Lily
M it einem leisen Sirren rauscht der Fahrstuhl vom 96. Stock in die Tiefe. Ich verfolge, wie die Nummern in rascher Folge umspringen, aber mir entgeht dabei keineswegs, dass du dich in die entfernteste Ecke zurückgezogen hast, wo du auf dem Handy E-Mails liest. Du bist wieder ganz hinter deiner wunderschönen leblosen Schale verschwunden. Bedauerst du die freundliche, warmherzige Geste mir gegenüber womöglich schon?
Es schmerzt, und unweigerlich wie die Flut nach der Ebbe steigt die Wut wieder an. Treibst du Psychospielchen mit mir? Dass der Mann, der einen so romantischen Juwelenschatz für seine Angebetete hortet, und der Mann, der nicht einmal mit mir zusammen ein Essen einnehmen will, ein und derselbe sein sollen, fällt mir noch immer schwer zu glauben. Offenbar erträgst du es ja nicht einmal, neben mir im Fahrstuhl zu stehen.
An deinem Ringfinger steckt ein Ehering aus Platin, in deine Manschettenknöpfe und Krawattennadel sind Lilien eingraviert. Du willst der Welt gegenüber unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass du vergeben bist, bloß mir gegenüber hast du diese Bindung bislang nicht unter Beweis gestellt. Und ich beginne auch zu bezweifeln, dass du das je tun wirst. Schlimmer noch, ich beginne, mich damit abzufinden.
Die Fahrstuhltüren öffnen sich in der Tiefgarage, wo der livrierte Fahrer mit dem Range Rover bereits auf uns wartet. Er will mir die Tür aufhalten, aber du bestehst darauf, mir selbst beim Einsteigen zu helfen. Notwendig ist das Ganze nicht, da beim Öffnen der Tür automatisch ein Tritt aus der Karosserie fährt. Du lieferst bloß eine weitere Theaterszene ab, und ich spiele brav meine Rolle, lächele erst dich dankbar an, dann den Fahrer. Kaum erwidert der Fahrer mein Lächeln auf die höfliche Art, die bei hübschen Begleiterinnen bedeutender Männer angemessen scheint, schon musterst du ihn so strafend, dass er schnell nach vorne zu Witte flüchtet.
Du gehst um das Heck des Wagens herum und setzt dich neben mich. Zwischen unseren Plätzen ist der Getränkehalter heruntergeklappt, sodass wir voneinander getrennt sind. Einen Unterschied macht das nicht. Unsere Nähe reicht allemal, um die Spannung in der Luft anzuheizen. Es knistert zwischen uns, unsichtbare Blitze schlagen Bögen und elektrisieren meine Sinne.
Wir verlassen die Tiefgarage und fädeln uns in den Verkehr ein. Du konzentrierst dich schon wieder auf dein Handy und tippst geschickt mit beiden Daumen. Ich schaue aus dem Fenster, sauge die Stadt in mich ein. Die Straßen sind wie immer verstopft, wobei es morgens um diese Zeit besonders schlimm ist. Taxis und große Limousinen beherrschen das Bild, spielen Fangen mit Bussen, deren Seiten mit Werbung für Fernsehshows und Kleidung vollgepflastert sind. Fußgänger aller Art, von Läufern bis zu Geschäftsleuten im edlen Zwirn, bevölkern die Bürgersteige. Pylonen warnen vor einer geöffneten Kellerklappe, wo ein Mann mit Schürze Kisten aus einem Lieferwagen die Treppe hinunterträgt.
Es gibt Musik da draußen. Lachen. Menschen, die zusammen etwas essen. Geschichten, die vertraulich ausgetauscht werden. Verliebte, die allein mit sich beschäftigt sind. New York pulsiert, produziert in jeder Millisekunde Abertausende von Erinnerungen. Aber ich bin weit weg von allem. Noch vor Kurzem habe ich davon geträumt, das Penthouse nie zu verlassen und dort mit dir auf ewig von der Welt abgesondert zu leben. Inzwischen glaube ich nicht, dass ich es noch lange ertragen kann.
Mit einem tiefen Seufzer wende ich mich vom dynamischen Treiben der Stadt ab. Vor mir in der Netztasche am Vordersitz stecken Zeitschriften – Forbes , Robb Report , du Pont Registry und People . Letztere passt so wenig in die Sammlung, dass ich sie herausziehe. Es handelt sich um die Sexiest-Man-Alive-Ausgabe. Das Cover ziert Dwayne Johnson in weißem T-Shirt und Jeans. Er sieht zwar toll aus, aber ich stimme trotzdem nicht mit der Wahl der Zeitschrift überein. Der Sexiest Man Alive sitzt neben mir und möchte lieber nichts mit mir zu tun haben.
