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Witte

I ch trage weiße Handschuhe und stelle die Warmhalteplatte mit dem Teller für das Abendessen auf das Set, das ich auf Mr. Blacks Schreibtisch gelegt habe. Auf der ledernen Schreibunterlage bemerke ich einen Bogen von Lilys Briefpapier mit ihrem Monogramm. In ihrer energischen femininen Handschrift mit den nach links gerichteten Buchstaben ist darauf sein Name geschrieben. Ihre Unterschrift ist ein überdimensionales gerades L mit Kringeln an beiden Enden, in das sich die anderen Buchstaben hineinlehnen. Einen Text gibt es nicht, nur den Abdruck ihrer Lippen in ihrem markanten knallroten Lippenstift. Das gerahmte Foto von ihr liegt umgedreht daneben.

Mein Arbeitgeber nimmt auch heute das Essen allein in seinem Büro ein. Seine Frau wollte schon ablehnen, etwas zu essen, doch es gelang mir, sie zu einem Teller Suppe zu überreden, bei deren Zubereitung sie mir selbst zur Hand ging.

Wie ich feststellen konnte, ist Lily eine Frau mit einer beeindruckenden Bandbreite an Fähigkeiten, in großen wie in kleinen Dingen. Sie erinnert mich in vielerlei Hinsicht an meine Tochter. Schönheit und gelassene Souveränität, Selbstbeherrschung – ebenso wie Leistungsbereitschaft und zäher Wille, wie man es häufig bei Kindern findet, deren Mütter selbst eher Geschwister als Elternteil sind. Keine Ahnung, ob das auf Lily zutrifft, denn ich weiß nicht, wie früh in ihrem Leben sie zur Waise wurde. Womöglich hatte sie sich auch schlicht selbst erziehen müssen.

Sie gibt mir weiterhin Rätsel auf, doch da geht es dem Mann, mit dem sie verheiratet ist, nicht anders. Sie ist ein Mensch, der lieber zuhört als redet, vor allem über sich selbst, und so hat sie ihm lediglich zu Beginn ein paar spärliche Einzelheiten mitgeteilt, bei denen er aus Angst, alte Wunden aufzureißen, kaum nachzufragen gewagt hat.

»Wie geht es ihr?«, fragt Mr. Black, der zum Fenster hinausschaut, ohne etwas wahrzunehmen. Sein Rücken zeichnet sich als dunkle Silhouette vor der funkelnden Skyline Manhattans ab. Das Lichtermeer der Großstadt färbt den Nachthimmel aschgrau. Auch wenn Mr. Black völlig reglos dasteht, hat man das Gefühl, er würde gerade alles im Raum kurz und klein schlagen. Wie aufgewühlt sein Inneres ist, zeigt er nach außen nie, dennoch höre ich nur allzu gut den Phantomlärm von berstendem Glas und splitterndem Holz. Dazu wütendes Heulen und Schmerzlaute selbst beigebrachter Höllenqualen.

Seine Frau hat die Energie im Penthouse wie ein einschlagender Blitz aufgeladen und Mr. Black aus seinem Gelangweiltsein gerissen. In kürzester Zeit ist sie für diesen Haushalt unentbehrlich geworden. Zu unserem früheren Leben zurückzukehren ist für mich nicht weniger unvorstellbar, wie das Porträt im Schlafzimmer meines Arbeitgebers zu entfernen. Es ist ein fester Bestandteil, etwas, das immer schon da war. Genauso fühlt sich ihre Anwesenheit im Penthouse an. Physisch gibt es sie erst jetzt, aber da war sie bereits die ganze Zeit.

»Die Befragung scheint sie nicht sonderlich mitgenommen zu haben«, antworte ich in beiläufigem Ton, obwohl ich beunruhigt bin. Die Ermittler erschienen ohne Vorankündigung, um sich weiter mit ihr zu unterhalten. Obwohl sie ihnen doch bereits Auskunft gegeben hatte, als sie zur Reha im Krankenhaus gewesen war. Beide Male hatte sie den Vorschlag, einen Anwalt hinzuziehen, mit der Bemerkung weggewischt, dies sei unnötig. »Ich konnte sie lachen hören, und beim Abschied machten die Detectives einen gut gelaunten Eindruck.«

»Noch zwei, die auf sie reingefallen sind«, sagt er und klingt müde. »Sie hat sie mit ihrem Charme um den Finger gewickelt. Das ist so ihre Art, und sie ist sehr, sehr gut darin. Sie haben es ja am eigenen Leib erfahren.«

»Wie meinen?«

Mein Arbeitgeber wendet sich zu mir um und lacht leise. »Bei Ihnen hat sie bloß eine andere Masche benutzt, Witte. Aber rumgekriegt hat sie Sie genauso.«

»Sir?«, erwidere ich nur und weiß nicht, ob ich gekränkt sein soll oder nicht.

