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Aliyah

»V irtuelle Bearbeitungen begegnen uns überall, und wir haben dieses Tool mit einer Reihe von Filtern optimiert.« Ryan Landon drückt auf einen Knopf der Fernbedienung in seiner Hand, und das Foto von Rosana verwandelt sich sofort von hell ausgeleuchtet zu dunkel und geheimnisvoll. »Durch die Option, unmittelbar zu überprüfen, wie die jeweilige Auswahl bei Tageslicht, Kerzenschein, mehrfarbiger Klubbeleuchtung, bei Neonröhren oder LED , bei bewölktem Himmel oder strahlendem Sonnenschein und unter zahllosen anderen Bedingungen aussehen würde, steigern wir die Variationsmöglichkeiten für unsere Kundinnen erheblich.«

»Und da wir individualisierte Schminkpaletten anbieten, können sie sich ihr ganz persönliches Kit für Arbeit und Feierabend oder für Trauung und Hochzeitsfeier zusammenstellen«, ergänzt Eva Cross lächelnd.

»Die Kombinationsmöglichkeiten sind endlos!«, ruft Rosana begeistert aus.

Ryan lächelt, und alle im Raum sind entzückt. Kanes engster Freund ist ein gut aussehender Mann mit dunklen Locken und braunen Augen. Die beiden kennen sich schon seit dem College. Eigentlich ist Ryans Firma LanCorp eher für Videospiele bekannt, aber Kane wollte sie und keine andere, als jemand gesucht wurde, um eine App zur neuen Kosmetiklinie zu entwickeln.

Eva hatte sich gegen Ryan ausgesprochen. Rosana ebenso. Immerhin gilt Evas Unternehmen Cross Industries, das ihr Ehemann Gideon aufgebaut hatte, als Schwergewicht in der Branche und verfügt dank seiner immensen Größe über weit mehr Ressourcen als LanCorp. Viele Stimmen bei Baharan schlossen sich dieser Meinung an.

Doch wir bestanden auf Ryan und setzten uns am Ende durch, was auch eine Retourkutsche für den von den Crosses erzwungenen strengen Ethikcode war. Zwar sind solche Klauseln in Kooperationsverträgen nichts Ungewöhnliches, aber die Wortwahl ist in diesem Fall schlicht vorverurteilend. Pauls Unzuverlässigkeit klingt darin ebenso unmissverständlich durch wie das, was sie von meiner Familie und von der Art, wie ich meine Kinder erzogen habe, halten. Ob nun begründet oder unbegründet, jedenfalls ärgerte mich die Sache dermaßen, dass ich Ryan ins Spiel brachte, um es Gideon und Eva damit heimzuzahlen. Außerdem garantiert uns sein Mitwirken, dass die federführende Kraft in diesem Projekt dazu neigen wird, den Einfluss der Crosses zu minimieren und unseren zu maximieren.

Schon im Namen ECRA + rangieren Evas Initialen an erster Stelle: EvaCrossRosanaArmand. Das Pluszeichen steht für den entscheidenden Beitrag von Baharan, dank deren erstklassiger Grundsubstanzen Alltagskosmetika auf das Niveau von Seren und Elixieren angehoben werden. Eva mag aktuell der große Liebling der Medien sein, und natürlich bringt sie auch eine Menge Kapital ein, aber das ist dennoch längst nicht so maßgeblich wie die Forschungsleistungen, die Baharan zu dieser Partnerschaft beisteuert. Und auch wenn die Idee, in den Markt für Schönheitsprodukte zu expandieren und Eva mit ins Boot zu holen, ursprünglich von Kane stammte, so bin doch ich diejenige, die den Erfolg dieser Kooperation bis ins kleinste Detail ständig überwacht. Ryan ist inzwischen Anteilseigner bei Baharan, verzichtet allerdings darauf, Vorstandsmitglied zu sein, weil er in seiner eigenen Firma viel zu eingespannt ist.

Ich versuche, das ungute Gefühl zu vertreiben, und konzentriere mich auf Amy und Lily. Beide Schwiegertöchter sind Unsicherheitsfaktoren. Jede von ihnen könnte für die Erschütterung sorgen, die das von uns so sorgsam aufgebaute Kartenhaus zum Einsturz bringt.

Ryan schaut mich fragend an, und ich nicke. In seiner Begleitung sind etwa ein halbes Dutzend Angestellte, die hinter den Kulissen die technische Umsetzung für die App verantworten. Unter normalen Umständen würde Ryan es ihnen überlassen, eine solche Präsentation zu leiten.