Ich überfliege die Seiten, lese Hochzeitsankündigungen von Paaren, die nach meiner letzten Erinnerung noch mit anderen Menschen liiert waren, Werbung für neue Staffeln von Serien, von denen ich noch nie etwas gehört habe, und für Sequels im Kino, die auf mir unbekannten Blockbustern basieren. Ich bin so darauf fixiert, wie stark ich doch den Kontakt zum Leben verloren habe, dass ich dein Foto in dem Bericht erst auf den zweiten Blick bemerke. Du sitzt in einem deiner hervorragend geschnittenen Maßanzüge an einem Konferenztisch. Die Aufnahme konzentriert sich auf dein Gesicht. Deine Augen haben diesen glühenden Blick, dein sinnlicher Mund ist entspannt, aber ohne den Anflug eines Lächelns.
Ich schlage die Zeitschrift zu und stopfe sie zurück in die Netztasche. Dann lasse ich den Kopf gegen die Rücklehne sinken und schließe die Augen.
»Vom Lesen im Auto ist dir immer schon schlecht geworden«, bemerkst du geistesabwesend.
Es ist das erste Mal, dass du die Gegenwart mit der Vergangenheit in Verbindung bringst. Ich unterdrücke die alberne Hoffnung, die sofort in mir aufkeimt. Du kannst nicht beides auf einmal haben: sichere Distanz und intime Nähe. Du wirst dich entscheiden müssen.
»Ich habe nur schlecht geschlafen und bin müde«, erwidere ich. »Eine anständige Trainingseinheit hätte mir gutgetan. Mal richtig ins Schwitzen kommen und mich körperlich voll verausgaben, das wär’s gewesen.«
Ich halte die Augen noch immer geschlossen, kann aber dein scharfes Einatmen hören. »Die Ärzte sagen, du sollst dich schonen«, entgegnest du, und deinem beiläufigen Ton ist nichts anzumerken.
»Ich habe jetzt wochenlang nichts anderes gemacht. Ausgeruht bin ich wirklich genug.«
»Das war doch kein harmloses Nickerchen, du hast im Koma gelegen!«, gibst du erregt zurück. Es folgt eine Pause, dann hast du dich wieder im Griff und ergänzt betont freundlich: »Und wenn ich dich daran erinnern darf, wir haben auch einen Fitnessraum.«
»Nicht ganz dasselbe, findest du nicht?«
Dein Schweigen ist eisig.
»Und selbst?«, piesacke ich dich und drehe meinen Kopf betont gelassen zur Seite, um dich anzuschauen. »Geschlafen wie ein Baby?«
»Wie schlafen Babys denn?«, fragst du zurück und starrst wieder auf das Display deines Handys.
»Keine Ahnung. Sollen wir eins machen und es herausfinden?«
Ein Muskel an deinem Unterkiefer zuckt. »Ich habe gut geschlafen«, behauptest du.
»Lügner«, gebe ich grinsend zurück.
»Sei nicht so biestig, Setareh !« Du klingst beherrscht, lediglich eine winzige Spur Ärger schwingt in deiner Stimme mit. Dieses Maß an Selbstkontrolle kenne ich gar nicht von dir, und es turnt mich genauso an wie deine ungebremste Leidenschaft.
Durch die eintretende Stille dringt die gedämpfte Stimme von Janis Joplin, die ihren Geliebten anfleht, sich doch einfach another piece of my heart zu nehmen. Ich taste nach der Fernbedienung und erhöhe die Lautstärke.
Den Rest der Fahrt verbringe ich damit, mir meine Optionen zu überlegen. Zeit ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann. Ein wenig davon habe ich mir geborgt, aber der Vorrat geht langsam zur Neige.
Ich bin so mit meinen zwiespältigen Gefühlen beschäftigt, dass ich von unserer Ankunft im Krankenhaus und dem Weg zum Beratungszimmer kaum etwas mitbekomme.
»Schön, dass es Ihnen offensichtlich gut geht, Lily«, begrüßt Dr. Hamid mich mit einem herzlichen Lächeln.
Sie nimmt auf einem der Drehstühle an einem schwarzen Konferenztisch mit Chrombeinen Platz. Ich setze mich ihr gegenüber. Du bleibst lieber stehen und lehnst Dr. Hamids freundliche Einladung mit einem kurzen Kopfschütteln ab.
Stattdessen beginnst du, mit der berechnenden Entschlossenheit eines jagenden Raubtiers auf und ab zu laufen. Auf uns Sitzende wirkst du nun sogar noch größer, und deine Unruhe erfüllt den Raum sofort mit Spannung.
Fürchtest du dich etwa vor Ärztinnen, mein Liebster? Oder vor Krankenhäusern? Bereitet der Geruch nach Krankheit und Verfall dir Übelkeit? Gefriert dir das Blut in den Adern, wenn die Spitze einer Nadel durch weiche Haut fährt?
Das zählt zu den Dingen, die ich nicht über dich weiß. Einer der unkalkulierbaren endlosen Fäden, aus denen dein innerster Kern gewoben ist. Denn es sind diese Fäden, von Phobien bis zu manischen Leidenschaften, die in ihrer Verknüpfung den Einzelnen ausmachen.
Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden, dass es unfair wäre, eine Erwiderung meiner Liebe einzufordern. Du liebst dich nicht einmal selbst. Und ich mich selbst auch nicht.
Was für ein Paar wir doch abgeben! Beide total kaputt und doch an den anderen gekettet durch Verlangen und Tod.
»Bitte entschuldigen Sie die Verspätung«, sagt Dr. Goldstein beim Eintreten, was angesichts seiner gemächlichen Ruhe nicht ganz glaubhaft erscheint. Er ist der Psychologe, der die Untersuchungen und Tests bei mir durchgeführt hat. Mit einem Stuhl Abstand nimmt er neben Dr. Hamid Platz.
Dr. Goldstein ist eine eher unauffällige Erscheinung mit ungepflegtem rötlichem Dreitagebart und fast kahlem Schädel. Sein oliv-grau karierter Anzug ist eine Nummer zu groß und bildet einen krassen Kontrast zu Dr. Hamids Salwar Kamiz, der in einem lebendigen Tiefrot unter dem weißen Kittel hervorleuchtet. Während sie für die Gesundung meines Körpers verantwortlich ist, versucht Dr. Goldstein, aus meinem Kopf schlau zu werden.
Ich mag ihn nicht, ganz und gar nicht. Sein akademischer Grad mag höher sein als meiner, aber er gründet lediglich auf trockenem Wissen aus Fachbüchern, wenn überhaupt. Er fixiert mich wie ein Insekt, das er liebend gern unter sein Mikroskop legen würde, doch aus mir wird er niemals schlau werden. Er verfügt weder über die Fähigkeiten noch über die Kraft, es mit meinen Dämonen aufzunehmen.
»Herzlichen Dank, dass Sie es einrichten konnten, Dr. Goldstein«, sagt Dr. Hamid und zeigt ihr gewohnt freundliches Lächeln, aber in ihren Augen liegt ein missbilligendes Funkeln, das ich zu schätzen weiß. Hinter all der Fürsorglichkeit und bunt schillernden Femininität steckt eine Ärztin, die ihre Arbeit ausgesprochen ernst nimmt und die das auch von anderen erwartet.
So unruhig du bislang warst, so reglos stehst du nun plötzlich hinter mir und umklammerst die Rückenlehne meines Stuhls mit beiden Händen.
»Die Aufnahmen der diversen Scans, die wir gemacht haben«, beginnt Dr. Hamid an mich gewandt, »sind von einer Reihe Neurologen begutachtet worden, und deren Meinung lautet durchweg, dass Ihr Gehirn nicht die kleinste Beschädigung oder Beeinträchtigung aufweist.«
»Physisch betrachtet«, merkt Dr. Goldstein an.
»Ja, natürlich«, räumt Dr. Hamid ungehalten ein. »Wir sprechen hier über das Gehirn, nicht über die Psyche. Darüber hinaus sind die Berichte des Physiotherapeuten exzellent ausgefallen. Für eine Frau von Ihrer grazilen Statur verfügen Sie seinen Worten zufolge selbst nach dreiwöchiger Immobilität noch über verblüffende Körperkräfte. Alles in allem sind Sie schlicht eine bemerkenswert gesunde junge Frau.«
»Physisch betrachtet«, schränkt Dr. Goldstein erneut ein.
Unvermittelt ziehst du den Stuhl neben mir heran und lässt deine stattlichen Maße mit einem eleganten Schwung darauf nieder. Diese Macht, die du über dich selbst ausübst, ist schon überaus sexy.
Erst als ich höre, wie heftig du atmest, und sehe, wie verzweifelt dein Körper sich in den viel zu kleinen Stuhl quetscht, begreife ich endlich. Es ist gar nicht die Umgebung, die dich so nervös macht. Du ergreifst meine Hand und drückst sie viel zu fest.
»Ah, Sie waren offenbar besorgt«, bemerkt Dr. Hamid und blickt ihn teilnahmsvoll an. »Das tut mir leid, ich dachte, ich hätte deutlich zum Ausdruck gebracht, wie positiv die Prognose ist. Wir waren zu Beginn nur sehr vorsichtig, vielleicht etwas übertrieben vorsichtig.«
Dein Brustkorb hebt und senkt sich, deine Nasenflügel beben bei jedem Atemzug. Wir warten alle darauf, dass du etwas sagst, aber dann wird mir klar: Du kannst nicht.
»Klingt ja alles sehr beruhigend«, sage ich mit breitem Lächeln, um die Situation zu überspielen.
»Bestehen bei ihr irgendwelche Einschränkungen, was physische Aktivitäten betrifft?«, fragst du, und deine Finger spannen sich an.
Prompt kommt mir wieder deine Bemerkung über den heimischen Fitnessraum in den Sinn und worauf du damit reagiert hattest. Mein Lächeln schwindet aus meinem Gesicht, und ich versuche, meine Hand freizubekommen, aber dein Griff wird so fest, dass ich schon eine Szene machen müsste, wenn ich darauf beharren wollte.
»Nein, derartige Einschränkungen gibt es nicht«, versichert ihm Dr. Hamid mit einem Kopfschütteln.
