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Amy

E ine heiße, nasse und ekelhaft stinkende Zunge leckt über mein Gesicht. Meine Arme schlagen wild um sich, erwischen etwas Schweres, Muskulöses, das stark behaart ist. »Was soll der Scheiß?«

O Gott, mein Kiefer schmerzt, als hätte mir jemand einen Eispickel in den Knochen gerammt.

Die Zunge leckt meinen Oberarm. Ich reiße die Augen auf und kneife sie angesichts des grellen Sonnenlichts sofort wieder zu. »Verflucht. Hau ab, lass mich in Ruhe!«

Ich drücke mich auf die Ellbogen und erkenne, dass ich auf dem tiefen Sofa einer cremefarbenen Wohnlandschaft liege. Ich brauche eine Weile, um mich zu orientieren und zu erkennen, dass es sich um Suzannes Wohnzimmer handelt. An den in fröhlichem Gelb gehaltenen Wänden hängen geschnitzte Masken und Wandteppiche mit Landschaftsbildern. Ein hohes Jaulen lenkt meine Aufmerksamkeit auf den blonden Labrador, der erwartungsvoll und ungeduldig neben mir hockt.

»Oh, Scheiße, tut mir leid, Ollie«, sage ich und kraule ihm entschuldigend den Kopf. »Ich bin nun mal kein Morgenmensch. Außerdem riecht dein Atem wirklich grauenhaft. Aber ich habe dich trotzdem wahnsinnig lieb.«

»Es ist schon mitten am Nachmittag«, bemerkt Suzanne trocken und tritt durch die Küchentür. Ihre schwarze Lockenpracht ist von einem bunten Head Wrap gebändigt, das Gesicht ist ungeschminkt, und ihre kurvenreiche Figur steckt in einem fantastischen Seidenkaftan. »Und Ollie bekommt regelmäßig die Probiotika, die die Tierärztin gegen seinen Mundgeruch empfohlen hat. Es ist eindeutig besser geworden.«

»Ugh«, sage ich erschrocken. »Na, wenn das besser ist, muss es vorher echt nach Verwesung gerochen haben.« Ich setze mich auf und reibe mir den Schlaf aus den Augen. »Was zum Teufel mache ich auf deinem Sofa? Und wo ist meine Handtasche? Ich brauche meine Pillen.«

Sie nimmt meine Gucci Dionysus von einem verspiegelten Konsolentisch neben der Eingangstür und bringt sie mir. »Was nimmst du denn? Und wogegen?«

»Ich hatte vor ein paar Tagen eine Wurzelbehandlung, ein Notfall«, antworte ich. »Sie haben mir Hydrocodon und eine Megadosis Ibuprofen gegeben.« Ich schleudere die Decke fort und setze die Füße auf den Boden. Ich trage den Pyjama, den ich am Morgen zuvor angezogen hatte, weil die weit geschnittene Hose dem am nächsten kam, was Lily bei dem Familientreffen in Kanes Bibliothek angehabt hatte. Zu meinem Lingerie-Set gehört allerdings ein passendes Top mit einem Schnürteil im Rücken, was ganz wunderbar meinen flachen Bauch betont. Im Ernst: Mein Ensemble ist tausendmal sexier und bequemer als das, was Kanes Bitch damals getragen hat.

Ich stehe auf und schenke mir an Suzannes Barwagen aus Messing und Glas einen Gin Tonic ein. Ich halte den Kopf gesenkt, um meinen erschrockenen Gesichtsausdruck zu verbergen. Zwischen meinen Beinen fühlt es sich wund und klebrig an. Kein Zweifel, ich muss Sex gehabt haben, aber erinnern kann ich mich an nichts.

Bitte, bitte, lieber Gott, lass es meinen Mann gewesen sein.

»Du solltest keinen Alkohol trinken, wenn du Schmerzmittel nimmst«, erklärt Suzanne mir.

Ich drehe mich um, schaue ihr direkt in die Augen und spüle die Tabletten mit meinem Drink herunter. Eigentlich sollte Gin Tonic in Raumtemperatur eine Zumutung sein, aber für mich schmeckt er wie Ambrosia. »Darius hat zu Hause den gesamten Alkoholvorrat rausgeschmissen«, sage ich. Zumindest das, was er finden konnte. »Und ich brauche jetzt einfach einen Schluck.«

»Du brauchst vor allem etwas zu essen. Wenn du solche Medikamente auf leeren Magen nimmst, bekommst du Brechdurchfall.«

Ich werfe ihr einen finsteren Blick zu, doch sie hat mir bereits den Rücken zugekehrt und ist wieder in der Küchentür verschwunden. Mit einer raschen, routinierten Handbewegung kippe ich den Rest meines ersten Cocktails herunter, mische mir einen zweiten und trinke davon so viel ab, dass das Glas genauso voll ist wie zuvor und Suzanne nichts bemerkt.