»Hervorragende Idee«, schwärme ich. »Exzellent implementiert.«

»Vielen Dank«, antwortet er. »Nun, viele Ihrer Kundinnen werden ihre Kaufentscheidungen danach treffen, wie die Farbtöne bei Rosana und Eva aussehen.« Er drückt auf die Fernbedienung, und die Side-by-Side-Porträts der beiden wechseln erneut. »Ein kurzes Tippen auf ihr Display genügt, und die Anwenderinnen der App erleben die unterschiedlichsten Kombinationen.«

»Es ist sicher lustig, den Anwenderinnen zu erlauben, uns selbst zu schminken«, sagt Eva und fügt mit einem unterdrückten Lachen hinzu: »Das kann allerdings auch zu verdammt unvorteilhaften Ergebnissen führen, die keiner will.«

»Auch daran haben wir gedacht«, versichert Ryan ihr. »Sobald eine Anwenderin versucht, einer von Ihnen beiden ganz bewusst ein unvorteilhaftes Aussehen zu verpassen, etwa so« – er demonstriert eine Kombination –, »schaltet die App automatisch zur Standardeinstellung mit ungeschminkten Fotos von Ihnen zurück. Und wenn die Skincare-Linie von ECRA + auf den Markt kommt, werden wir diese Produkte ebenfalls in die Standardeinstellung integrieren.«

»Wow, das ist ja fantastisch!«, jubelt Rosana begeistert.

»Und dieser Algorithmus ist auf jede von Ihnen individuell zugeschnitten. Denn manche Kombinationen mögen bei Eva unvorteilhaft wirken, während sie bei Rosana der Hammer sind, und umgekehrt. Sehen Sie?«

Die Fotoserie wechselt zwischen Aufnahmen der beiden Gesichter, und Eva meint nickend: »Sehr eindrucksvoll.«

»Sie dürfen nicht vergessen, dass wir überall auch thematische Beispielfotos von Ihnen bereitstellen und darüber hinaus fünfzig von Ihnen ausgewählte Models andere Hautfarben, ethnische Merkmale und Altersgruppen repräsentieren. Letztere Option war übrigens bei uns im Haus der Hit. Mir war gar nicht bewusst, wie stark grauhaarige Kundinnen im Schönheitsbereich übersehen werden. Da gibt es eine echte Marktlücke, und genau die werden Sie füllen.«

»So war es gedacht«, sagt Eva, gibt sich aber noch nicht zufrieden. »Wer hat denn eigentlich darüber entschieden, was bei uns jeweils gut aussieht und was nicht?«

»Wir haben unserem hauseigenen Team aus Ästhetikspezialisten, das auch bei der Gestaltung unserer Avatare hilft, alle denkbaren Variationen vorgespielt.«

»Für den Anfang nicht schlecht«, erklärt sie ruhig. »Aber ich würde mir all diese denkbaren Variationen lieber selbst noch einmal ansehen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Natürlich nicht. Ihr Bild ist Ihre Marke, das verstehen wir. Sie werden beide an der Testphase beteiligt und haben uneingeschränkten Zugang zu allen Funktionen. Sie werden sämtliche Kombinationen sehen, die von uns zur Streichung ausgewählt wurden, und können diese Liste nach Belieben erweitern oder kürzen.« Ryans Lächeln bleibt unverändert, doch er fixiert Eva nun sichtbar intensiver. »Allerdings ist unsere Software Firmengeheimnis, daher müssen wir Sie bitten, die App vor Ort zu testen.«

»Das ist aber höchst unbequem. Und angesichts der vielen denkbaren Kombinationen außerdem vermutlich äußerst zeitintensiv.«

»Es handelt sich um eine unerlässliche Vorsichtsmaßnahme, die letztlich uns beiden als Schutz dient.«

Ein unbedarfter Beobachter hätte aus der Eindringlichkeit, mit der er sie mustert, womöglich geschlossen, dass er scharf auf Eva ist. Immerhin ist das blonde Geschöpf mit den tiefgrauen Augen ja auch eine attraktive Frau. Klein, schlank und von der Figur her genau im Trend liegend: voller Busen, schmale Taille und ausgeprägt runder Po. Ob diese Kurven allerdings alle so echt sind wie ihre Haarfarbe, bezweifle ich. Eva verströmt darüber hinaus eine ungeheure Sinnlichkeit – jede ihrer Bewegungen, das lustvolle Lachen und dazu diese tiefe kehlige Stimme. Alles in allem wirklich ein bisschen zu viel des Guten.

Aber Ryan ist glücklich verheiratet. Was zwischen ihm und Eva Cross köchelt, ist Feindschaft.

Es macht so viel Spaß zu sehen, wie die beiden zusammenarbeiten.

»Wir wollen Userinnen jedoch nicht dazu verleiten, endlos mit Bildern von Ihnen herumzuspielen«, fährt er fort. »Wir wollen, dass sie kaufen, daher fordert die App sie nach jeweils drei Kombinationen auf, ein eigenes Foto hochzuladen, um damit zu experimentieren. Wie das funktioniert, sehen Sie hier.« Er studiert die erste Reaktion der beiden und schaut dann zu mir. Eva und Rosana mögen zwar die Gesichter von ECRA + sein, doch Ryan ist clever genug, um zu verstehen, dass ich der entscheidende Machtfaktor hinter meiner Tochter bin. Rosana macht stets, wozu ich ihr rate.

