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Aliyah

D ie Büroräume von Rampart Protection & Investigative Services liegen im ersten Stock eines fünfgeschossigen Backsteingebäudes in Tribeca. Ich sehe ein Boutiquehotel, ein Café, einen Friseur und eine Markenagentur. Letztere ist vermutlich für die Anhäufung verdächtig gleichartiger Firmenlogos verantwortlich, die sich eigentlich nur im gewählten erdfarbenen Ton und der variierenden Blätter- und Blütenverzierung unterscheiden. Dieses Viertel Manhattans scheint komplett auf eine Kundschaft ausgerichtet zu sein, der es primär um Ökofreundlichkeit und natürliche Inhaltsstoffe geht. Wie eine Privatdetektei in dieses Umfeld passt, erschließt sich mir zwar nicht recht, aber es soll mir auch egal sein.

Kleidung und Frisuren der Passanten entsprechen den letzten Modetrends. Eine bunte Mixtur an musikalischen Stilrichtungen dringt leise aus den Läden, und im Großen und Ganzen wirkt die Atmosphäre jung, lebensfroh und kreativ. Zwischen diesem Viertel der Start-ups und der Gesetztheit des etablierten New Yorks liegen Welten.

Ich drücke einen der beiden Flügel der massiven, orangerot lackierten Eisentür auf und trete in einen winzigen Vorraum mit einer unbeschrifteten Tür auf der linken und einem Treppenaufgang samt Fahrstuhl auf der rechten Seite. Ich nehme das Kopftuch ab und stecke es in die Handtasche. In einer Ecke des Fahrstuhls sitzt ein bedrohlich wirkender Schwarzer mit breitem Kreuz und unterkühltem Blick auf dem Rand eines Hockers, neben sich griffbereit einen Baseballschläger. Ausdruckslos mustert er mich und wartet.

Eigentlich macht das Viertel nicht unbedingt den Eindruck, dass es solch eines eindrucksvollen Fahrstuhlführers bedürfte, aber wenn es dunkel wird, sieht auf dieser Welt eben so manches plötzlich ganz anders aus.

»Erster Stock, bitte.«

Er zieht kurz an einer Kette, und sofort fahren eine Gitterhälfte von oben und eine von unten zu, als würde ein riesiges Maul zuschnappen. Ein Knopfdruck, und wir setzen uns in Bewegung.

Auf der ersten Etage lande ich in einem Vorraum, den man zutreffender als Treppenabsatz bezeichnen würde, und öffne die Metalltür, hinter der sich dem Aufkleber zufolge Rampart verbirgt.

»Hi!«, begrüßt mich eine hübsche Rothaarige mit Statement-Brille in knalligem Blau. »Kann ich Ihnen helfen?«

Sie sitzt an einem alten Metalltisch, der aussieht wie ein ehemaliges Lehrerpult, das man in den Eingang gequetscht hat. Hinter ihr weitet sich das Ganze allerdings zu einem üppigen Großraumbüro mit Fenstern zu allen Seiten, abgesehen von der in meinem Rücken, und Säulen zur Stützung der Decke. Von den insgesamt vier Schreibtischreihen verlaufen zwei entlang der äußeren Backsteinwände und zwei vis-à-vis durch die Mitte.

Anders als bei Baharan hat hier niemand einen Cubicle für sich. Es ist ein Shared Workspace, bei dem man die Tische mit den Holzfurnierplatten durch verstellbare Halter in Stehpulte verwandeln kann. Auf der Stirnseite trennen große Glaselemente ein Konferenzzimmer ab. Die Fenster stehen alle offen, sodass die Geräusche und Gerüche der Großstadt ungehindert eindringen können.

»Ich bin mit Giles Prescott verabredet«, antworte ich.

»Miss Armand?«, fragt sie nach einem kurzen Blick auf ihren Bildschirm.

»Ja. Tris, habe ich recht?«

»Genau«, sagt sie und strahlt vor Begeisterung darüber, dass ich mich an den Namen, den sie am Telefon genannt hatte, noch erinnere.

Sie springt mit überbordender Energie vom Stuhl auf und umkurvt ihren Schreibtisch. »Ich zeige Ihnen mal den Konferenzraum und werde Giles wissen lassen, dass Sie da sind«, erklärt sie. »Wie geht’s Ihnen denn heute so?«

»Ganz okay«, erwidere ich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute, die zu Rampart kommen, Anlass zu bester Laune haben.

