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Witte

I ch warte bei der jungen Mrs. Armand, bis sie benommen und mit leerem Blick in den Aufzug steigt. Bevor die Türen sich schließen, beginnt sie, aufgeregt in ihrer Handtasche zu kramen. Kein Abschiedsgruß, kein letztes Aufsehen.

Ich nicke im Vorbeigehen den beiden Sicherheitsleuten am Penthouse-Eingang zu und schließe geräuschlos die Tür. Endlich unbeobachtet, kann ich offen zeigen, wie tief mich das eben Erlebte erschüttert hat.

Mir will es einfach nicht gelingen, die Frau, die im Herzen von Midtown vor Mr. Black weggerannt ist, mit der Ehefrau unter einen Hut zu bringen, die sich gerade im Schlafzimmer so liebevoll an ihn klammert. Die Reaktionen sind derart konträr, was überhaupt nicht zusammenpasst.

Ich verdränge mein Unbehagen und kehre durch den langen verspiegelten Flur zu Mrs. Blacks Schlafzimmer zurück. Inzwischen hat mein Arbeitgeber ganz hinten in der dunkelsten Ecke Position bezogen, von wo aus er die beiden Frauen, die sich in gedämpftem Ton unterhalten, derart aufmerksam fixiert, dass er mein Kommen überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt. Breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen steht er da und starrt. Gebieterisch. Aggressiv. Unmittelbar hinter der Ärztin hält der Pfleger Frank sich bereit, bei Bedarf zu helfen. Dank meiner langjährigen Erfahrung bereitet es mir keine Probleme, diskret mit der Umgebung zu verschmelzen.

Dr. Hamid bewegt ihren ausgestreckten Zeigefinger von einer Seite zur anderen, und Lilys Blick folgt ihm. Es wirkt irritierend, dass Mrs. Black mit so viel Sorgfalt zurechtgemacht ist, fast als wäre sie gerade aus einem kurzen Mittagsschlaf erwacht und nicht aus wochenlanger Bewusstlosigkeit.

Sie ist ohne Frage das atemberaubendste Geschöpf, das mir in meinem Leben je begegnet ist. Das Foto, das Mr. Black so liebt, zeigt nur eine dürftige Ahnung der Dynamik, die das Original ausstrahlt.

Abgesehen von ihrer umwerfenden Schönheit, beeindruckt die beinahe schon beängstigende Selbstbeherrschung, mit der Lily auf eine Situation reagiert, die so ziemlich jeden in Angst und Schrecken versetzen würde. Sie erwacht an einem ihr unvertrauten Ort, inmitten ihr nicht bekannter Personen, und selbst ihr Ehemann muss ihr doch wie ein Fremder vorkommen, wenn man die Länge ihrer Trennung und sein dramatisch verändertes Erscheinungsbild bedenkt. Dennoch kam der einzige Entsetzensschrei, der zu hören war, von der jungen Mrs. Armand.

»Wie viele Finger sehen Sie?«, fragt die Ärztin.

»Zwei.«

»Und jetzt?«

»Noch immer zwei. Wo bin ich?«

»Zu Hause. Können Sie mir Ihren Namen nennen?«

»Lily Rebecca Yates. Wessen Zuhause?« Sie sieht zu Mr. Black. »Kane …?«

»Unseres«, brummt er schroff.

Ein überraschter Ausdruck huscht über ihr Gesicht, in ihren Augen schimmern Tränen. »Unseres«, wiederholt sie kaum hörbar.

Genau wie ich hat Dr. Hamid gestockt, als Lily ihren Mädchennamen nannte. Verblüfft bin ich auch über ihre Stimme. Ihrem Aussehen entsprechend, hatte ich den rauchigen Klang nach zu viel Zigaretten und Scotch erwartet. Stattdessen spricht sie mit hoher, mädchenhafter Stimme, in der nur eine winzige Spur Rauheit mitschwingt. Ich habe so etwas noch nie gehört, finde es aber erstaunlich fesselnd. Ich möchte ihr gern länger zuhören, um die verschiedenen Nuancen dieser Stimme, die entzückt, obwohl sie doch eigentlich unangenehm sein sollte, herausfiltern zu können.

»Geben Sie immer Ihren Mädchennamen an?«, fragt die Ärztin.

Nach einem schier endlosen Wimpernschlag hebt Lily die linke Hand und betrachtete den Ring an ihrem Finger. Sie schluckt sichtbar und antwortet dann: »Ich bin nicht verheiratet.«

Ein tiefes Knurren entfährt der Brust meines Arbeitgebers.

»Schon okay«, erklärt Dr. Hamid entschieden. »Es gibt keine falschen Antworten. Wie alt sind Sie, Lily?«

»Siebenundzwanzig.«

Mr. Black erstarrt neben mir. Die Ärztin wirft Frank einen kurzen fragenden Blick zu, woraufhin dieser nickt.

Die Ärztin rutscht von der Bettkante etwas weiter auf die Matratze. »Erinnern Sie sich an den Unfall?«, fragt sie.

»Unfall?«

»Sie sind vor ungefähr einem Monat von einem Auto angefahren worden.«

Lily bleibt eine ganze Weile viel zu still. »Welches Datum haben wir?«, fragt sie schließlich.

Die Ärztin antwortet, dreht sich zu Frank, und ich kann ihren Gesichtsausdruck sehen. Die vollen Lippen sind aufeinandergepresst, die Stirn gerunzelt. Alle Blicke wandern zu Mr. Black. Er ist aschfahl und derart angespannt, dass die Luft um ihn herum förmlich zu vibrieren scheint.

Auch Lily betrachtet ihn. Dann streckt sie ihrem Ehemann ihre zitternde Hand entgegen, und der ungeheuer wertvolle Edelstein an ihrem Finger, der im Sonnenlicht denselben Grünton hat wie ihre Augen, leuchtet hier im Zimmer im tiefsten Purpur. »Kane …«

Eine grauenhaft lange Minute verharrt er ohne eine Regung. Endlich sinken seine Arme herab, und er macht ruckartig einen Schritt vor, als wäre die Verlockung einfach zu groß, um ihr zu widerstehen.

Fassungslos verfolge ich dann, wie er abrupt umschwenkt und mit langen Schritten aus dem Zimmer stürmt.