»Ganz direkt gefragt«, bohrst du nach. »Ich kann also vollkommen bedenkenlos mit meiner Frau Sex haben?«
Ich erstarre. Sollte dich das etwa zurückgehalten haben? Könnte es so einfach sein?
Nein. Das erklärt nicht, warum du mir so entschieden aus dem Weg gegangen bist.
»Ich würde sogar sagen, dass die Wiederaufnahme sexueller Kontakte nach einer solch langen und schmerzhaften Trennung für Sie beide nur von Vorteil sein kann«, erklärt sie mit freundlichem Lächeln.
»Sexuelle Dysfunktion ist eine von vielen Komplikationen, die eine dissoziative Amnesie nach sich ziehen kann«, ergänzt Dr. Goldstein und trommelt dabei mit den Fingern auf der Tischplatte. Er hat die Beine übereinandergeschlagen und die Rückenlehne weit nach hinten gedrückt. »Ich kann nicht stark genug betonen, von welch entscheidender Bedeutung es ist, dass Sie umgehend mit einer Therapie beginnen. Bislang verhalten Sie sich da sehr abwehrend. Ich kann natürlich nachvollziehen, dass es für Psychologiestudierende besonders schwierig sein kann, in eine Selbsterforschung unter professioneller Anleitung einzuwilligen, da sie leicht dem Glauben verfallen, sich selbst auch ohne fremde Hilfe analysieren und diagnostizieren zu können. Allerdings sind Krankheitsbilder wie in Ihrem Fall überaus selten und ein deutliches Anzeichen für ein schwerwiegendes emotionales Trauma.«
»Dessen bin ich mir bewusst«, sage ich und grabe die Finger meiner freien Hand in die Handfläche.
»Ich nicht«, mischst du dich ein. »Würden Sie bitte erklären, welche Befürchtungen Sie haben?«
»Unser Gehirn funktioniert nicht wie eine VHS -Kassette, die man immer wieder löschen und überspielen kann«, fängt Dr. Goldstein an. »Kennen Sie überhaupt noch VHS -Kassetten, Mr. Black?«
»Ja, selbstverständlich«, antwortest du trocken. »Ich bin Jahrgang 83.«
»Ah, jetzt fühle ich mich richtig alt«, sagt er mit einem schiefen Lächeln, das ungekünstelt wirkt. »Ihre Frau hat ihr Trauma abgespalten. Es ist nicht gelöscht, nur abgeschottet. Ihr Unbewusstes weiß, was sie erlitten hat, und wird beim passenden Trigger entsprechend heftig reagieren. Wir wissen nicht, was mögliche Auslöser bei ihr sind. Ein Unwetter. Der Anblick eines Segelboots. Etwas Harmloses wie ein Lied, das sie womöglich gehört hatte. Irgendetwas, das ihr Unbewusstes mit dem Trauma verbindet.«
Während Dr. Goldstein ausschließlich dich beim Sprechen anschaut, beobachtet Dr. Hamid allein mich.
»Im Allgemeinen wird eine solche Amnesie meist bei Kriegsveteranen und Opfern sexueller Gewalt diagnostiziert«, fährt er fort. »In diesen Fällen lassen sich zumindest Vermutungen über bestimmte Trigger anstellen. Hier aber wissen wir nicht, ob ihr Gedächtnisverlust im Zusammenhang mit dem extremen Stress beim Überlebenskampf steht oder mit etwas vollkommen anderem. Vielleicht wurde sie ja auch erst nach Erreichen des Festlands traumatisiert oder während der Rettungsaktion, also in einem Moment besonders ausgeprägter Schutzlosigkeit. Wir wissen einfach nicht, was geschehen ist, bloß dass die Erfahrung das, was ihr Gehirn zu verarbeiten imstande war, weit überstiegen haben muss.«
Du drückst meine Hand so fest, dass mein Ehering sich in den Finger schneidet. Deine Augen spiegeln den Horror, den dein Kopf sich gerade ausmalt. Ich möchte nicht, dass du zu Selbstquälereien getrieben wirst, aber wahrscheinlich tust du nichts anderes, seit du mich wiedergefunden hast, und dieses Gespräch befeuert nur noch einmal deine schlimmsten Befürchtungen.
Dr. Goldstein spricht immer lebhafter, seine Augen leuchten vor eifriger Wissbegier. Ein seltener Fall ist ihm ins Visier geraten, und er ist versessen darauf, ihn ausgiebig zu studieren.
