21

Lily

L eise klopft es an meiner Schlafzimmertür, die ich immer einladend einen Spalt offen lasse, was bislang jedoch nicht den gewünschten Effekt hatte. Der diskrete Rhythmus verrät mir, dass du es auch jetzt nicht bist.

Auf der anderen Seite meiner riesigen Panoramafenster hat die Nacht sich über Manhattan gesenkt und den Betondschungel in ein Sternenmeer verwandelt. Ich habe den Überblick verloren, wie viele Tage seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus vergangen sind, aber durch die Trennung von dir fühlt es sich wie eine Ewigkeit an.

»Ja, Witte?«, sage ich und trete aus dem Ankleideraum. Obwohl ich bereits ein kleines Vermögen für Klamotten und Accessoires ausgegeben habe und du von Lily ja jedes Kleidungsstück, jede Handtasche und jedes Paar Schuhe aufheben musstest – was praktisch, aber auch überaus schmerzlich ist –, sind noch immer viele Meter Regalfläche frei.

Galant wie eh und je bleibt Witte in der Tür stehen. Du hast dir in den letzten Jahren immerhin so viel von seiner kultivierten Extraklasse abgeschaut, dass du dich inzwischen problemlos in sämtlichen gesellschaftlichen Kreisen zu bewegen verstehst. Allerdings sind deine rauen Kanten nicht völlig geglättet. Du bist weiterhin ein gefährlicher Mensch. Du bist nur jetzt auf andere Weise gefährlich, als du es früher warst.

»Morgen Vormittag um zehn steht ein Ausflug für Sie auf dem Programm. Mr. Black wird Sie zu dem Treffen mit den Ärzten begleiten.«

»Einen Arztbesuch zum ›Ausflug‹ zu erklären, macht die Sache gleich viel charmanter. Geschickte Wortwahl, Witte.«

»Vielen Dank«, sagt er, und ein kurzes Schnurrbartzucken verrät das unterdrückte Lächeln.

Ich brauche diesen Small Talk, diesen unbeschwerten Ton, sonst würde ich nun in Tränen ausbrechen. Es ist grauenvoll, dass nicht einmal so alltägliche Informationen persönlich zwischen uns ausgetauscht werden, als ob du keine Sekunde in meiner Gegenwart ertragen könntest.

Dennoch vernehme ich natürlich mit größtem Vergnügen, dass wir morgen etwas Zeit miteinander verbringen werden.

Wir leben mittlerweile seit Wochen zusammen, umkreisen einander innerhalb der Wände des Penthouse und schaffen es dabei, nie zur selben Zeit am selben Ort zu sein. Einmal abgesehen von deinen mitternächtlichen Besuchen, wenn du dich in mein Schlafzimmer stiehlst und ich zu schlafen vorgebe. Als ob mein Körper nicht jedes Mal unweigerlich mit einem sehnsüchtigen Prickeln erwachen würde, wenn du in seine Nähe kommst.

Wie habe ich gelitten, von Verlangen gepeinigt, meine Brustwarzen hart und schmerzend, die Spalte zwischen den Beinen feucht und pochend. Alles unwillkürliche Reaktionen, die ich nicht kontrollieren kann. Mein Körper spürt einfach genau, wenn du in der Nähe bist, und macht sich bereit, bestiegen und geritten, herangenommen und verzückt zu werden. Deine heimliche Anwesenheit ist die perfideste Folter, der ich je ausgesetzt war, aber wie habe ich danach gelechzt. Bewegungslos musste ich daliegen und meine Atmung im Griff behalten, während deine Blicke meinen Körper verschlangen.

»Werden Sie das Abendessen heute im Wohnzimmer einnehmen?«, fragt Witte und holt mich damit in die Gegenwart zurück.

Ich verschränke die Arme vor der Brust. Im Penthouse hat es wie immer genau die richtige Temperatur, dennoch friere ich plötzlich. »Isst Kane heute Abend wieder in seinem Büro?«, frage ich zurück.

»Mr. Black lässt sich entschuldigen, da er noch so viel zu erledigen hat«, antwortet Witte mit einem Nicken.