»Tolles Kleid, übrigens, gefällt mir sehr.«

»Danke.« Das feuerwehrrote Rüschenkleid wirkt nicht zuletzt wegen des One-Shoulder-Schnitts vage griechisch und gehört zu den wenigen Stücken in meinem Kleiderschrank, die nicht neutral gehalten sind. Es ist stark tailliert und betont meine Kurven. Zusammen mit den Goldhoops an meinen Ohren und den nudefarbenen Riemchenpumps mit Kitten Heels ergibt das genau den richtigen Look – auf lässige, unangestrengte Weise sexy.

Bevor ich ins Büro gehe, werde ich mich lieber umziehen, aber für mein erstes Treffen mit Mr. Prescott ist es perfekt. Bei meinem Anblick soll er ruhig eine Portion Sex-Appeal spüren, das dürfte mir den Umgang mit ihm erleichtern. Die vielen jungen Männer im Großraumbüro sind zwar alle so alt wie meine Söhne oder jünger, doch selbst ihre Augen leuchten auf, als ich mich auf den Weg durch die Reihen mache, und ihre Köpfe drehen sich, um mir hinterherzuschauen.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragt sie. »Kaffee, Wasser, Cola? Ich kann Ihnen auch die Karte des Smoothie-Ladens von gegenüber zeigen.«

»Haben Sie Mineralwasser mit Kohlensäure?«

»Ja. Ist Perrier okay?«

»Wunderbar«, antworte ich und entscheide mich gegen meinen natürlichen Impuls für einen der seitlichen Stühle, und zwar für den unmittelbar vor dem Kopf des Tischs, sodass er entweder neben mir oder direkt mir gegenüber Platz nehmen muss. Bei solchen Runden ist es immer wichtig, die machtvollste Position einzunehmen, daher würde ich normalerweise am Tischende Platz nehmen. Aber in diesem Fall dürfte es günstiger sein, einen eher hilfsbedürftigen Eindruck zu machen.

Giles Prescott ist Polizist im Ruhestand und somit darauf gedrillt, den Helden zu geben. Eine holde Jungfer in Not sollte diesen Beschützertrieb problemlos auslösen können. Wenn ich dabei zugleich auch seinen Paarungstrieb auslösen kann, umso besser. Bislang hatte das rote Kleid jedenfalls eine hundertprozentige Trefferquote.

Ich nutze die Zeit, um meine E-Mails zu checken, aber es dauert nicht lang.

»Miss Armand«, reißt mich eine tiefe Stimme von meinem Handy, »Ihr Mineralwasser. Ich bin Giles Prescott. Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ich hatte noch einen Termin außer Haus, und die Rückfahrt ins Büro war dann doch zeitraubender als gedacht.«

Eine kräftige Hand stellt ein Fläschchen Perrier und ein Glas samt Papierserviette vor mich. Das dicke Handgelenk schmückt eine goldene Rolex. Aus den hochgekrempelten Ärmeln ragen imposante Unterarme, unter deren milchkaffeebrauner Haut die Muskeln zucken. Nachdem ich auch die breiten Schultern begutachtet habe, erlaube ich mir, den Kopf zu heben und ihm in die Augen zu sehen. Ich hatte schon damit gerechnet, weibliches Interesse heucheln zu müssen, doch das erübrigt sich hier. Giles Prescott ist ein attraktiver Mann.

»Danke schön«, sage ich. »Und das Warten war nicht weiter schlimm. Ich bin viel zu froh, dass Sie mir Zeit einräumen konnten.«

Sein jungenhaftes Lächeln mildert das derb Maskuline an ihm. Auch wenn er nicht unbedingt dem klassischen Schönheitsideal entspricht, ist er alles in allem ein äußerst verlockender Typ. Ein geschickter Friseur stutzt ihm das krause Haar ebenso präzise wie den Bart. Das Schuhmodell ist ansehnlich, die Anzughose zwar von der Stange, aber immerhin gut geschnitten. Auf Sakko und Krawatte hat er verzichtet, der Knopf am Hemdkragen ist offen. Er trägt einen Ehering, was allerdings nicht heißen muss, dass er nicht zu haben ist …

Ich warte, bis er sich neben mich ans Kopfende des Tischs gesetzt hat. »Mr. Prescott, ich bin die Mutter von Kane Black.«

»Ich weiß«, sagt er mit einem Nicken. »Ich habe mich heute Morgen kurz über Sie informiert. Nur um besser vorbereitet zu sein. Kommen Sie auf seine Empfehlung hin?«