Nachdem ich meinen Drink auf der als Couchtisch dienenden Truhe abgestellt habe, suche ich das Bad auf, um meinen Körper zu inspizieren. Mein Atem geht stockend. In meinem Slip befindet sich eine beträchtliche Menge Sperma, vermischt mit vagen Spuren von Blut. Der Geruch bringt mich zum Würgen. Ich rieche an mir, aber ich stinke nicht wie eine Nutte. Irgendwann muss ich also geduscht haben, und womit ich jetzt durchtränkt bin, muss danach aus mir gelaufen sein. Ekel kriecht in endlosen Wellen über meine nackte Haut.

Meine ausgetrockneten Augen brennen so stark, dass sogar das Blinzeln schmerzt. Ich pinkele, und anschließend ist das Wasser in der Toilette rosafarben.

»Kommt schon vor, dass Darius so grob ist«, flüstere ich vor mich hin. So hitzig und dominant, wie er als Liebhaber ist. Nach Sex mit ihm war ich schon häufig wund.

Ich benutze Suzannes feuchtes Toilettenpapier, um mich sauber zu machen, stopfe das Spitzenhöschen – eine meiner neuen wunderschönen Boy Shorts – ganz unten in ihren Mülleimer und bedecke es mit den gebrauchten Tüchern und anderem Abfall.

Beim Händewaschen betrachte ich mich im Spiegel. Tiefe Furchen fassen meine Mundwinkel ein. Und auch auf meiner Stirn beginnen sich deutliche Falten abzuzeichnen. Meine nächsten Botox-Injektionen wären längst fällig gewesen, aber ich habe einfach keine Zeit dafür gefunden. Was mich jedoch am meisten schockiert, sind meine Augen. Sie haben breite Ränder, und das Grün der Iris hat sich so verfinstert, dass sie wie rein schwarze Höhlen aussehen, hinter denen ich ein seelentiefes Grauen erblicke, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Ich reiße das Handtuch vom Ständer, presse es vor meinen Mund und schreie in den Frotteestoff, bis ich schwarze Punkte vor mir sehe.

Ein paar Minuten später trete ich mit gestrecktem Rücken und erhobenem Kopf aus dem Bad. Ich nehme meinen Drink und gönne mir noch einen tiefen Schluck, um das dumpfe Pochen in meinem Kiefer zu betäuben, das nach meinem Minizusammenbruch schlimmer geworden ist. Es lässt sich nicht länger aufschieben, ich muss überall in unserer Wohnung versteckte Kameras installieren. Ein Dutzend dieser winzigen Dinger liegen bereits seit über einem Jahr gut versteckt in einer meiner Kleiderschubladen. Ich hatte zwar den Mut aufgebracht, sie anzuschaffen, aber nicht, sie auch zu benutzen. Dafür war meine Angst vor dem, was ich dann womöglich sehen würde, zu groß.

Inzwischen habe ich mehr Angst vor dem, was ich nicht sehe.

»Komm, damit du wenigstens etwas im Magen hast«, sagt Suzanne und stellt ein Croissant auf den Esstisch.

Ich setze mich zu ihr und betrachte sie über den Rand meines Glases hinweg. Ihre Haut ist makellos. Anders als bei mir, keinerlei Runzeln, keinerlei Falten. Ihre dunklen Augen wandern in den Winkeln leicht nach oben, wo sich auf der Stirn in diesem Moment zumindest Sorgenfalten abzeichnen.

»Wann bin ich überhaupt gekommen?«, frage ich.

»Heute Morgen kurz nach fünf.«

»O Gott, zu so einer unchristlichen Zeit! Tut mir leid.«

»Schon okay«, sagt sie und schürzt die Lippen. »Darius hat dich gesucht und so gegen sieben angerufen. Ich habe ihm gesagt, du seist die ganze Zeit hier gewesen.«

Ich atme erleichtert auf. »Danke.«

»Er ist auf dem Weg. Alles in Ordnung zwischen euch?«

»Klar doch«, antworte ich und füge, da mich ihre Augen unter den dichten Wimpern immer weiter anstarren, erklärend hinzu: »Er macht seit Monaten ständig Überstunden, seit Kane nicht mehr ins Büro kommt. Und nun ist Kane mit seiner Angetrauten auf Reisen gegangen, und Darius klotzt noch mehr ran.«

Allerdings will er nicht, dass Kane – oder dieses Satansweib von Mutter – davon erfährt, wie sehr er sich um die Geschäfte kümmert . Und wahrscheinlich seine Sekretärin mittlerweile gleich täglich vögelt statt bloß freitags. So spät, wie er immer nach Hause kommt, muss da neben Arbeit auch Vergnügen im Spiel sein.

