Lily
D er Mann, den ich am Strand von Greenwich kennenlernte, und der Mann, der du jetzt bist, sind nicht dieselben. Das war offensichtlich in dem Augenblick, als ich im Krankenhaus erwachte. Du bist ein ganz anderer Mensch geworden. Mächtig. Autorität ausstrahlend. Niemandem Rechenschaft schuldig. Du wohnst hoch über dem Rest der Bevölkerung, in der Spitze eines Turms, der als höchstes Wohngebäude der Erde gilt.
In dir laufen alle Drähte deiner Welt zusammen.
Ich schlendere betont ungezwungen in den Raum, so als hätte ich gar nicht gelauscht, seit du deine Familie begrüßt hast.
Schwarze maßgefertigte Regalreihen voller farbenprächtiger Bände nehmen die Seitenwände der Bibliothek ein, an beiden Enden verbunden von riesigen Fensterfronten, die einen Ausblick auf den Central Park beziehungsweise auf das Empire State Building bieten. Auf dem Weg zu dir fällt mir über dem in Calacatta-Marmor eingefassten Kamin die große Fotografie eines nackten Frauenrückens auf. Von der Hüfte des schlanken Models rankt sich ein außergewöhnliches Tattoo die blasse Haut bis zur Schulter hinauf: ein Phoenix, der aus Flammen emporsteigt. Auch in diesem Raum gibt es Blacklist-Lilien die wunderbar zu den schwarz glänzenden Bücherregalen passen.
Es ist erstaunlich, was du alles in solch kurzer Zeit erreicht hast, auch wenn es mich bei dir nicht wirklich wundert. Du warst schon immer äußerst ehrgeizig, wolltest ständig noch mehr erreichen. Dir habe ich stets zugetraut, Imperien zu errichten. Aber selbst diese Erwartung hast du übertroffen, indem du dieses Reich in den Wolken erschaffen hast.
Allem Anschein nach sollen wir beide aus Lilys Asche aufsteigen.
Du stehst reglos und in verstörender Schönheit da wie eine Statue, die den Händen eines völlig vernarrten Künstlers entsprungen ist. Ein wissender Schauer durchläuft mich. Du zählst zu jenen Männern, denen Sex und Wildheit aus jeder Pore ihres Körpers strömen. Deine animalische Anziehungskraft ist dunkel, begierig und viel zu dominant, um jemals gezähmt zu werden. Dein Blick ist wie flüssige Lava, die mich überzieht und dabei keine Stelle unberührt lässt.
Schnell wie ein Peitschenhieb schlägt die Begierde zwischen uns in brennendes Sehnen um.
Ich halte das Leben, wie wir es hier führen, nicht länger aus. Wir sprechen nur über Witte miteinander. Du bist ein Fremder, der mich meidet, und ohne dich treibe ich ziellos umher.
Stumm verfolgt deine Familie, wie ich zu dir gehe. So wie du dort stehst, erinnerst du an einen Löwen, der sich in einer Arena den versammelten Gladiatoren zum Kampf stellt. Witte ist Schiedsrichter, Rosana das Publikum. Und ich, mein Liebster, bin gekommen, um dir zur Seite zu stehen.
Wer hat eigentlich den Mythos in die Welt gesetzt, dass die Familie einen stets lieben und verteidigen wird, koste es, was es wolle? Warum heißt es, nur wegen ein paar Genen müsse man selbst die größten Gemeinheiten verzeihen? Egal, du brauchst jedenfalls diesen oder jeden anderen Kampf nicht mehr alleine auszufechten.
Und in mancherlei Hinsicht muss man mich tausendmal mehr fürchten als dich.
Keine Ahnung, wie oder warum du am Ende wieder in einem Nest mit dieser Schlangenbrut gelandet bist, aber um auf dich losgehen zu können, werden sie jetzt erst an mir vorbeikommen müssen.