»Die letzten sechs Jahre ihres Lebens sind das, was man eine dissoziative Fugue nennt«, erklärt er. »Mit anderen Worten: Ihr Trauma war derart schwerwiegend, dass ihr Gehirn ein komplettes Reset durchgeführt hat. Zu dem bis dahin gewohnten Leben zurückzukehren, wurde als nicht zu bewältigende Option verstanden.«
Du räusperst dich und sagst: »Es gab keine Anzeichen, dass ihr die Situation zu Hause oder die Beziehung zu mir Unwohlsein verursacht hätte.«
»Das demonstrative Desinteresse, das Ihre Frau nach einer solch extremen Erfahrung zeigt, ist eine häufig anzutreffende Reaktion«, übergeht er deinen Einwurf achtlos und setzt seine Beurteilung unbeirrt fort. »Sie ist ebenso geläufig wie Disstress oder Verwirrung. Auch ohne die Ursachen ihres Traumas zu kennen, lassen sich einige der wahrscheinlichsten Folgen absehen. So könnte sie Albträume und Flashbacks haben. Ess- und Schlafstörungen könnten sich einstellen. Sie könnte Anzeichen von selbstverletzendem Verhalten zeigen. Depressionen und Suizidgedanken sind durchaus reale Gefahren, vor allem wenn sie das Trauma nicht in der geschützten Umgebung einer professionellen Therapie wieder zum Vorschein bringt.«
»Nichts von alldem ist bislang aufgetreten«, wende ich ein.
Dr. Goldstein richtet abrupt den Oberkörper auf und beugt sich über den Tisch. »Kam es Ihnen vor, als wären Sie losgelöst von sich selbst und Ihren Emotionen? Erschien Ihnen die Art, wie Sie Ihre Umgebung oder die Menschen um Sie herum wahrnehmen, irgendwie unwirklich oder verzerrt? Haben Sie das Gefühl, als würde Ihre Identität nicht ganz zu Ihnen passen, als wäre sie verrutscht oder unklar?«
Eine eisige Kälte erfüllt mich. Angst sinkt in meine Magengrube wie ein zentnerschwerer Felsbrocken.
»Mir fehlen sechs Jahre, Herr Doktor«, sage ich so ruhig wie möglich. Ich bin doch nicht so blöd, jetzt erregt zu kontern und sofort für hysterisch erklärt zu werden. »Die Welt hat sich in vielerlei Hinsicht verändert. Ich komme mir vor wie eine Zeitreisende, aber ich wage zu behaupten, dass das keineswegs unverständlich oder überraschend so ist.«
»Wie behandelt man denn so etwas?«, willst du wissen.
»Wir versuchen, ihre Erinnerung mithilfe von Hypnose wiederzuerwecken. Medikamente können ebenfalls verabreicht werden, um das Vorgehen zu erleichtern. Dann arbeiten wir gemeinsam daran, das Trauma freizulegen, und behandeln es.«
Ich lache innerlich. Mit welch mittelalterlichen Methoden sich doch um die psychische Gesundheit gekümmert wird! Kein Wort darüber, wie er mich zu behandeln gedenkt, als wäre ich gar nicht anwesend oder sowieso unfähig, sein Vorhaben zu verstehen. Dr. Goldstein wird nicht zu seiner eigenen Erbauung in meinem Kopf herumwühlen.
Du schaust mich an. Ich wende dir meinen Blick zu und lasse dich meine Gedanken durch die Fenster meiner Seele lesen. Dein schraubstockartiger Griff lockert sich, dann drückst du noch einmal beruhigend zu, und das Blut strömt prickelnd zurück in meine Finger.
»Schönen Dank für die Erläuterungen, Herr Doktor«, sagst du. »Und vielen Dank Ihnen, Dr. Hamid, für die hervorragende medizinische Betreuung meiner Frau. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«
»Ja«, bestätige ich. »Tausend Dank.«
»Von Zeit zu Zeit begegnen wir tatsächlich kleinen Wundern«, erklärt sie lächelnd. »Dass Sie sich nichts gebrochen und auch sonst keine inneren Verletzungen davongetragen haben, ist sicherlich eines davon. Ich habe Ihnen mit dem größten Vergnügen geholfen, soweit es in meiner Macht steht, Lily, und freue mich sehr, Sie nun wieder so fit vor mir zu sehen.«
»Wann würden Sie denn gern mit der Behandlung anfangen?«, drängt Dr. Goldstein. »Ich könnte heute Nachmittag noch einen Termin freischaufeln. Wir sollten wirklich keine Zeit verlieren.«
Du erhebst dich mit lässiger Eleganz und bietest mir deine Hand an. Ich kann die Hilfe gut gebrauchen. Meine Beine sind wacklig, meine Gedanken überschlagen sich. Nichts von dem, was hier gesagt wurde, war neu für mich. Bislang hatte ich nur die Konsequenzen daraus gemieden, aber das geht jetzt nicht länger.
»Wir verlassen die Stadt für eine Weile«, erzählst du ihm. »Wir werden uns bei Ihnen melden, sobald wir wieder zurück sind.«
Dr. Goldstein verzieht den Mund. »Ich kann nur wiederholen, dass ich Ihnen und Ihrer Frau davon abraten würde zu versuchen, ohne eine unterstützende Therapie zurechtzukommen«, sagt er in kühlem Ton. »Menschen mit dem Krankheitsbild Ihrer Frau haben enorme Schwierigkeiten, Beziehungen zu unterhalten. Den Intimverkehr wieder aufzunehmen könnte einer erneuten emotionalen Bindung in Ihrer Ehe eher im Weg stehen als ihr nutzen.«
»Zur Kenntnis genommen«, erwiderst du knapp, bevor du den Ärzten noch einmal dankst, ihnen die Hände schüttelst und mich aus dem Beratungszimmer führst.