»Eben war sie noch eine Fremde, und schon im nächsten Moment ist man vernarrt in sie«, sagt er und dreht mir wieder den Rücken zu. »Es gibt Menschen, die einen ganzen Raum aufleuchten lassen können. Bei ihr gehört zu diesem Talent aber auch, dass sie alles Licht mitnimmt, wenn sie geht.«

Ich verstehe sofort, wie treffend seine Äußerung ist. Nicht allein ihre unmittelbare Ausstrahlung macht Mrs. Black so außergewöhnlich, sondern vielmehr, wie schwer es fällt, sich aus ihrer Gesellschaft zu verabschieden, und wie stark man sie vermisst, sobald sie abwesend ist.

Er schlendert zum Messingwagen mit der kleinen Bar, entfernt den Stopfen aus einer Kristallkaraffe und gießt zwei Fingerbreit Macallan Fine & Rare in ein Glas. Wortlos hält er mir den Whisky hin.

»Nein danke, Sir«, antworte ich und füge nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich habe mir erlaubt, Mrs. Black eins der Tablets zu geben, damit sie sich ein wenig die Zeit vertreiben kann.«

Keiner von ihnen hat je davon gesprochen, ihr ein Handy zur Verfügung zu stellen. Mr. Black mag einfach nicht darüber nachgedacht haben. Weit seltsamer ist allerdings, dass seine Frau nie den Wunsch geäußert hat, sich mit ihrem alten Freundeskreis in Verbindung zu setzen.

»Schon in Ordnung«, sagt er. »Sie weiß sich richtig zu benehmen.«

Ich mache hinter seinem Rücken ein verständnisloses Gesicht. Direkt nachzufragen steht mir aber nicht zu. Ihn beraten, ja, aushorchen, nie und nimmer.

Er trägt sein Glas zum Schreibtisch und nimmt mit routinierter Eleganz dahinter Platz. Nachdem ich erlebt hatte, dass er sich plump wie ein Kartoffelsack in jeden Stuhl fallen ließ, haben wir monatelang an der lässig stilsicheren Haltung gearbeitet, die er inzwischen ganz selbstverständlich beim Sitzen einnimmt.

Während er langsam trinkt, sehen seine Augen Dinge, die nur er sieht.

Gestern Nacht habe ich per Zufall mitbekommen, wie er Hände und Stirn gegen die Tür drückte, die von ihrem gemeinsamen Wohnzimmer in Lilys Ankleideraum und ihr dahinterliegendes Schlafzimmer führt. Ich kann seine Faszination nachvollziehen. Seine Frau ist hinreißend und betörend, würde der jungen Elizabeth Taylor, Vivien Leigh oder Hedy Lamarr Konkurrenz machen – all den klassisch zeitlosen Schönheiten mit berauschender Sinnlichkeit und mädchenhaftem Lächeln.

Ich habe den Verdacht, dass er sie in den Nächten zuvor mitunter heimlich im Schlaf beobachtet hat. In der Ecke des Raums stand nämlich ein Stuhl, den jemand vor das Bett gerückt haben muss. Wobei es zu dieser Veränderung erst kam, als sie wieder bei Bewusstsein war. Während ihrer Zeit im Koma hatte er ihren Raum nur mit größter Zurückhaltung aufgesucht, da er fürchtete, anwesend zu sein, wenn sie erwachte. Ein durchaus umsichtiges Verhalten, bedenkt man ihre Reaktion auf das erste Wiedersehen in Downtown Manhattan.

Sein Verlangen quält ihn wirklich furchtbar. Oder ist es eher Schuld? Die Frau, die ihm nicht aus dem Kopf gehen wollte, wartet ebenfalls, und doch verweigert er sich beidem. Sie ist nicht die Frau, die vor uns die Straße überquerte, die kreidebleich und mit entsetztem Blick vor ihm davonrannte. Die Lily hier im privaten Flügel des Penthouse würde ihn mit offenen Armen empfangen. Daran lässt der Ausdruck in ihren fast unwirklich grün glühenden Augen keinen Zweifel. Sie lockt ihn mit aufreizendem Lächeln und provozierenden Schreiben. Jeder kann spüren, wie sexuell aufgeladen es zwischen den beiden prickelt, sobald sie sich nahekommen. Die Hausmädchen musste ich schon ermahnen, nicht darüber zu tuscheln, und auch Mr. Blacks Familie ist das beeindruckende Phänomen bereits aufgefallen.