Ich lege eine Hand auf deine Brust, neige den Kopf nach hinten und biete dir meinen Mund zum Kuss.
Während deine linke Hand mich mit demonstrativem Besitzanspruch an der Hüfte packt, schmiegt sich deine rechte an meine Wange, sodass die Fingerspitzen schon meinen Nacken berühren. Mit sanftem Druck beugst du meinen Kopf in die richtige Position, verharrst so einen Moment und lässt deinen Blick herausfordernd über mein Gesicht wandern. Es verschlägt mir den Atem. Der lang gehegte Traum, in deinen Armen zu liegen und genau so von dir angeschaut zu werden, erfüllt sich gerade.
»Bei dir«, sagst du leise mit tiefer Reibeisenstimme, »lohnt sich das Warten doch immer.«
Dein Duft steigt mir zu Kopf, gemeinsam mit deinen Worten bringt er mein Blut in Wallung, bricht mir von Neuem das Herz. Dein Daumen streicht zärtlich meinen Wangenknochen entlang, dann senkst du ganz langsam den Kopf, als wolltest du nach so langer Zeit jeden Kuss besonders auskosten.
Wie du das machst, ist grandios und bringt alle hier angebrachten Gefühle hervorragend zum Ausdruck. Vertrautheit. Zuneigung. Leidenschaft. Unser Publikum wird glauben, dass wir äußerst glücklich und erleichtert darüber sind, uns wiederzuhaben. Du bist wirklich ein ausgezeichneter Schauspieler. Am Ende muss ich mich selbst daran erinnern, dass alles nicht echt ist.
Deine Lippen streichen leicht über meine. Die keusche Geste steht in krassem Kontrast zu dem erotischen Verlangen, das dein imposanter Körper zur selben Zeit signalisiert und das auf meine Sinne einstürmt wie ein Orkan, der auf die Küste prallt. Du beginnst, dich zurückzuziehen, und sofort schäumt in mir die Wut hoch, denn das ist nicht genug. Die unerfüllte Sehnsucht erzeugt eine qualvolle Leere. Und die Rolle, die du so meisterhaft deiner Familie vorspielst, steigert meine Gier nach dir nur noch mehr.
Verzweifelt lasse ich meine Zunge über deine volle Unterlippe schnellen, um wenigstens zu ahnen, wie du schmeckst. Unter meiner Hand spüre ich, dass dein Herz einen Satz macht. Dies ist der Motor, der die wohlabgestimmte Maschine deines Körpers antreibt, und ich kann ihn dazu bringen, schneller zu laufen. Ich habe gar nichts dagegen, das mitzunehmen, was ich kriegen kann. Bin ich nicht genau aus diesem Grund hier?
Ich bin ein wenig unsicher auf den Beinen, als ich mich den anderen zuwende. Überhitzt.
Du legst mir den Arm um die Schulter, und deine Finger ruhen auf meinem Hals, während mir dein Daumen den Nacken hoch- und runterfährt. Meine gespielte Gelassenheit schmilzt bei dieser Liebkosung schnell dahin. Ich komme mir nackt und verletzlich vor. Mein Puls gehorcht mir nicht länger, rast unter deiner Berührung.
Ich muss unbedingt stärker werden, wenn ich diese Scharade noch eine Weile aufrechterhalten soll. Aber vielleicht wartest du ja auch bloß darauf, dass ich wieder ganz gesund bin und wir der Sache ein Ende bereiten können.
Nur wenige Sekunden sind vergangen, seit ich hereingekommen bin und wir uns umarmt haben, und dennoch bin ich wie ausgewechselt.
»Hallo, zusammen. Ich bin Lily.«
Der stets so ernste und wachsame Witte will mir schon einen Stuhl bringen.
»Ich bleibe nicht lange, Witte«, lehne ich ab und schenke ihm ein kurzes Lächeln, damit es nicht zu harsch wirkt.
