily gefallen hätte. Er wollte keinen Neubeginn, frei von allen Erinnerungen an sie. Er wollte bloß ein Zuhause mitten in der Stadt, und er sorgte dafür, dass seine verstorbene Frau darin anwesend war. Überall finden sich Anspielungen, fast alles erinnert an sie. Weshalb ich auch irgendwie das Gefühl habe, sie zu kennen.
Elegant. Leidenschaftlich. Sinnlich. Dunkel, immer dunkel.
In der Tür zu Mr. Blacks Schlafzimmer bleibe ich stehen und spüre die Feuchtigkeit, die vom Duschen noch in der Luft hängt. Die Privaträume für Hausherrin und Hausherr nehmen einen kompletten Flügel der Wohnung ein. An beide Schlafzimmer schließen sich Ankleideräume und identisch geflieste Marmorbäder an, außerdem steht ein gemeinsamer Wohnbereich zur Verfügung.
Vom Bett der Hausherrin aus reicht der Blick entweder über die Billionaire’s Row genannte Hochhauszeile am südlichen Ende des Central Park bis zum Hudson oder zur Rechten über Lower Manhattan hinweg. Morgens taucht die Sonne den üppig ausgestatteten und extravagant möblierten Raum in feuriges Licht, wärmen ihre Strahlen die düstere Unterwasserstimmung, zu der auch die opulenten Blumensträuße beitragen, die ich auf Bitten meines Arbeitgebers ständig erneuere. Stets ist hier alles für sie gerichtet, in Erwartung einer Frau, die schon nicht mehr am Leben war, als das alles für sie geschaffen wurde. Und wie um Lily davon zu überzeugen, dass dies wirklich ihr Reich ist, findet sich ihr Monogramm LRB auf allem und jedem eingraviert oder eingestickt. Schränke und Schubladen quellen von ihren Kleidungsstücken über. Selbst in ihrem privaten Badezimmer fehlt nicht das kleinste Utensil.
Natürlich sollte man annehmen, dass der Glanz dieser Räume vom trostlosen Widerhall der Leere getrübt würde, doch erstaunlicherweise wohnt ihnen eine sonderbare Energie inne, eine Art Vorbote von Leben.
Lily ist anwesend. Zwar nicht zu sehen, aber zu spüren.
Die Suite des Hausherrn wirkt im Vergleich dazu eher karg. Mr. Black schläft auf einem schmalen Podest, dessen schlichte Funktionalität einzig dazu dient, keinerlei Ablenkungen von der riesigen Fotografie auf der gegenüberliegenden Wand zuzulassen, die er unwillkürlich betrachtet, wenn er abends seinen Kopf auf das Kissen legt. Stilisierte Lilien schmücken die Griffe seiner Schubladen ebenso wie seine Bettwäsche. Früher bot sich New York ihm zu Füßen wie ein Geschenk dar, aber dann drehte er das Bett um, sodass nun der Ausblick hinter ihm ist und Lilys Foto dafür direkt vor ihm. Die Entscheidung ist ein Sinnbild für die Art und Weise, wie er sein Leben lebt: gleichgültig der Welt gegenüber und im Bann einer Frau, die längst tot ist.
So beschließt Mr. Black jeden seiner Tage mit Lily. Abends ist ihr Porträt das Letzte, was er sieht, und morgens das Erste, worauf sein Blick fällt. Allerdings wirkt sein Schlafzimmer im Unterschied zu ihrem wie eine Grabkammer – kühl, gespenstisch still und bar aller Lebenszeichen.
Ich wende mich von der Aussicht auf den Central Park ab und kann nicht anders, als das Bild dieser Frau zu betrachten, deren ewig währende Vollkommenheit niemanden unberührt lässt. Es ist eine sehr intime, natürliche Aufnahme. Eine lebensgroße Lily rekelt sich auf einem zerwühlten Bett, der Körper von einem weißen Laken eingehüllt, die schlanken Finger im langen schwarzen Haar vergraben. Ihre Lippen sind vom Küssen geschwollen, ihre Wangen gerötet, die Augen unter den schweren Lidern leuchten vor Verlangen und Besitzgier. Abgehoben vom Aschgrau der Wand hinter ihr, lockt sie sirenenhaft – mit einem Gesang voller Schönheit, manischer Leidenschaft und Vernichtungskraft.
Schon oft habe ich sie so angestarrt, fasziniert von der Makellosigkeit ihrer Züge und der machtvollen Ausstrahlung ihrer Sinnlichkeit. Bei manchen Frauen genügt bereits ihre bloße Existenz, dass die Männer ihnen ins Netz gehen.
Sie war noch so jung, gerade mal Anfang zwanzig, dennoch hat sie auf jeden, der ihr begegnet ist, einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Und ihr Ehemann leidet seit ihrem Tod Höllenqualen, gepeinigt von Zweifel, Schuld und zermürbenden Fragen … deren Antworten sie mit in ihr nasses Grab genommen hat.