Witte
W ährend ich den Range Rover in den Verkehr einfädele, gibt Mr. Black knappe Anweisungen über sein Handy. Es ist gerade mal acht Uhr morgens, und schon ist er hoch konzentriert damit beschäftigt, die vielen Aspekte seines wachsenden Imperiums zu managen.
Um uns herum vibriert Manhattan, brausen die Fluten an Autos und Menschen in sämtliche Richtungen. An manchen Ecken türmen sich Müllbeutel hüfthoch am Bordstein und warten darauf, aufgesammelt zu werden. In meinen ersten Tagen in New York fand ich diesen Anblick abstoßend, doch inzwischen gehört er auch für mich einfach zum Gesamtbild dazu.
Mittlerweile habe ich an dieser Stadt, die so ganz anders ist als die weite grüne Hügellandschaft meiner Heimat, Gefallen gefunden. Hier gibt es nichts, was es nicht gibt, und die Energie ihrer Bewohner, deren Facettenreichtum und Vielschichtigkeit, ist wirklich einzigartig.
Mein Blick pendelt kontinuierlich zwischen Verkehr und Fußgängern. Vor uns blockiert ein Lieferwagen eine Einbahnstraße. Links auf dem Bürgersteig dirigiert ein bärtiger Mann routiniert ein halbes Dutzend Hunde, das beim morgendlichen Spaziergang aufgeregt an den Leinen zerrt. Und zu meiner Rechten schiebt eine Mutter im Sportoutfit einen Babyjogger eilig Richtung Park. Zwar scheint die Sonne, aber das meiste Licht wird von den weit in den Himmel ragenden Gebäuden und den dicht belaubten Bäumen abgeblockt.
Der Verkehr stockt beharrlich.
Derweil lenkt Mr. Black mit souveräner Lässigkeit weiter seine Geschäfte. Seine Stimme ist ruhig und bestimmt. Langsam setzen sich die Autos wieder in Bewegung, nehmen dann aber unvermittelt Tempo auf. Eine Weile erleben wir das seltene Glück, eine grüne Welle zu haben, und nähern uns zügig Downtown Manhattan. Doch kurz vor unserem Ziel reißt die Glückssträhne ab, und eine rote Ampel zwingt mich zum Anhalten.
Dichte Fußgängerpulks kreuzen vor unserem Wagen. Die meisten Menschen laufen mit gesenkten Köpfen, und einige versuchen offenbar, sich mit Ohrhörern ein wenig Erholung von dem belastenden Lärm der pulsierenden Metropole zu verschaffen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr, um sicherzugehen, dass wir nicht zu spät kommen.
Plötzlich höre ich einen schmerzerfüllten Laut, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Das halb erstickte Stöhnen klingt äußerst befremdlich. Ich schnelle herum und starre erschrocken zum Rücksitz.
Mr. Black sitzt vollkommen reglos da und spricht kein Wort, die Augen schwarz wie Kohle, das Gesicht blutleer. Sein Blick folgt den vorbeiströmenden Fußgängern. Suchend schaue ich in dieselbe Richtung.
Eine bildschöne Schwarzhaarige eilt zur anderen Straßenseite. Ihr glattes Haar ist zu einem kurzen Bob geschnitten, der bis zu ihrer markanten Kinnpartie schwingt. Mit der üppigen Mähne von Lily hat das zwar nicht die geringste Ähnlichkeit, aber als die Frau sich auf dem Bürgersteig um neunzig Grad dreht, könnten es tatsächlich ihre so unvergleichlichen Gesichtszüge sein.
Hinter mir wird die Wagentür aufgerissen. Ein Taxifahrer brüllt wüste Obszönitäten aus seinem geöffneten Fenster.
»Lily!«
Dass mein Arbeitgeber es auf einmal über sich bringt, den Namen seiner Frau laut zu rufen, lässt mich zusammenfahren wie bei einem Pistolenschuss. Meine Lunge erstarrt.
Sie dreht den Kopf in unsere Richtung, gerät ins Stolpern, bleibt wie gelähmt stehen.
Die Ähnlichkeit ist frappierend. Unheimlich. Nicht zu begreifen.
Mr. Black stürzt aus dem Wagen, und im selben Moment springt die Ampel auf Grün. Er reagiert instinkthaft, ich dagegen bin in meiner Verwirrung erst einmal zu keiner Aktion fähig. Ich weiß nur, dass mein Arbeitgeber gerade im Adrenalinrausch da draußen herumrast und ich hier hinter dem Lenkrad des Range Rover feststecke, während der geballte Zorn der New Yorker Pendlermassen von allen Seiten auf mich einprasselt.
Ihre Wangen, die sowieso schon bleich wie Porzellan sind, verlieren jeden Rest an Farbe. Ich kann sehen, dass ihre vollen roten Lippen einen Namen formen: Kane .
Das entsetzte Wiedererkennen wirkt ebenso intim wie unmissverständlich.
Unverkennbar aber auch ist die Angst, die darin liegt.
Nach einem flüchtigen Seitenblick auf den Verkehr jagt Mr. Black mit kraftvollen Sätzen zwischen den anfahrenden Autos hindurch. Das Hupkonzert schwillt zum Orkan an.
Der ohrenbetäubende Lärm scheint sie aus ihrer Lähmung zu reißen. Im Laufschritt bahnt sie sich einen Weg durch das dichte Gewühl der Fußgänger, aus dem ihr smaragdgrünes Kleid immer wieder heraussticht.
Mein Arbeitgeber, ein Mann, der für gewöhnlich bekommt, was er will, ohne dafür etwas tun zu müssen, sprintet los, doch eine schwarze Limousine nähert sich mit überhöhter Geschwindigkeit und erreicht sie vor ihm.
Eben noch war Lily ein sausender grüner Fleck im trostlosen Grau des Großstadtdschungels. Doch einen Wimpernschlag später bildet sie eine funkelnd glänzende Lache auf dem dreckigen New Yorker Asphalt.