Ich mag ihn. Sein filmreif gutes Butler-Aussehen täuscht, denn dahinter steckt reichlich Tiefgang, so viel ist sicher. Er hat den scharfen Blick eines Cops, dem nichts entgeht. Und es sagt schon einiges über dich, dass ein solcher Mann bereit ist, sein Leben auf deines hin auszurichten.
Während du mir deine Familie vorstellst, habe ich Zeit, alle der Reihe nach zu studieren. Rosana hockt mit angezogenen Beinen an einem Ende des schwarzen Sofas und sieht mich mit großen Augen an. Sie ist hübsch und betrachtet mich mit der arglosen Neugier eines Menschen, der von Kummer keine Ahnung hat. Ihr gegenüber, auf der zweiten Couch, sitzt Amy mit übergeschlagenen Beinen und wippt sichtlich nervös mit dem Fuß. Eine Weile schauen wir uns an, aber sie erträgt meinen Blick nicht lange und wechselt die Sitzposition. Erst wendet sie sich zu ihrem Mann, dann zu Aliyah. Schließlich huscht ihr Blick nur flüchtig über dich, aber ich erkenne in dem kurzen Moment dennoch, was in ihr vorgeht. Diese Frau verzehrt sich nach dir, genau wie ich.
Deine Brüder sind aufgestanden. Sie ähneln einander sehr und dir überhaupt nicht. Darius in seinem schicken grauen Anzug wirkt mürrisch, beinahe aufsässig. Ramin grinst großspurig. Beide sind auf ihre dunkle Art attraktiv, verblassen jedoch neben dir, schrumpfen im direkten Vergleich.
Rosana empfängt mich mit einer zögerlichen Umarmung, aber ihr Lächeln ist herzlich. Darius und Amy unterziehen mich einer kritischen Prüfung, während sie mir nüchtern die Hand schütteln. Ich ziehe Amy an mich und lege den Arm um sie. Während unsere rechten Hände zwischen uns eingeklemmt sind, streiche ich ihr mit meiner linken tröstend über den Rücken. Ich kenne ihre Qualen und fühle mit ihr. Zu Beginn ist sie noch ganz steif, doch dann erwidert sie die Umarmung mit der Heftigkeit von jemandem, der sich nach Liebe und Geborgenheit sehnt.
»Frank sagt, du hättest mich oft besucht«, flüstere ich ihr ins Ohr, bevor ich den Arm löse. »Ich würde mich freuen, wenn wir das zur festen Gewohnheit werden ließen.«
Sie läuft rot an, und ich wende mich Ramin zu. Sein Handschlag ist ein dreister Akt der Verführung. Sein Daumen fährt sanft über meinen Handrücken, und als ich meine Hand zurückziehe, streicheln seine Fingerspitzen die Innenseite. Er ist eindeutig der unverschämte Frechdachs, der ständig Grenzen auslotet, um zu testen, ob sie unverrückbar sind. Der jüngste Sohn, der seinen Platz nicht findet, stets im Schatten der älteren Brüder und vernachlässigt, da die kleine Schwester alle Aufmerksamkeit bekommt.
»Lily«, sagt deine Mutter und erhebt sich nun auch. Sie trägt eine eng anliegende cremefarbene Hose und einen im Farbton passenden Sweater, dessen weiter Schnitt eine Schulter frei lässt. Ihre Haare haben die helle Farbe von Weizen, aber Augenbrauen und Pupillen sind dunkel, ihr Ausdruck berechnend. »Du hast so viel durchmachen müssen. Nimm Platz.«
Auf gar keinen Fall werde ich bleiben. Der Effekt ist weit größer, wenn ich bald wieder verschwinde.
»Mh-mh«, sage ich leise und schüttele den Kopf. Sie hat genau gehört, wie ich eben schon einen Stuhl ablehnte, konnte allerdings dem Machtspielchen nicht widerstehen, mir in meinem eigenen Heim einen Sitzplatz anzubieten, so als wäre nicht deine Frau die Hausherrin hier, sondern sie. Die Lily an deiner Wand würde jetzt bezaubernd und liebenswürdig auftreten. Sie hätte für Erfrischungen gesorgt, leise Musik würde unaufdringlich im Hintergrund spielen, und jeder bekäme eine kleine Aufmerksamkeit.