»Aber gewiss doch«, bemerke ich und lächele schwach. »Haben Sie schon gegessen?«

»Noch nicht. Sobald ich für Ihr Essen gesorgt habe, werde ich dazukommen.«

»Wie wäre es, wenn wir zusammen essen? In der Küche, wenn es Ihnen recht ist.«

Sollte ihm mein Vorschlag irgendwie unangenehm sein, lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Mit dem größten Vergnügen«, sagt er lediglich. »In zehn Minuten?«

»Wunderbar«, stimme ich ihm zu und verfolge, wie er mit eleganter Drehung Richtung Küche davonschwebt und ich dort, wo er gestanden hatte, jetzt auf einmal mein Abbild in der verspiegelten Flurwand sehe. Aber ich selbst bin es gar nicht, die ich dort sehe. Die Haare sind zu lang, ein pechschwarzer Vorhang, der seidig glänzend bis zur Taille reicht. Die Gesichtszüge unterscheiden sich nur wenig. Die Kinnpartie etwas kantiger, die Wangenknochen markanter hervortretend und die Augen nicht ganz so tief in den Höhlen. Sie lächelt.

Ein Wimpernschlag später, und sie ist fort. Nun bin bloß noch ich da.

Ich berühre mein Haar und bedaure den neuen Schnitt. Der Bob ist zwar chic, aber er macht mich älter. Wobei die ins Land gegangenen Jahre dazu natürlich auch ihren Beitrag leisten.

Zurück im Ankleideraum, suche ich nach etwas, das ich über mein knöchellanges Stufenkleid ziehen kann. Mein Blick wandert über all die Schubladen voller Dessous, Negligés und Pyjamas. Keine Ahnung, ob du Lilys Unterwäsche irgendwo anders aufhebst. Alles, was ich bislang getragen habe oder noch tragen könnte, ist jedenfalls neu, frisch gewaschen und mit LRB bestickt. Die üppige Auswahl ist von exquisiter Qualität und vom Stil her eher provokant als sittsam. Du dürftest die Kollektion über einen langen Zeitraum zusammengestellt haben, und sie war, wie die Initialen darauf beweisen, stets für Lily gedacht. Das Monogramm dient darüber hinaus als eine Art Brandzeichen, das deinen Besitzanspruch markiert. Es ruft mir in Erinnerung, dass du bei Lily natürlich reflexhaft an das Schlafzimmer denkst. An dein Bett. Nackte Haut. Sex.

Prompt kommt mir in den Sinn, wie ich damals war, als ich in die Schuhe eines Geisterwesens schlüpfte, einer Frau, deren Bild, Stil und Vorlieben sich wie ein bösartiges Geschwür in dir ausbreiten sollten und die den Mann, der du einmal warst, inzwischen völlig unterworfen haben.

Du traust mir nicht, und du traust dir selbst nicht, wenn es um mich geht. Verbirgt sich hinter deiner Unnahbarkeit in Wahrheit Begierde? Bist du auf mich genauso scharf wie ich auf dich? Oder kann ich wirklich nicht mit deiner ersten Frau mithalten, die deine Gedanken auch sechs Jahre nach ihrem Tod noch beherrscht?

Warum nur meidest du mich?

Ich streife einen tiefgrünen Blazer aus Knautschsamt über und mache mich auf den Weg zur Küche.

»Es duftet verführerisch«, sage ich zu Witte und nehme auf dem Barhocker Platz, den er mir anbietet.

Plötzlich habe ich auch Heißhunger auf etwas anderes als auf dich.

»Das allein zählt noch nicht«, erwidert er und breitet eine schwarze Serviette auf meinem Schoß aus. »Wollen wir sehen, wie es schmeckt.«

Er entnimmt dem Gastronomie-Kühlschrank zwei angerichtete Salate. Hinter den verglasten Doppeltüren kann ich akkurat gefüllte Regale ausmachen.

Mit routiniertem Schwung verteilt Witte das Dressing im Zickzackmuster. Rotwein und Mineralwasser hat er schon eingeschenkt, und ich frage mich, wie er all die Vorbereitungen in solch kurzer Zeit erledigen konnte.