Du sagst nichts, während wir auf den Fahrstuhl warten, obwohl wir allein sind. Immerhin hältst du mich fest an dich gedrückt, während du mit der freien Hand schnell eine Nachricht in dein Handy tippst. Sobald wir in der Kabine abwärtsgleiten, schlingst du von hinten deine Arme um mich. »Er ist ein aggressiver Typ«, flüsterst du. »Seine Art hat dir Unbehagen bereitet. Es tut mir leid, dass ausgerechnet er all diese Tests durchgeführt hat, denen du dich unterziehen musstest. Du hättest etwas sagen sollen.«
Mein Körper spannt sich an, meine Atmung wird flach. Dich jetzt so nah zu spüren, nachdem du eben im Fahrstuhl zur Tiefgarage noch so distanziert gewesen warst, verwirrt mich. »Das ist kein Thema, über das ich gern mit Witte rede«, sage ich nur.
Deine Hitze brennt in die eisige Kälte in mir. Dein extrem männlicher Duft umhüllt mich und bewahrt mich so vor dem feindseligen Geruch nach kraftvollem Desinfektionsmittel und angsterfüllter Krankheit.
Du greifst mich so fest, dass deine Brust gegen meinen Rücken drückt. »Ich habe auf ganzer Linie Fehler gemacht, was?«, hauchst du. »War übervorsichtig.«
»So könnte man es auch nennen«, erwidere ich und versuche, mich aus deiner Umklammerung zu befreien, aber du lässt es nicht zu.
»Ich durfte doch nicht riskieren, dich zu schnell zu weit zu treiben, vor allem da alle Mediziner mich davor gewarnt haben, dich Stress auszusetzen. Und verhalten sind meine Gefühle für dich nun ganz bestimmt nicht.«
»Vielleicht hast du auch einfach gar keine für mich.«
»Setareh «, raunst du und presst deine Lippen auf meine Schläfe, während du mich fest umfasst. »Ich will dich viel zu sehr. Das habe ich immer. Es tut mir leid.«
Nicht zu wissen, ob du es ehrlich meinst, ist die heimtückischste Form von Folter. »Du hättest dir deine Lüge vom Verreisen ruhig sparen können«, erkläre ich. »Ich wollte ihm gerade klarmachen, dass er nicht die geringste Chance hat, mein Hirn mit Medikamenten, Hypnose oder was weiß ich noch anzuzapfen. Er will bloß eine Fallstudie, die er veröffentlichen und für irgendwelche Vorlesungen benutzen kann. Ich werde nicht zulassen, dass jemand aus meinen Erinnerungen persönlichen Profit schlägt.«
»Das war gar keine Lüge«, korrigierst du mich. »Und ich stimme ganz mit dir überein, dass der Mann ein aufgeblasenes Arschloch ist. Allerdings«, fügst du amüsiert hinzu, »ist uns seine Arroganz auch sehr zu Diensten gewesen, als er von der Polizei befragt wurde. Denn die Richtigkeit seines Befunds wird er bis ans Ende seiner Tage verteidigen.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. War Dr. Goldstein nun für mich die beste Wahl oder nur die vorteilhafteste unter diesen Bedingungen? Wissen wird man es wohl nie, selbst wenn du bereit wärst, mir darauf zu antworten.
»War seine Erklärung zutreffend?«, erkundigst du dich.
Ich frage gar nicht erst nach, welchen Teil du meinst, denn eigentlich war alles zutreffend, und außerdem platze ich gerade vor Neugier. Und Hoffnung. Wohin verreisen wir? Wie lange ist eine Weile ? »Ja«, antworte ich bloß.
»Wärst du bereit, jemand anderen aufzusuchen?«, fragst du weiter, und deine tiefe, bedächtige Stimmlage besänftigt mich auf der Stelle. Schon früher hast du mich damit verzaubert. »Ich halte es für unerlässlich, dass du es zumindest versuchst.«
»Warum?«, entgegne ich. »Soll das etwa der Versuch sein, unsere Ehe zu retten? Oder hoffst du nur, ein bisschen Psychoanalyse könnte mich dazu triggern, dich zu vergessen und erneut von der Bildfläche zu verschwinden? Schließlich hast du bislang ja durch nichts angedeutet, dass du mich gern in deiner Nähe hättest.«
Eine hoch aufgeladene Stille setzt ein.
»Du bist Jahre weg gewesen«, zischelst du in mein Ohr. »Willst du überhaupt nicht erfahren, was in dieser Zeit geschehen ist?«
Der Fahrstuhl erreicht das Erdgeschoss und bremst sanft ab. Du nimmst meine Hand, und wir durchqueren die Eingangshalle zum Vordereingang. Du verkleinerst deinen Schritt, damit wir im gleichen Rhythmus laufen. Köpfe drehen sich um, Blicke folgen uns. Wie sollte es auch anders sein? Du bist so groß und attraktiv, und auch ich bin dank meiner High Heels knapp eins fünfundachtzig groß.