»Echt?«, wird Suzanne plötzlich munter. »Wo sind die beiden denn hin?«

»Das weiß niemand so genau, aber Lily hat angerufen, um zu hören, wie es mir geht, und die Nummer hatte eine Vorwahl aus Connecticut. Ich habe nachgesehen, aber sie steht nicht im Verzeichnis.« Ich breche ein Stück vom Croissant ab und stopfe es mir in den Mund. »Witte weiß ganz bestimmt, wo die beiden stecken«, fahre ich kauend fort, »allerdings ist der auch verschwunden.«

»Mit ihnen?«

»Womöglich«, antworte ich. »Vielleicht haben sie ja eine Ménage-à-trois.«

»Das meinst du doch nicht ernst.«

»Warum nicht?«, erwidere ich und beiße ein großes Stück vom Croissant ab. Es schmeckt wundervoll buttrig, und ich stelle fest, dass ich einen Bärenhunger habe. »Witte ist doch so ein Arschkriecher, da kann ich mir alles vorstellen.«

»Um Gottes willen, hör auf!« Suzanne stößt ein schnaufendes Lachen aus und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. Die Kupfer- und Türkistöne des hübschen Blumenmusters auf ihrem Kaftan unterstreichen ihren milchschokoladenfarbenen Teint. Sie hat irgendetwas Majestätisches an sich, das mir zutiefst verhasst ist. Eine vor stiller Unerschütterlichkeit triefende Vornehmheit, die vollkommen mühelos wirkt.

»Sieht Lily wirklich so umwerfend aus?«, fragt sie.

»Absolut irre«, erkläre ich und wische mir den Mund ab. »Wenn sie vor einem steht, hält man ihre Schönheit fast für unwirklich. Als wäre sie eine Androidin oder so was.«

»Mögen die anderen in der Familie sie?«

Als ich lache, fällt mir selbst auf, dass es eine Spur hysterisch klingt. Ich erinnere mich noch an das Gefühl, als Lily die Arme um mich legte, und an den Ton, mit dem sie mir ins Ohr flüsterte. Sie hätte mich beinahe zum Weinen gebracht, und ich kann bis heute nicht begreifen, warum. Aber ich hasse sie dafür.

»Ramin hat sie schon um den Finger gewickelt«, antworte ich kauend. »Er schwärmt unablässig davon, dass man sie als Model für die neue Make-up-Linie nehmen muss. Was Darius von ihr hält, weiß ich gar nicht richtig. Er traut ihr nicht, aber er traut ja den meisten Leuten nicht. Rosana sieht in Lily die große Heldin einer tragischen Liebesgeschichte. Aliyah wäre es bestimmt am liebsten, wenn sie wieder sterben würde, da bin ich mir sicher. Aliyah erträgt einfach keine Frauen, die im Leben ihrer Jungs eine wichtigere Rolle spielen als sie.«

»Deine Schwiegermutter scheint ja ein echter Albtraum zu sein.«

»Der Teufel in Person. Die fleischgewordene Hölle auf Erden.«

»Und was hältst du von Lily?«

Ich schaue aus dem Fenster in den strahlend blauen Himmel, der sich über den niedrigen Gebäuden auf der gegenüberliegenden Straßenseite ausbreitet. Irgendwo da draußen hat Lily nun schon seit Tagen Kane allein für sich. Wie ich Kane kenne, dürfte sie sich inzwischen ebenso aufgeschwollen und wund fühlen wie ich mich. Nach meiner Nacht mit ihm konnte ich tagelang nicht normal laufen.

Der Gedanke an Sex löst die mentale Sperre, die den Drang zu schreien bislang gebändigt hat. Ich kämpfe gegen die Tränen an, bis meine Kehle schmerzt, und würge den Rest des Croissants runter, das auf einmal nach Karton mit Sägespänen schmeckt. »Sie ist ganz in Ordnung«, bringe ich heraus. »Ich kenne sie aber nicht wirklich. Immerhin bringt sie Aliyah zur Weißglut, was allein schon für sie spricht.«

»Wo bist du heute Nacht eigentlich gewesen?«, bohrt Suzanne nach. »Ich meine, bevor du hier aufgetaucht bist.«

»Ich musste nur mal raus«, erzähle ich. »Und ich brauchte etwas zu trinken. Also bin ich in eine Bar, wo ich ein paar Mädels kennengelernt hab, die grad hier Urlaub machen, und später bin ich mit ihnen in deren Hotel, um Gras zu rauchen.« Die Lügen kommen mir leicht über die Lippen, und sobald sie ausgesprochen sind, bilden sie auch schon die Wahrheit. Die Nacht hat eine Neufassung erhalten, in der alles Unbekannte aus meiner Sicht der Dinge dauerhaft gelöscht wurde. »Ich schätze, Kiffen plus Alkohol plus Schmerzmittel haben mich am Ende umgehauen.«