Ich räuspere mich, um die Anspannung ein wenig zu lockern. Manche Menschen heilt die Liebe, für andere ist sie eine Qual. »Vielleicht würde es Ihnen beiden guttun, wenn Sie mal zu ihr gingen«, schlage ich behutsam vor.

»Lily hat mir noch nie einfach bloß gutgetan, Witte. Sie schafft Glücksmomente, ja. Ekstase. Jede Sekunde mit ihr hat etwas Euphorisches. Aber ich weiß eben auch, dass die Frau hinter diesem Rausch eine Sucht bedeutet, die mich bei lebendigem Leib auffrisst. Ständig werde ich nach dem nächsten Schuss verlangen und mit allem einverstanden sein, nur um ihn zu bekommen.«

Mir ist natürlich bewusst, dass ein Mann, der von etwas – insbesondere von einer Frau – besessen ist, zu allem fähig ist. Mein Arbeitgeber ist ein Mensch, dem zeit seines Lebens Liebe verwehrt geblieben war, bis er Lily begegnete. Er war mit einem Vater gestraft, der ihn in Armut zurückließ, mit einer Mutter, die ihn ihrem zweiten Ehemann zuliebe verstieß, und mit Geschwistern, die von Neid zerfressen sind. Lilys Liebe ist für ihn daher der kostbarste und seltenste Schatz überhaupt. Doch sie flüchtete bei seinem Anblick. Warum? Ich kann einfach nicht aufhören, mir diese Frage zu stellen.

Die Antwort auf alles dürfte in den sieben Tagen vor ihrem Verschwinden liegen, eine Woche, in der sie heirateten und Mr. Black Anspruch auf ihr Vermögen erhielt, sollte ihr etwas zustoßen.

Er betrachtet ihren Lippenabdruck und trinkt dabei.

Trotz der stummen Aufforderung zu gehen, wollen meine Beine sich nicht rühren. Seine Tatenlosigkeit lässt uns beide in unserer Haltung erstarren wie in Bernstein eingeschlossene Insekten. Ewig kann es so nicht weitergehen. »Sie sollten wissen, dass sie mit jeder Mahlzeit weniger isst. Ich habe sie heute nur mit größter Mühe dazu bewegen können, wenigstens einen Teller Suppe zu essen, bevor sie sich zur Ruhe begibt.«

Sein Blick wird klar und richtet sich auf mich. »Sie kommt nicht zu Kräften, wenn sie nichts isst«, sagt er besorgt.

»Vielleicht würde es ja helfen, wenn Sie ihr dabei Gesellschaft leisteten.«

»Nein.«

Sein Starrsinn verführt mich dazu nachzufragen: »Strafen Sie sich damit oder sie?«

»Herrgott, sie ist doch weggerannt, als ich sie fand! Ich werde mich ihr nicht aufzwingen. Wenn sie mich will, weiß sie, wo ich bin. Sie kann ebenso leicht zu mir kommen wie ich zu ihr.«

Mir stockt kurz der Atem. Noch nie hat Mr. Black ihre Reaktion auf seinen Anblick erwähnt, weder mir noch den Ärzten gegenüber – bis jetzt.

Beunruhigt starre ich ihn an. Wut ist bekanntlich eine Stufe von Trauerarbeit, und manchmal wendet sich diese Wut gegen die verstorbene Person, weil sie die anderen allein mit diesem Schmerz zurückgelassen hat. Aber in die Umstände ihres Verschwindens eine persönliche Zurückweisung hineinzudeuten, ist schon krankhaft. »Sie dürfen ihr das nicht zum Vorwurf machen«, sage ich.

»Warum nicht?«, erwidert er. Seine Augen sind kalt und abweisend.

»Das wäre nicht fair.«

»Fair?«, wiederholt er. »War es fair von ihr, aus mir einen Menschen zu machen, der uns ein solches Leben aufzubauen vermag, nur um dann zu verschwinden und mich allein damit zu lassen? Wenn Sie der Meinung sind, dass ich sie nicht fair behandle, dass ich sie von aller Verantwortung für die Entscheidungen, die sie getroffen hat, freisprechen sollte, nun … Das kann ich nicht.«

Er spricht so selten über seine Frau. Es gibt so viel, von dem ich nichts weiß. Über sie und über den jungen Mann, der damals an ihrer Seite war.