Aber ich bin nicht deine erste Frau, und dieses Traumleben funkelt am Rande eines Albtraums.
»Wenn gerade über einen selbst geredet wird, sollte man besser nicht stören«, sage ich und blicke ihr unverwandt in die Augen. »Anderenfalls führt das bloß zu höchst peinlichen Gesprächen.«
»Aber gestört hast du ja nun bereits«, erwidert sie in freundlichem Ton.
»Nur kurz unterbrochen«, verbessere ich sie mit breitem Lächeln. Worte sind Waffen. Es ist wichtig, stets genau die richtigen zu benutzen. »Und da ich jetzt alle kennengelernt habe, werde ich nun wieder gehen und mich vor dem Abendessen noch ein wenig hinlegen.«
Deine Hand kehrt an ihren Platz in meinem Nacken zurück. Kleine eisige Schauer durchlaufen mich, sobald deine Finger den Druck leicht erhöhen. Meine Brustwarzen werden hart, und parallel zu deiner Stimme senkt sich auch dein Blick.
»Ist die Stylistin fort?«, fragst du.
»Ja, aber sie wird bestimmt schon bald mit Bergen von Tüten zurückkommen«, sage ich und schaue weiter zu dir hoch, um dich zu einem weiteren Kuss zu zwingen.
»Die Stylistin?«, erkundigt sich Aliyah spitz.
Ihr verärgerter Gesichtsausdruck bringt mein Lächeln zurück. Sie hat Angst, ich würde das Geld verpulvern. Die Frau kann einfach nicht aus ihrer Haut. »Kane hat all meine Sachen aufbewahrt«, erkläre ich. »Restlos alles. Nicht in Kisten weggepackt, sondern in Schränken und Schubladen einsortiert. Was natürlich äußerst romantisch ist, aber einem zugleich auch das Herz zerreißt. Dennoch fehlen mir noch ein paar Dinge.«
Du klemmst mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, drehst meinen Kopf und drückst deinen Mund auf meinen, bevor ich noch begreife, was du damit bezweckst. Aber was kümmert es mich, ob es nun für die Zuschauer ist oder meinetwegen. Diesmal geschieht es mit Druck, mit spürbarer Glut und mit dem sanft liebkosenden Gleiten deiner Zunge an der Innenseite meiner Lippe. Meine Seele seufzt vor Glück, ihre verwandte Seele zurückzuhaben.
»Du kannst mir gern dabei helfen«, flüstere ich, als wir uns voneinander lösen.
Mit wildem Ausdruck in den Augen verfolgst du, wie ich dir mit dem Daumen den Lippenstift von der Unterlippe wische. Mit einem Seitenblick versichere ich mich, dass deine Mutter auch tatsächlich zusieht.
Sie beobachtet aber auch mich genau.
Du wirfst einen langen Schatten über sie und die anderen Mitglieder deiner Familie. Und allem, was im Schatten herumkriecht, ist nun einmal nicht zu trauen.
»Wir sollten mal zusammen zu Abend essen«, sage ich in den Raum hinein. »Ich freue mich schon darauf, euch alle besser kennenzulernen.«
Dein Gesichtsausdruck ist undurchdringlich.
Ich bin so ausgehungert nach dir. Dich so dicht an mir zu spüren, wühlt mich auf. Oder die erste Begegnung mit deiner Familie bringt mich derart durcheinander, all die neuen Teilnehmer in diesem trügerischen Spiel. Vielleicht liegt es auch einfach an beidem.
Ich wende mich zum Gehen und fühle deinen Blick im Rücken. Eine beklemmende Stille breitet sich hinter mir aus.