Du strahlst Selbstbewusstsein aus und eine Energie, die sich aus deinem inneren Feuer speist. Aus vielerlei Gründen und in vielerlei Hinsicht ist es ein leidvolles Vergnügen, an deiner Seite zu laufen.
Draußen drängst du mich in eine Nische neben dem Eingang, um dem Besucherstrom an den automatischen Schiebetüren auszuweichen.
»Ich habe dich etwas gefragt, Setareh . Gib mir eine Antwort.«
»Wen kümmert’s, woran ich mich erinnere? Viel zu retten scheint es bei unserer Ehe doch nicht zu geben. Was willst du von mir, abgesehen davon, dass ich deine Schmuckkollektion zur Schau tragen soll?«
Deine markanten Wangenknochen treten heraus.
Verbittert fahre ich fort: »Du willst meine Gesellschaft nicht. Du willst mich nicht vögeln. Nicht einmal das Schlafzimmer willst du mit mir teilen. Hast du vor, lieber andere Frauen zu ficken? Wo wir gerade dabei sind: Wie hat das eigentlich geklappt, wenn ich ständig von diesem gigantischen Foto aus zusehe? Oder ist das der Witz daran? Magst du es, wenn ich zuschaue? Ist das den anderen nicht unheimlich? Wahrscheinlich nicht. Du bist ja dermaßen toll, sexy und reich, dass sie sich von dir vermutlich auch mitten auf dem Times Square flachlegen ließen.«
Wütend erwidere ich deinen ruhigen Blick. »Fertig?«, fragst du nach einer Weile.
»Stehen mir eigentlich dieselben sexuellen Freiheiten zu?«
Jetzt wird dein Blick schon hitziger. Doch du zügelst dich und bleibst beherrscht.
Die Tatsache, dass ich dich nicht einmal mit der Vorstellung, ich würde mit anderen Männern schlafen, aus der Fassung bringen kann, sagt mir alles, was ich wissen muss. Nur eine Sache wäre da noch … »Warum bittest du mich nicht einfach um die Scheidung? Du kannst all mein verfluchtes Geld haben. Inklusive Baharan und allem. Ich will bloß meinen Frieden.«
Ich mache einen Schritt um dich herum und jaule schmerzerfüllt auf, als du mich unvermittelt am Arm zurückreißt wie ein widerspenstiges Kleinkind, das diszipliniert werden muss. Du schlingst deine Arme fest um mich. Dein mächtiger, muskulöser Körper strahlt Wildheit und Gewalt aus. Und ich stelle mit Vergnügen und einiger Verblüffung fest, dass du eine eindeutige – und ziemlich eindrucksvolle – Erektion hast.
»Ist das wirklich alles, was du willst?«, hauchst du mit tiefer, drängender Stimme, und dabei sind deine festen, sinnlichen Lippen nur einen Fingerbreit von meiner Stirn entfernt.
»Ich weiß gar nicht, was Frieden ist, Kane, weiß also nicht einmal, was ich mir da wünschen sollte. Alles, was ich brauche, bist du. Daran hat sich nie etwas geändert.«
»Setareh «, stöhnst du auf und presst deine Lippen auf meine Stirn. Die Geste ist so schlicht, und dennoch spüre ich, wie alle Spannung aus meinem Körper fließt. »Darauf habe ich gewartet – aus deinem Mund zu hören, dass du mich noch willst.«
»Du schienst so wütend auf mich zu sein.«
»Und ob«, knurrst du zurück. Du löst dich von mir und grinst teuflisch. »Du hast eine Entscheidung gefällt, die für mich sechs Jahre ohne dich bedeutete! Da war ich auf dich sauer, das stimmt!«
Die eisige Kälte in meinen Adern schwindet. Die Abdrücke deiner Finger werde ich zwar noch tagelang auf meiner Haut tragen, aber das ist mir egal. Kaum sträube ich mich nicht mehr in deinem Griff, lockert der sich auch schon.
»Beschissen habe ich heute Nacht geschlafen«, sagst du in sanfterem Ton. »Wie jede Nacht, die ich ohne dich verbringen musste. Wenn du ein Baby möchtest, werden wir eins bekommen. Wenn du keine Therapie machen möchtest, werden wir es lassen. Wir haben getrennte Schlafzimmer, weil ich deine Sachen nicht wegwerfen konnte, es aber auch nicht ausgehalten hätte, sie tagtäglich zu sehen, zu riechen und zu berühren.«
Du legst die Hände um mein Gesicht und lehnst die Stirn gegen meine. »Wir haben bei der Hochzeit gelobt, uns treu zu sein, und das werden wir. Du wirst es sein. Und ich werde es mit absoluter Sicherheit sein. In meinem Schlafzimmer ist nie eine andere Frau gewesen. Und dass wir uns scheiden lassen, kommt weder jetzt noch irgendwann jemals infrage. Habe ich etwas vergessen?«
Dein Daumen streicht immer wieder sanft und anregend über meinen Oberarm. Die zärtliche Geste geschieht unwillkürlich, aus einem bloßen Instinkt heraus.