»Kennengelernt haben wir uns in ihrem Strandhaus in Greenwich«, beginnt er unaufgefordert in einem sonderbar nüchternen Ton, als würde ihn selbst diese Erinnerung nicht länger berühren. »Sie gab eine Party, und da Ryan und sie zu der Zeit ein Paar waren, bekam auch ich eine Einladung. Habe ich Ihnen das eigentlich schon mal erzählt? Dass sie zuvor mit ihm zusammen war?«

»Ja, Sie erwähnten es«, bestätige ich.

»Im Grunde war mir die Anfahrt viel zu weit, aber da ich kurz vor dem Abschluss meines Studiums in Betriebswirtschaft stand und Firmenconsulting mein Schwerpunkt war, hat mich Ryan überredet, die Gelegenheit zu nutzen, um Leute zu treffen, deren Bekanntschaft mir später einmal von Nutzen sein könnte. Ich werde niemals vergessen, wie ich aus dem Gemeinschaftstaxi stieg, das ich am Bahnhof genommen hatte, und vor mir ein halbes Dutzend Angestellte emsig damit beschäftigt war, Luxuswagen im Wert von einigen Millionen Dollar zu parken. Ich hätte nie gedacht, mal jemand kennenzulernen, der so lebte, der Freunde hatte, die sich alle solche Autos leisten konnten. Das Ganze kam mir vor wie eine Filmszene.«

Um meine Arbeit mit größtmöglicher Effizienz zu erledigen, darf es keine Geheimnisse geben, keine unbekannten Leichen. Die Führung eines Haushalts kann nicht gelingen, wenn es Angehörige dieses Haushalts gibt, die ich nicht einzuschätzen weiß. Bislang kam alles, was ich über Lily Black erfuhr, einer Enthüllung gleich, und die schockierendste darunter war, dass Mr. Black allein ihr seinen Reichtum zu verdanken hatte.

Ruhelos steht er auf und kehrt zu seinem Platz an der Fensterfront zurück. »Das Wetter schlug um«, nimmt er den Faden wieder auf. »Ich sehe noch den Himmel vor mir. Wolkenverhangen und ganz dunkel. Ich fand sie am Strand, wo sie mit wehenden Haaren im aufkommenden Sturm tanzte. Sie wirkte wie eine heidnische Göttin, die das Gewitter heraufbeschwor. Noch bevor sie mir ihr Gesicht zuwandte, wusste ich, dass ich sie haben musste.«

Verloren habe ich sie, wo ich sie fand.

»Sie war unerreichbar für mich, Witte, und sie war Ryans Freundin. Mir war klar, dass ich mich besser von ihr fernhielt, aber dann war sie es, die mich auswählte. Schon kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, liefen wir Arm in Arm über den vom Wind gepeitschten Strand, und sie setzte mir die wildesten Ideen in den Kopf. Es war wie ein Fiebertraum. Die atemberaubendste und schärfste Frau, die mir je begegnet war, wusste aus irgendeinem Grund bestens über mich Bescheid, kannte meine familiäre Situation, wusste, dass mein Vater abgehauen war und es schlecht um Baharan stand. Ein paar Worte von ihr genügten, und sie hatte meine Welt vollkommen auf den Kopf gestellt. Als sie fertig war, hatte sie mich so weit, dass ich Baharan als mein Geburtsrecht betrachtete. Ich verließ ihr Haus an diesem Tag mit neuen Lebenszielen, die ich unbedingt erreichen wollte. Ich wollte dieses Strandhaus und all diese Luxusschlitten. Ich wollte Baharan. Und am meisten wollte ich sie. Stärker, als ich je etwas gewollt hatte.«

Mr. Black steckt eine Hand in die Hosentasche und trinkt erneut ganz langsam. Er rollt den Single Malt im Mund herum und schluckt dann energisch. »In den Tagen danach rief sie mich an. Traf sich mit mir. Sie hatte nicht nur die Vorstellung, wie es einmal sein sollte, sie hatte auch einen Plan. Sie war mein Svengali, mein Pygmalion. Eine Zauberin, die mit einem Abrakadabra mein gesamtes Leben verwandelte.«