»Du trinkst zu viel, Amy«, sagt sie leise und blickt mich dabei missbilligend an. »Ich sage dir das als gute Freundin.«

»Nun, als meine gute Freundin könntest du dich einfach um deinen eigenen Scheiß kümmern«, erwidere ich. »Ich habe mich amüsiert. Die Mädchen waren super. Aus Minnesota, haben sie gesagt, glaube ich. Oder war’s Michigan? Irgend so was jedenfalls.« Ich hole mein Smartphone aus der Handtasche. Dutzende verpasste Anrufe und unbeantwortete Nachrichten von Darius.

Es klingelt an der Tür. Sobald Suzanne fort ist, springe ich auf und laufe erneut ins Bad. Ich spritze mir Wasser ins Gesicht und kneife mich in die Wangen, um ihnen ein wenig Farbe zu verleihen. Die stets fürsorgliche Suzanne hält für ihre Gäste einen Korb mit Hygieneartikeln in Reisegrößen vorrätig, darunter auch Mundspülung, die ich mit einiger Mühe öffne und benutze, damit Darius meine Alkoholfahne nicht riecht.

Als ich aus dem Bad trete, wartet Darius schon in dem kurzen Flur, den allein seine große, durchtrainierte Statur bereits auszufüllen scheint, auf mich. Sofort bekomme ich Platzangst. Meine Atmung wird flach und angestrengt.

»Hast du eine Ahnung, welche Sorgen ich mir um dich gemacht habe?«, blafft er und reißt mich an den Oberarmen zu sich heran. Er schäumt vor Wut, dämpft seine Stimme jedoch trotzdem so weit, dass Suzanne nicht hören kann, was er sagt. »Worüber bist du denn jetzt schon wieder so sauer? Was auch immer es sein mag, sich einfach zu verpissen und auf keinen meiner Anrufe zu reagieren, ist jedenfalls scheiße.«

»Tut mir leid.« Ich bedauere die Entschuldigung, kaum dass sie mir herausgerutscht ist. Warum kann ich nicht auch tun, was mir gefällt? Aber dann bemerke ich diesen Ausdruck in seinen Augen, dieses grimmige Verlangen, und mir wird mulmig. Wenn Darius das Gefühl hat, dass ich aus dem Ruder laufe, fickt er mich jedes Mal mit seinem meisterhaften Schwanz, bis wir auf demselben Kurs sind. Sollte er diese Taktik auch jetzt einschlagen, dürfte mich das angesichts des Zustands meiner Vagina im Wortsinn den Verstand kosten. »Es hat nichts mit dir zu tun«, versichere ich ihm rasch. »Du arbeitest nur ständig, und ich hatte einfach das Gefühl, mal mit einem anderen vernünftigen Menschen reden zu müssen, verstehst du? Ich habe meine Tage, mein Scheißmund tut höllisch weh, dazu all die Tabletten gegen Schmerzen und Eisenmangel und so … Da bin ich auf Suzannes Couch eingeschlafen. Das ist alles.«

Er mustert mich, die Augen misstrauisch zusammengekniffen. Der Schrei, den ich in meinem Innern hinter diese wacklige Sperre zurückgedrängt habe, droht wieder durchzubrechen. Die Anstrengung, nicht gleich hier und jetzt in dieses schön geschnittene, zornige Gesicht zu kreischen, ist so groß, dass mir die Tränen in die Augen treten, und das gereicht mir prompt zum Vorteil.

»Babe«, sagt er seufzend und schließt mich in die Arme.

Sein Geruch ist so angenehm und beruhigend, dass ich die Tränenflut nicht länger zurückhalten kann. Erst fließen sie in zwei dünnen Rinnsalen, dann bricht es in herzzerreißenden Schluchzern aus mir heraus.

Seine Umarmung wird enger. »Warum redest du denn nicht mit mir über solche Sachen?«, fragt er leise. »Ich arbeite für uns so viel, für unsere Zukunft, wie du weißt, aber für dich habe ich doch trotzdem immer Zeit.«

Ich weine mich an seiner harten, muskulösen Brust aus, bis ich so erschöpft bin, dass ich kaum noch die Augen offen halten kann.

Wir verabschieden uns von Suzanne und Oliver. Ich schließe Suzanne so fest in die Arme, wie Lily es bei mir getan hatte, und sie ist spürbar überrascht davon. Auch wenn ich sie verabscheue, ist sie mir dennoch eine gute Freundin.

Darius und ich gehen hinaus und über den Treppenabsatz zum Aufzug. Erst als es bei jedem Schritt unter meinen Fußsohlen scheuert, bemerke ich den Sand in meinen Mules.