Als er den Teller mit der handgemalten Lilie auf mein schwarzes Leinenset stellt, berühre ich sein Handgelenk, und er verharrt in seiner Bewegung. »Vielen Dank, dass Sie sich so um Kane kümmern«, sage ich.

Er blickt mich einen Moment stumm an, als würde er seine Antwort abwägen. »Dafür werde ich bezahlt«, antwortet er schließlich.

»Sie werden außerdem noch dafür bezahlt«, stelle ich richtig und greife nach meiner Gabel.

Er nimmt auf dem Barhocker an der Ecke rechts von mir Platz.

»Aber es bedeutet Ihnen eindeutig mehr.« Die fruchtige Säure der mit Zitrone angerührten Salatsoße schmeckt vorzüglich. »Mhm«, schnurre ich genüsslich.

Witte nimmt zufrieden meine Reaktion zur Kenntnis und befreit sein Besteck aus der zusammengerollten Serviette. »Ihr Scharfsinn trügt Sie natürlich nicht«, gibt er zu. »Ebenso wenig wie er Sie neulich in der Bibliothek getrogen hat.« Er legt eine kurze Pause ein. »Mrs. Armand bevorzugt es, im Recht zu sein.«

Ich lache laut auf. »So höflich formuliert habe ich noch nie gehört, dass jemand es hasst, wenn ihm widersprochen wird.«

Das vielsagende Zucken seiner breiten Schultern verstößt in seiner Lässigkeit auffallend gegen sein sonst so streng formales Auftreten und macht ihn mir sofort noch sympathischer.

»Ich weiß diese diplomatische Warnung zu schätzen«, fahre ich fort. »Aber sie erübrigt sich. Ich verstehe auch so, was für eine Art Frau seine Mutter ist. Wie oft ist sie Ihnen denn schon auf die Pelle gerückt oder hat Ihnen sonst wie sexuelle Avancen gemacht?«

Er ist sichtbar verblüfft, fängt sich jedoch schnell wieder. »Sie sind eine aufmerksame Beobachterin«, bemerkt er nur.

»Weiß Kane davon?«

»Ich bin durchaus in der Lage, derartige Dinge allein zu regeln.«

Ich lege meine Gabel ab. »Soll heißen, Sie erzählen es ihm nicht, und er macht den Fehler, seine Familie nicht genau genug im Auge zu behalten«, sage ich. »Also vermute ich mal, dass er nichts davon weiß.«

»Und ich halte Sie eher für jemanden, der Schlussfolgerungen zieht, nicht Vermutungen anstellt«, erklärt Witte und tupft sich mit der Serviette den Mund.

Ich grinse breit vor Begeisterung. Es ist toll, wenn jemand etwas treffend auszudrücken versteht. Darin liegt der große Unterschied. Und dass Witte sich so darauf einlässt … Das macht Spaß und ist zugleich unverzichtbar. Ihm liegt dein Wohlergehen am Herzen, und ich muss ihn davon überzeugen, dass wir in diesem Ziel vereint sind.

Ich widme mich erneut dem Salat, der höchst ungewöhnlich mit Orangen- und rubinroten Grapefruitstückchen, kandierten Pekannüssen und Blauschimmelkäse durchmischt ist. »Kompliment, Witte«, schwärme ich. »Das ist der beste Salat, den ich je gegessen habe.«

»Danke schön«, sagt er, trinkt von seinem Rotwein und lässt ihn vor dem Schlucken genussvoll im Gaumen wirken. »Mr. Black hat große Anstrengungen unternommen, sich in vielerlei Hinsicht den letzten Schliff zu geben. Jetzt verstehe ich auch, warum.«

»Weil ich Salat mag?«, erwidere ich. »Oder weil ich so scharfsinnig bin und so genau beobachte?«

»Weil alle diese Qualitäten – zusammen mit anderen – Sie so bemerkenswert machen.«

»Ah … Nun fühle ich mich auch noch geschmeichelt.«

Bevor ich die Gabel ablege, klemme ich sie zwischen die Lippen und streife die letzten Tropfen Dressing ab. Ich schaue mich in der Küche um, bemerke rechts von mir einen kleinen Tisch für zwanglose Zwischenmahlzeiten und in den Scheiben der Hängeschränke die sich spiegelnden Lichter der Großstadt hinter mir.