»So ungefähr«, hebe ich an. »Ich würde gern die Ergebnisse besser verstehen, zu denen Ihre Ermittlungen in Bezug auf seine Frau gekommen sind – sofern sie im juristischen Sinne überhaupt verheiratet sind, schließlich hat sie ja einen anderen Namen angenommen. Ich habe Ihren Abschlussbericht gelesen, der mir jedoch nicht vollständig zu sein scheint. Die ersten Decknamen, auf die Sie stießen, stammten aus der Zeit, als sie volljährig wurde. Was war denn davor?«

»Davor war ein Elternteil oder ein Vormund für sie verantwortlich. Sie …«

»Ihre Mutter.«

»Vorausgesetzt, ihre diesbezügliche Aussage entspricht der Wahrheit«, verbessert er mich, und plötzlich ist alle charmante Lockerheit weg, und ich schaue in den ausdruckslosen Blick eines Cops. »Und sie hat zu selten die Wahrheit gesagt, um ihr irgendetwas unbesehen zu glauben. Soweit wir wissen, könnte sie genauso gut zwei Elternteile gehabt haben, die heute noch leben. Wir müssen davon ausgehen, dass jede Information, die von ihr kommt, bloß erfunden ist.«

»Bei ihr wurde eine dissoziative Amnesie diagnostiziert«, erkläre ich. »Und sie hat noch unter anderen Decknamen gelebt. Kann es sein, dass die vielen Identitäten nur Symptome ihrer psychischen Erkrankung sind? Kurz gesagt, lässt sich entscheiden, ob sie Opfer oder Täterin ist?«

»Um zu klären, warum sie so ist, müsste man einen Psychiater fragen. Ich kann Ihnen nur sagen, wie sie ist.«

»Das ergibt Sinn«, erwidere ich und trommele mit den Fingern. »Kane hat Ihre Ermittlungen beendet. Kamen Sie einfach nicht mehr weiter, oder hat er da voreilig gehandelt? Hätten Sie womöglich noch mehr ans Tageslicht bringen können?«

»Hat er denn nicht mit Ihnen darüber gesprochen?«, fragt er zurück und mustert mich aufmerksam.

»Um ganz ehrlich zu sein, Mr. Prescott, weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich noch glauben kann, wenn es sie betrifft. Er ist seit Jahren regelrecht besessen von ihr, in einem inzwischen höchst bedenklichem Maß.«

Er nickt, als würde ihn diese Bemerkung nicht überraschen. »Ich denke, wir hätten noch mehr herausbekommen können, das stimmt«, gibt er zu. »Sie hinterlässt bleibende Eindrücke und ist nur schwer mit jemand anderem zu verwechseln. Sobald wir es örtlich eingrenzen konnten, fanden sich stets Leute, die sich erstaunlich gut an sie erinnern konnten.«

»Ja, ich habe sie selbst in Aktion erlebt«, sage ich. »Sie kann enorm bezaubernd sein, was dazu beiträgt, sie für Kane zu einer Unwägbarkeit zu machen. Einer womöglich gefährlichen Unwägbarkeit, wenn ich das richtig verstehe. Ihr Bericht erwähnt Verbindungen in die Unterwelt …?«

»Sie lebt eben auf großem Fuß«, erwidert er. »Wer wie sie gern Multimillionen teure Immobilien anmietet, muss ausgiebige Backgroundchecks bestehen. Wie Sie gesehen haben, sind stets Kopien ihrer Ausweisdokumente angefertigt worden, aber das allein hätte nicht gereicht. Sie ist gewiss einer genauen Überprüfung unterzogen worden, die ihre Angaben offenbar bestätigt haben. Irgendjemand – womöglich sogar sie selbst – muss in der Lage sein, falsche Informationen in staatliche Datenbanken zu speisen und diese später auch wieder zu löschen, wenn die betreffende Identität nicht mehr benötigt wird.«

Da seine Berichte sehr detailliert gewesen sind, war mir das alles bereits bekannt. Ivy, Lily, Daisy … sie stand echt auf botanische Namen. Und sprach nicht gerade diese Ähnlichkeit für vorsätzliches Handeln? Aber vielleicht traf auch das genaue Gegenteil zu. So oder so, es offen ausgesprochen zu hören machte die Sache nur noch beängstigender.