»Sie erkannte Ihr Potenzial«, erkläre ich, obwohl dieser trockene Begriff die mitreißende Ausstrahlung meines Arbeitgebers nur unzureichend beschreibt. Ich hatte ihn damals eigentlich bloß aus reiner Höflichkeit aufgesucht, da solch ein tiefer Ernst in seiner Anfrage gelegen hatte und ich die mir angebotene Stelle deshalb persönlich absagen wollte. Aber als ich ging, hatte ich den Vertrag unterschrieben. Er besitzt die Fähigkeit zu bekommen, was er will, und dabei den anderen noch das Gefühl zu geben, sich glücklich schätzen zu dürfen, auf seine Linie eingeschwenkt zu sein.

»Sie ist eine Muse, Witte«, fährt er unbeirrt fort. »Eine Königsmacherin – oder wie es heute so fantasielos heißt: ein Business Angel . Wie auch immer man es nennen mag, sie verfügt über ein frappierendes Talent, ihr unbekannte Menschen zu durchschauen und diejenigen zu erkennen, aus denen sie Titane formen kann. Ich war selbstsüchtig genug, mir einzubilden, der Einzige zu sein, aber es gab immer andere. So ist sie nun mal, und das ist, was sie tut.«

Er verstummt, doch das Gefühl von tobender Unruhe und Zerstörungswut, das den Raum beherrscht, schwillt nur noch bedrohlicher an. Genau in diesem Moment ächzt das Gebäude vernehmlich, und es hat den Eindruck, als kämen die Kräfte, gegen die es ankämpft, diesmal nicht von außen, sondern von innen.

»Sie zweifeln an ihrer Liebe zu Ihnen?«, frage ich leise.

»Liebe?«, erwidert er gleichgültig und dreht sich zu mir um. »Wir reden hier über Fairness, Witte. Nicht über Liebe.«

»Ich verstehe bloß nicht, wie Sie Ihrem Ziel näher kommen wollen, ohne mit ihr zu sprechen.«

»Sie hat doch selbst keine Erklärung oder Antworten«, höhnt er scharf. »Ich weiß weder, wie ich mit ihr umgehen soll, noch, wie ich sie überhaupt erreiche. Sie ist nicht sie selbst und schon gar nicht die Frau, die ich geheiratet habe.«

»Und Sie sind nicht der Mann, den sie geheiratet hat«, gebe ich zu bedenken. »Sie müssen einander wiederentdecken, sich womöglich sogar noch einmal ganz neu kennenlernen und verlieben. Mit Liebe wird Vertrauen zurückkehren, und durch Vertrauen werden Sie Ihre Antworten bekommen.«

»Sie gehen immer davon aus, dass Sie mich will, nicht Baharan oder das Geld«, entgegnet er mit wild funkelnden Augen.

Die Vermutung allein erschreckt mich. Sich deshalb das Hirn zu zermartern, scheint völlig unbegründet.

»Wie bereits gesagt, es war extrem verwunderlich, was sie alles über Baharan wusste. Und nicht bloß öffentliches Zeug. Sie wusste Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Zum Beispiel, dass meine Mutter die Rechte an den Chemiepatenten und sogar an dem beschissenen Logo besaß. Glauben Sie mir, Witte. Lily muss Baharan von Anfang an genau im Blick gehabt haben.«

»Welches Interesse sollte sie denn an einer Pharmafirma haben, noch dazu an einer mit solchem Ruf?«, frage ich.

»Die Frage beschäftigt mich noch am wenigsten«, antwortet er. »Unsere Hochzeit traf mich völlig unvorbereitet. Ich kam nach Hause wie immer, und da wartete sie schon mit einem Standesbeamten, den Nachbarn als Trauzeugen und einem Smoking für mich. Die Schriftstücke, die mir Zugriff zu ihrer GmbH und ihren Konten gewährten, hatte sie zwischen den Hochzeitsdokumenten versteckt, sodass ich sie unwissentlich mitunterzeichnete. Und ein paar Tage später segelte sie mitten in ein angekündigtes Unwetter hinein. Denken Sie doch mal darüber nach, Witte, was all diese Zusammenhänge vermuten lassen. Seit sechs Jahren kann ich nicht aufhören, über diese Fragen nachzudenken.«

»Ich …« Mir fehlen die Worte.