»Eigentlich dürfte es doch schon so fast unmöglich sein, sich unerlaubt Zugang zum Penthouse zu verschaffen«, sage ich beiläufig. »Trotzdem stehen vor der Eingangstür zwei bewaffnete Sicherheitsleute.«

Er studiert mich über den Rand seines Weinglases hinweg und wirkt keineswegs überrascht davon, dass meine Erkundungsgänge mich bereits nach draußen geführt haben. »Ja, die stehen da«, bestätigt er knapp.

»Im Krankenhaus waren auch welche.«

Witte nickt ruhig, obwohl ich es gar nicht als Frage formuliert hatte. Doch seine Gelassenheit ist jetzt einer interessierten Erwartung gewichen.

»Wird Kane beschützt, wenn er das Penthouse verlässt?«

»Wir minimieren alle Risiken.«

»Wie, zum Beispiel?«

Er lüftet seinen Wein mit einer gekonnten Drehung des Handgelenks, aber ungeachtet dieser verträumt anmutenden Bewegung bleibt sein Blick scharf und wachsam. »Warum diese Fragen, Mrs. Black?«, gibt er zurück.

»Offenbar scheint er in Gefahr zu schweben.«

»Und Sie?«, kehrt er flugs den Spieß um und bedeutet damit, dass wir nicht länger Höflichkeitsfloskeln austauschen.

Wir taxieren einander. Vom dienstfertigen Butler fehlt nun jede Spur. Der Mann mir gegenüber ist ein völlig anderer. Mit einem Schlag wirkt alles an ihm einschüchternd. Seine Statur, die eben noch wohltrainiert aussah, ist jetzt Furcht einflößend. Sein Blick ist nicht mehr nur aufmerksam, sondern bohrend und verunsichernd. Die Tatsache, dass er sich bei Bedarf beinahe unsichtbar machen kann und seine Anwesenheit kaum bemerkt wird, wenn in ihm doch in Wahrheit ein solch gefährlicher Kern schlummert, beruhigt mich enorm.

»Wie sollte ich?«, sage ich und lächele, da seine Reaktion meine wesentlichen Bedenken zerstreut hat. »Ich stehe doch ebenfalls unter Bewachung.«

»Vorsicht ist immer gut.«

»Tja … Auf jeden Fall ist es eine große Erleichterung zu wissen, dass er in Sicherheit ist«, erwidere ich und schaue ihn vielsagend über den Rand meines Wasserglases hinweg an. »Und dass Sie bereitstehen.«

»Wofür?«

»Na, für alles eben«, antworte ich achselzuckend und gebe mich wieder betont unbekümmert. »Einfach alles.«

Ohne den Blick von mir abzuwenden, stellt er das Glas ab, faltet seine Serviette ordentlich zusammen und legt sie auf die Kücheninsel. »Mr. Black ist um Ihre Sicherheit besorgt.«

»Darum die ganze Aufregung? Ich schätze, ich könnte in den vergangenen sechs Jahren tatsächlich in so mancher verfänglichen Situation gesteckt haben.« Auch wenn ich meinen Tonfall bewusst locker und amüsiert halte, ist er doch clever genug, um die sorgsam gewählten Worte als die Warnung zu verstehen, die sie sein sollen, was ihn dann hoffentlich noch vorsichtiger sein lassen wird. »Und ich hatte insgeheim schon gehofft, er wollte mich nur nicht gehen lassen.«

»Das würde er sicherlich nicht ertragen.«

»Doch, würde er«, kontere ich schnell. »Hat er bereits. Wenn er bloß aufhören könnte, mich als großes Ziel zu betrachten, als Siegespreis für alles, was er geleistet hat, und stattdessen seinen Erfolg genießen würde, schlicht weil er ihn sich verdient hat. Zumindest ich würde ihn gern so sehen.«