»Ich begreife nicht, wie Kane das alles wissen kann und es einfach so hinnimmt.«

»Er nimmt es nicht einfach so hin«, entgegnet er und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Er nimmt bloß unsere Dienste nicht mehr dafür in Anspruch. Wir glauben, dass er eine andere Firma beauftragt hat.«

»Er hat jemand anderen beauftragt?«, wiederhole ich ungläubig und frage geradeheraus: »Warum sollte er das tun? Haben Sie Mist gebaut?«

»Nein, Miss Armand«, antwortet Prescott mit einem gequälten Lächeln. »Ich habe meinen Laden hier bei Rampart voll im Griff. Mein Team besteht aus ehemaligen Angehörigen der Sicherheitsbehörden und rekrutiert sich aus den unterschiedlichsten Abteilungen bei Polizei, Militär und Bundesbehörden. Ich beschäftige zudem einen Haufen Anwälte und fest angestellte studentische Praktikanten aus einer breiten Mischung von Fachbereichen. Uns unterlaufen keine Fehler, Miss Armand.«

»Sagen Sie ruhig Aliyah zu mir.« Das Heulen einer Krankenwagensirene zerreißt unvermittelt die Luft. Das durchdringende Jaulen und Piepen, geschaffen dazu, unmöglich ignoriert werden zu können, zerrt an meinen Nerven und steigert meine Unruhe. Das hektische Warnsignal schwillt weiter rasch an, während das Fahrzeug sich nähert.

»Wir arbeiten hier eher bodenständig«, erklärt er über den Lärm hinweg mit erhobener Stimme. Sein Lächeln wird breiter, und an den Augenwinkeln bilden sich Lachfältchen. »Wir klopfen an Türen, stellen Fragen, bohren nach. Ich dokumentiere alles minutiös, und wir bewegen uns streng im Rahmen der Gesetze. In meinem Team besitzen zwar einige auch Erfahrung in Undercover-Arbeit, aber verdeckte Ermittlungen zählen nicht zu unseren Schwerpunkten.«

Ich greife nach der Flasche und versuche, den Deckel abzuschrauben, doch meine Hände sind zu unsicher. Prescott streckt den Arm aus, nimmt mir zuvorkommend das Öffnen ab und gießt den Inhalt ins Glas.

»Warum sollte Kane verdeckt ermitteln müssen?«

»Man kann auf zwei Wegen zu Geld kommen: ehrlich und unehrlich«, hebt er an. »Wenn eine junge Frau wie Ihre Schwiegertochter ein derartiges Vermögen hat, würde ehrlich bedeuten, dass sie es entweder geerbt hat – wofür es schriftliche Nachweise geben würde – oder aber verdient, und solche Summen verdient man nicht einfach, ohne dass jemand davon erfährt, nicht zuletzt die Finanzbehörden. Wir haben jedoch nichts finden können, das sie oder ihr Vermögen legitimieren würde.«

Einen Moment lang dreht sich alles um mich, und ich atme langsam ganz tief ein. Gideon Cross würde niemals Geschäfte mit Gesetzesbrechern machen, vor allem nicht mit jemandem, der Geld gestohlen oder veruntreut hat. Schon über Pauls Vergehen hat er nur hinweggesehen, weil er selbst für die Sünden seines Vaters hatte leiden müssen und deshalb Mitgefühl mit Kane empfand. Aber bei Lily? Eine Frau, der gemeinsam mit Kane der Löwenanteil an der Firma gehörte? Wenn Cross sich zurückzog, wären all unsere Investitionen in ECRA + futsch. Für Baharan ein existenzbedrohender Schlag.

»Ihr Sohn hat mithilfe ihres Vermögens sein Unternehmen aufgebaut«, fährt er fort. »Wenn diese Gelder mit illegalen Machenschaften in Verbindung stehen, würde es zu Rückforderungen kommen. Sobald nun jemand Nachforschungen über ihre Vergangenheit anstellt, findet er heraus, dass sie gesucht wird. Je mehr Nachforschungen, desto mehr Menschen wissen Bescheid. Sie wechselt ihre Identitäten schon seit vielen Jahren. So etwas tut man nur, wenn man sich verstecken muss, weshalb ein eher verdeckter Ansatz – womöglich sogar etwas außerhalb der Gesetze, was wir hier bei Rampart eben nicht machen – das Risiko mindern würde, irgendwann den falschen Stein umzudrehen und etwas wirklich Gefährliches ans Tageslicht zu bringen.«

O nein … Gallensäure steigt mir in die Kehle, greift ätzend das Weichgewebe an. Ich schlucke heftig und presse eine Hand auf den Magen, um ihn zu besänftigen.