»Sobald sie der Aufforderung folgen, geben wir ihnen eine detaillierte Anleitung für das Hochladen der Selfies«, erklärt er weiter. »Anschließend führt die Software ihnen kurz die Bearbeitungstools vor. Bei ihren eigenen Fotos können sie alle denkbaren Optionen wählen. Da sind keine Grenzen gesetzt.«

»Sie haben ja wirklich an alles gedacht!«, schwärmt Rosana erneut und hüpft vor Begeisterung auf dem Polster einer meiner türkisfarbenen Ledersessel.

Farblich ist mein Büro in Strandtönen gehalten – blaugrün, taupe und cremeweiß –, die Inneneinrichtung entspricht dem Mid-Century-Stil. Getäfelte Wände und Vintage-Möbel entschärfen das ansonsten ausgesprochen moderne Bürodesign. Erweckt wird ein eher maskuliner Eindruck, was Besucher eben genug irritiert, um mir einen Vorteil zu verschaffen. Zudem streicht es so meine Weiblichkeit nur noch mehr heraus, was nie schaden kann.

Ein Sofa gibt es nicht. Die Innenarchitektin hatte sogar zwei empfohlen mit dem Argument, einzelne Sitzgelegenheiten würden leicht die klare Ordnung stören. Von Einrichtungsfragen verstand sie etwas, aber nicht von mir. Allein von der Vorstellung, in meinem Büro ein Möbelstück zu haben, auf dem man sich gemütlich ausstrecken kann, bekomme ich Schüttelfrost.

Der Himmel verdunkelt sich, und erste Tropfen schlagen gegen die Fenster.

»Wir glauben, schon«, stimmt Ryan ihr zu. »Aber man kann nie vorsichtig genug sein. Nachdem wir die Betaversion monatelang selbst getestet haben, wäre jetzt der Moment, in dem Sie beide die Sache ausprobieren sollten. Sobald Sie dann Ihr Einverständnis signalisieren, werden wir ein Soft-Launch innerhalb der Influencerszene durchführen, die uns auch in der Entwicklungsphase beraten hat. Dann verarbeiten wir noch einmal deren Feedback und schalten das Ganze komplett frei.«

»Bleiben wir damit im Zeitplan?«, frage ich. Da alle möglichen Promis derzeit laufend neue Kosmetiklinien auf den Markt bringen, wird der Konkurrenzdruck von Tag zu Tag stärker.

»Das hängt davon ab, wie lange es dauert, bis uns Ihre Einschätzung vorliegt, und als wie aufwendig sich die Berücksichtigung etwaig gewünschter Änderungen erweist.«

»Ich bin jetzt schon hin und weg«, erklärt meine Tochter mit strahlendem Gesicht und drückt vor Glück Evas Hand.

Ich seufze innerlich. Sie hatte noch zu wenige Rückschläge erleben müssen, um misstrauisch zu sein. Ihr fehlt die Fähigkeit, sich abzeichnende Konflikte, unterschwellige Differenzen oder gegenläufige Zukunftspläne zu erkennen. Ich hätte ihr in jungen Jahren mehr Hürden in den Weg legen sollen, wie ich es bei ihren Brüdern getan habe. Aber dann begann Kanes Wiederaufbau von Baharan, Wellen zu schlagen – und Profit abzuwerfen –, und ich musste meinem Ältesten zur Seite stehen, um dafür zu sorgen, dass die Firma als Familienunternehmen geführt wird. Auf gar keinen Fall durfte ich riskieren, Baharan ein zweites Mal zu verlieren.

Daher neigt Rosana zu naivem Optimismus. Eva macht zwar einen ähnlich zuversichtlichen Eindruck, steht jedoch unter dem Schutz dieses Raubtiers, das sie geheiratet hat.

Ich muss Rosana einfach härter rannehmen. Auch wenn bislang meine Versuche, bei ihr heimlich die Saat eines gesunden Misstrauens zu säen, keine Früchte getragen haben, werde ich nicht aufgeben. Eine gute Mutter bewahrt ihre Kinder nicht vor Schaden, sie wirft sie lieber ins Schlachtgetümmel, damit die davongetragenen Narben ihnen ein Schutzpanzer sind.

Ein grelles Leuchten schreckt mich auf und lenkt meine Aufmerksamkeit auf das Gewitter draußen. Mächtig aufgewühlte graue Wolkenberge verdecken jeden Sonnenstrahl und tauchen die Stadt in trübes Dämmerlicht. Es ist erst Mittag, wirkt aber wie viel später am Tag.

Ich wende mich zurück zur Präsentation und bemerke, dass mein stumm geschaltetes Handy eine WhatsApp anzeigt. Ich lege den Daumen auf den Fingerabdruckscanner, und die Nachricht erscheint:

Sie ist wach.