»Da ist etwas Wahres dran«, sagt Witte und dreht sein Weinglas am Stiel langsam im Kreis. Er ist kein Mensch, der gedankenlos an etwas herumfingert, daher tut er es ganz bewusst in der Absicht, für mich eine ungezwungene Atmosphäre zu schaffen. »Wie ich hörte, sind Sie in Ihrem vorletzten Collegejahr ins Honours Program für Psychologie an der Columbia aufgenommen worden.«

»Stimmt. Vom tiefsten Südwesten hoch in den Nordosten – was für eine Umstellung!«

»Meines Wissens werden dort an der Columbia aufgrund der hohen Verbleibquote nur zehn Prozent aller Wechselanträge bewilligt. Sie waren eine dieser Auserwählten.«

»Wer hätte nicht gern den Abschluss einer Eliteuni?«, erwidere ich fröhlich. Weiter würde ich bloß ungern in Lilys Vorleben eintauchen. Ich lege erneut die Hand auf seine. »Es gibt lediglich zwei Dinge, die Sie von mir wissen müssen, Witte: Ich habe nur sein Bestes im Sinn, und mein Leben ist ganz darauf ausgerichtet, die Frau zu werden, die er verdient.«

Er studiert mich eine ganze Weile. Dann hellt sich seine Miene auf und nimmt wieder den gewohnt liebenswürdigen Ausdruck an. Er tätschelt meinen Handrücken, steht auf und bringt unsere Teller zur Spüle. Nachdem er sich Handschuhe übergestreift hat, öffnet Witte den Ofen. Der Duft, den die austretende heiße Luft verströmt, lässt einem das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Ich verfolge, wie er jeweils eine Portion Beef Wellington, Kartoffelgratin und grüne Bohnen mit Mandeln auf zwei Teller verteilt. »Wie kommt es, dass Sie noch ledig sind, wenn Sie die Frage gestatten?«, wechsele ich das Thema.

»Das habe ich nie behauptet«, erklärt er und kehrt lächelnd zur Kücheninsel zurück.

»Ach …«, sage ich und bemerke den verschmitzten Schalk in seinen Augen. »Erzählen Sie.«

»Sie erinnern mich sogar an sie. Schön und verführerisch wie eine Schlange, aber auch genauso gefährlich.«

»O Witte«, rufe ich aus und lache lauthals darüber, dass wir einander jetzt verstehen, »etwas Netteres hat noch nie jemand zu mir gesagt!«

Ich nehme noch einen Schluck Wasser. Die Weingläser sind ganz leicht beschlagen, was mir verrät, dass der Syrah perfekt gekühlt ist. Natürlich weiß er, dass es schändlich ist, Rotwein bei Zimmertemperatur zu servieren. Aber ihn so zu kühlen, dass er im passenden Moment genau richtig temperiert ist … nun, das ist eine Kunst.

»Witte.«

Mein Herz macht einen Satz beim Klang deiner tiefen, kraftvollen Stimme. Mit deinem leeren Teller samt Besteck und einem Glas trittst du vom Esszimmer in die Küche. Bei meinem Anblick bleibst du wie angewurzelt stehen.

»Was tust du hier?«, fragst du mit finsterer Miene.

»Was tue ich wohl vor einem so lecker gefüllten Teller?«, gebe ich zurück und werfe dir über die Schulter hinweg einen tiefen Blick zu. Ich spiele das möglichst cool, auch wenn mich dein unvermitteltes Erscheinen reichlich ins Schleudern gebracht hat.

Deine Nasenflügel beben. Ich hebe herausfordernd die Brauen, weil ich nur zu gut weiß, dass solch kleine Provokationen dein Blut höchst vorteilhaft in Wallung bringen. So zeige ich dir, wie stark und dringlich mein Verlangen nach dir ist. Und das sollst du unbedingt wissen.