»Was, wenn es besser wäre, gar nicht zu wissen, was ich die letzten sechs Jahre so getrieben habe?«, frage ich. »Was, wenn es schreckliche Dinge waren?«
»Mir egal. Das ändert gar nichts.«
»Was, wenn ich auf den Strich gegangen bin?«, lege ich nach. Es schmerzt, dich zusammenzucken zu sehen. »Was, wenn ich mit Waffen oder Drogen gedealt habe? Leute ausgeraubt oder umgebracht habe? Wer zum Teufel weiß das schon?«
»Wen zum Teufel schert’s?«, erwiderst du mit wiedererwachtem Temperament. »Wie gesagt, es ist mir egal. Du warst damals jemand anders. Du warst Ivy York.«
»Aber Ivy York steckt in mir«, entgegne ich. »Sie ist kein abstraktes Wesen. Sie hat existiert. Sie existiert noch. Wenn ich perfekt sein muss, damit du mich liebst, ist die Sache schon gestorben.« Ich wende den Blick ab und sehe gerade, wie der Range Rover am Bordstein anhält. »Wäre dir das lieber? Die Sache gleich hier und jetzt zu beenden, und du bist frei?«
»Du musst nicht perfekt sein, und ich will nicht frei sein«, stellst du klar. Deine Finger umklammern mein Kinn und drehen den Kopf zu dir. »Dass du überhaupt auf die Idee kommen kannst, ich würde dich nicht wollen, beweist nur, was ich hier für einen Riesenscheiß gebaut habe.«
Du nimmst meine Hand und führst mich zum Wagen.
Witte wartet an der geöffneten Tür und behält dabei mit geübtem Blick die Straße in beiden Richtungen im Auge. Der Schnitt seiner Jacke ist so exquisit, dass lediglich ein geschulter Betrachter die Schusswaffe im Schulterholster bemerken würde.
Der Himmel ist strahlend blau. Die aufsteigende Sonne spiegelt sich gleißend in den kilometerlangen Glasbändern, die die Stahlgerippe der Hochhäuser umlaufen. Der Tag ist viel zu schön, viel zu makellos, um so zu bleiben.
Mein Atem geht schnell und flach, mein Herz rast. Du warst du selbst, wenigstens einen Moment lang. Ich konnte dich sehen. Dich hören. Konnte spüren, wie du mich berührst.
Ich will gar nicht unbedingt Sex, obwohl ich auch nicht unbedingt etwas dagegen hätte. Was ich brauche, ist deine Zärtlichkeit. Deine Zuneigung. Ich würde alles dafür tun, dich zu mir zurückzubringen. Sogar das.
»Wenn wir jemand finden, dem ich vertraue, mache ich es«, biete ich an, da ich einfach unfähig bin, der Hoffnung auf mehr zu widerstehen. Dabei ist da inzwischen womöglich gar nichts übrig, was du mir über deine bloße Lust und die Insignien deines Erfolgs hinaus geben könntest. Verlust ist eine Keule, die dein Ich zerschmettert und ein neues hervorbringt. Wer solch ein Leidenstal durchlaufen hat, ist nie wieder derselbe. Hält Lily dein Herz so fest gepackt, dass es nie mir gehören wird? Vielleicht wirst du in mir stets die Quelle des Leids sehen und in ihr die Quelle des Glücks.
Kann ich damit leben, alles zu haben, außer Liebe? Bleibt mir eine Wahl? Ohne dich fehlt mir der Anker.
»Danke«, sagst du, als wir einsteigen.
»Möchten Sie vorab noch beim Penthouse vorbei?«, fragt Witte.
»Nicht nötig«, antwortest du. »Wir werden bei unserer Ankunft alles vorfinden, was wir brauchen.«
Ich hätte gern gewusst, was du vorhast, wohin wir fahren, aber wenn du es mir verraten willst, wirst du es schon sagen. Die Vorstellung einer stationären Einweisung geistert mir kurz durch den Kopf, aber ich weigere mich, daran zu denken. So etwas würdest du mir nicht antun. Niemals. Oder?
Ich gleite auf die Rückbank, und du betrachtest mich mit einem vagen Lächeln. »Würdest du dir gern noch die Zentrale von Baharan ansehen?«, fragst du. »Bevor es losgeht.«
Wenn ich eines im Leben gelernt habe, dann, dass man die kurzen Augenblicke des Glücks weidlich auskosten sollte, sobald sie sich endlich einmal einstellen. »Mit Vergnügen schaue ich mir an, was du aufgebaut hast.«
»Was wir aufgebaut haben«, verbesserst du mich und schließt die Tür. Sofort dämpfen die getönten Scheiben das strahlende Sonnenlicht.