»Genau«, sagt er mit versteinerter Miene. »Sie schuldet mir Antworten, aber ich kann und werde sie deshalb nicht bedrängen und ihr damit nur noch mehr Stress verursachen. Sie kennt mich besser als jeder andere Mensch. Sie weiß, was ich brauche und wo ich bin. Ich kann bloß abwarten.«

So viel Angst und Leid ist mit ihrer Liebe verwoben. Ganz gleich, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, ob sie es sich eingestehen oder nicht, die drohende Gefahr spüren sie instinktiv.

Was tat es mit Lily? Oder würde es tun?

»Ich könnte sie umbringen dafür, dass sie mich dazu bringt, sie so zu brauchen«, flüstert er und starrt dabei in sein Glas, als könnte er dort etwas finden, das ihm weiterhilft.

Sein Geständnis macht mich schaudern.

Spielt Habgier eine Rolle, dieses gefräßige Untier? Oder ruft ihre unfassbare Schönheit einfach Eifersucht hervor und ein überwältigendes Besitzverlangen? Vielleicht ein wenig von beidem. Vielleicht war ihr Geld eine Art Entschädigung für all das, was er von ihr nicht bekommen konnte.

Diese Zweifel nicht loszuwerden, zehrt an mir.

Mr. Black leert sein Glas und blickt zum Barwagen. Wortlos strecke ich die Hand nach seinem Glas aus. Er verzieht zwar spöttisch das Gesicht, drückt es mir aber in die Hand. Ich bin erleichtert, ihn von weiteren Drinks abgehalten zu haben. Er ist auch so schon viel zu sprunghaft und seine Frau viel zu verwundbar.

»Sie sollten etwas essen«, ermahne ich ihn.

»Schönen Abend noch, Witte«, sagt mein Arbeitgeber und wendet sich wieder dem Fenster zu. »Ich werde Ihre Dienste heute nicht mehr benötigen.«

Beim Verlassen des Raums signalisiert meine Uhr den Eingang einer Nachricht.

Auf dem Weg zur Küche werfe ich einen Blick auf mein Handy.

ID bestätigt Midtown West. Setzen Aktion fort.

An der Tür zum Wohnzimmer bleibe ich kurz stehen und überlege, ob ich zum Büro meines Arbeitgebers zurückgehen und ihn von der Neuigkeit unterrichten sollte.

Wie sich herausgestellt hatte, gehörte die Adresse auf Mrs. Black gefälschtem Ausweis zu einem Weinlokal in Gramercy. Tagelang wurden Nachforschungen im Viertel angestellt, während die Suche über die Gesichtserkennung auf Kameras an und um das Crossfire Building beschränkt blieb, wo Baharan seine Geschäftszentrale hat und wir Lily begegnet waren. Dabei fand man heraus, dass Lily Black regelmäßig an diesem Gebäude vorbeigekommen war, und es gelang, ihren Weg weiterzuverfolgen.

Vertrauliche Ermittlungen haben inzwischen auch zu jemandem geführt, der sie auf einem Foto wiedererkannte. Schon bald werden wir wissen, wo und wie sie gelebt hat, was hoffentlich neue Ansätze für weiterführende Nachforschungen eröffnen wird. Es geht nur langsam voran, weil Diskretion über allem steht. Wenn die Suche nach verborgenen Geheimnissen verlangt, dass auch die Suche selbst im Verborgenen abläuft, ist eben Geduld gefragt.

Ob eine solche Untersuchung tatsächlich zu Antworten führt, die Mr. Black am Ende Frieden schenken? Ich fürchte, dass dies lediglich durch Lilys Geständnis gelingen kann.

Bereits so ist es schwer, die verwirrenden Umstände ihrer Rückkehr zu durchschauen, aber das Ganze wird noch komplizierter durch die Fragen, wie und auch warum sie überhaupt damals verschwunden ist. Bis heute fehlt eine Erklärung für die Angst, die ich auf ihrem Gesicht ablesen konnte, für das entsetzte Wiedererkennen und die sonderbare Art, wie sie seinen Namen ausstieß. Kein Zweifel besteht für mich daran, dass es sein Anblick war, der sie in Panik versetzte und blind für jede Gefahr davonstürzen ließ. Wieso streunte sie aber dann regelmäßig um das Crossfire herum und riskierte damit fast täglich, entdeckt zu werden?

Am Ende stecke ich das Handy weg und laufe weiter. Morgen ist früh genug, die letzten Neuigkeiten mit meinem Arbeitgeber zu besprechen. Für diese Nacht hat er schon genug Dämonen, mit denen er ringen muss.