Im Innern bin ich weit weniger gefasst. Du siehst atemberaubend gut aus. Dein Teint ist von Natur aus leicht gebräunt, was hervorragend zu deinem schwarzen Haarschopf und diesem grüblerischen Dunkel deiner samtig braunen Augen passt. Das leichte Runzeln zwischen deinen Brauen ist neu, doch diese Altersfältchen stehen dir bestens. Ein abendlicher Bartschatten liegt über den angespannten Kiefern, deren ausgeprägte Form die kräftige Kinnpartie solide einfasst und die Sinnlichkeit deiner prallen, vollen Lippen perfekt ausgleicht.

Du bist ein wahres Meisterwerk.

»Darf ich Ihnen das abnehmen?«, bittet Witte.

»Ich mache das schon, Witte«, sagst du und reißt Teller und Glas aus seiner Reichweite, wodurch jedoch das Besteck ins Fallen gerät.

Meine Hand schießt hervor und schnappt die Klinge des Messers zwischen Daumen und Zeigefinger. Synchron dazu hat Witte die Gabel mit der Schnelligkeit einer Kobra in der Luft gefangen. Einen Wimpernschlag lang taxieren wir die Gewandtheit des jeweils anderen. Dann lege ich das Messer ab, stelle mein Glas daneben und wische mir die Finger an der Serviette ab.

»Was zum Teufel sollte denn das nun wieder?«, blaffst du und wirfst Teller und Glas mit weit weniger Sorgfalt in die Spüle, als es das feine Geschirr verdient hätte. »Du hättest dich verletzen können!«

»Reiner Reflex«, wiegele ich ab. »Hätte doch jeder gemacht.«

Du nimmst meine Hand und untersuchst sie eingehend. Du massierst Handballen und Finger, um zu testen, ob irgendwo Blut austritt.

Die unschuldige Berührung übt eine heftige Wirkung bei mir aus. Ein hoffnungsvolles Prickeln wandert meinen Arm hinauf. »Nichts passiert, Liebling.« Meine belegte Stimme verrät, dass das so nicht ganz stimmt. »Hat zufälligerweise geklappt, das ist alles.«

Ich streichele mit meiner freien Hand über deine Wange. Du erstarrst, verschlingst mich mit deinem Blick. Ich wische eine seidig weiche Tolle aus deiner Stirn und fahre dann mit den Fingerspitzen deine Braue entlang. Es ist so schön, dich zu berühren, und niederschmetternd, wenn du dich nur viel zu kurz in meine Handfläche schmiegst.

Sofort schnellst du zurück. Der Blick, mit dem du mich betrachtest, würde Asphalt zum Schmelzen bringen.

»Hätten Sie Lust, uns zum Dessert Gesellschaft zu leisten?«, fragt Witte und legt dein Besteck in die Spüle. »Ich habe indischen Pudding gemacht.« Er spricht ruhig und gelassen, während er ein frisches Weinglas aus dem Regal nimmt und es auf den Platz neben mir stellt. Wie auf allen Kristallgläsern ist eine Lilie darauf eingraviert.

Dein Rücken verspannt sich, da offenbar einfach davon ausgegangen wird, dass du das Angebot schon annehmen wirst. Deine Kiefer malmen so heftig, es ist ein Wunder, dass deine Zähne unter dem Druck nicht abbrechen. Aber am Ende ziehst du doch den Barhocken neben mir heraus, setzt dich und schiebst das frische Glas zur Seite. Ohne deinen sengenden Blick nur eine Sekunde von mir abzuwenden, nimmst du dir stattdessen meinen Wein.

In stummem Tadel heben sich Wittes grau melierte Brauen. »Lily trinkt keinen Wein«, erklärst du ihm und schaust dabei weiter bloß mich an.

»Aber einen Toast kann ich dennoch ausbringen«, werfe ich ein. »Weißt du noch, wie er geht, Liebling?« Ich hebe meinen Arm und proste euch beiden zu. »Auf dich.«

Du schnappst kurz nach Luft, dann machst du mit. »Auf mich.«

»Nie streiten sollen du und ich.«

»Wenn doch« – deine Stimme wird tief und rau –, »blut ich für dich.«

»Auf mich«, beende ich den Spruch und stoße mit dir und Witte an.

Das helle Klingen des feinen Kristalls verhallt schnell, dann bleibt Schweigen zurück.