Hier steht nicht nur die Partnerschaft mit Cross auf dem Spiel, sondern Baharan selbst. Einfach alles.

»Das ist ein Albtraum.«

»Es gibt da eine Menge Aspekte, die eine Rolle spielen«, erklärt er. »Und auf vieles sucht Ihr Sohn noch immer nach Antworten. Er probiert es jetzt eben bloß im Geheimen. Er folgt dem Geld, verfolgt seine Spuren zurück zu den Quellen. Wenn er weiß, woher es stammt, weiß er zugleich, was oder wem alles er künftig besonderes Augenmerk schenken sollte.«

»Und wenn ich Sie nun dafür bezahlen würde, Ihre Nachforschungen fortzusetzen?«

»Warum sollten Sie dieses Wagnis eingehen?«

Ich reiße die Augen auf und kontere: »Er ist mein Sohn. Ich kenne ihn. Und ich weiß genau, dass er unfähig ist, objektiv zu urteilen, sobald es um diese Frau geht.«

Alles, was ich besitze, jedes Mitglied dieser Familie ist bedroht – die Erkenntnis bringt meine Wut zum Kochen. Es raubt mir den Verstand.

Ich springe vom Tisch auf, und die Beine des zurückschnellenden Stuhls kratzen schrill wie Fingernägel auf einer Tafel, was jedoch in der unmittelbar vor dem Fenster heulenden Sirene ein wenig untergeht.

Arbeitet Kane daran, die Firma zu retten? Gilt sein Fokus womöglich weiterhin Baharan? Habe ich ihn falsch eingeschätzt? Die Art, wie er sie angestarrt hat, war jedenfalls nicht misszuverstehen, es sei denn, das Ganze ist bloßes Theater. Der geschickteste und schnellste Weg, eine Lösung zu finden, bestünde darin, erst einmal ihr Vertrauen zu gewinnen. Ist er deshalb mit ihr verschwunden? Will er die Beziehung so intensivieren, dass er an die nötigen Informationen herankommt?

Ihm bleibt die Wahl zwischen Baharan und dieser Frau, wie immer sie auch heißen mag. Wofür wird er sich entscheiden? Oder arbeitet er daran, beide behalten zu können?

Gedankenverloren trete ich ans Fenster und schaue auf die schmale Straße hinab, wo der dichte Verkehr den Krankenwagen nur zentimeterweise vorwärtskriechen lässt. Irgendwo in der Stadt wartet jemand auf Hilfe, und es dürfte noch eine Weile dauern, bis sie eintrifft. Vielleicht wird sie sogar zu spät kommen.

Baharan kann es sich nicht leisten zu warten, bis es zu spät ist.

Ich stelle erste Überlegungen an, wie ich das Geld aufbringen könnte, um Lily auszuzahlen und gemeinsam mit ihren Problemen loszuwerden. Keine Ahnung, wie man einen Buy-out dieser Größenordnung auf die Beine stellt, aber wenn es mir gelingt, wäre Kane nicht länger Mehrheitseigner. Ich muss nur darauf achten, dass kein anderes Vorstandsmitglied mir dazwischenfunkt und die Kontrolle übernimmt. Ryan werde ich ins Vertrauen ziehen. Kane ist sein Freund. Er würde nie etwas unternehmen, das Kane schadet, und bei ihm kann man sicher sein, dass alles im Sinne der Familie geregelt wird.

Mein wachsender Hass auf Kane beruhigt meine Nerven und spendet mir Kraft. Eigentlich sollte er das Geld besorgen. Er könnte seiner Pseudo-Gattin einfach das Penthouse überschreiben, das würde wahrscheinlich schon genügen. Er könnte sie auch einweisen lassen – zu ihrem eigenen Besten, natürlich. Nach allem, was ich so über Dr. Goldstein erfahren und in seinen Vorträgen auf YouTube von ihm selbst gehört habe, würde er einen solchen Schritt mit Feuereifer unterstützen. Und wenn man Lily und Amy zusammen irgendwo unterbringen würde, könnten sie sich sogar Gesellschaft leisten.

Stattdessen müssen wir uns auf die Loyalität von Bekannten verlassen, um Baharan nicht zu verlieren. Ich muss die nötigen Schritte einleiten und mich dann mit Lily zusammensetzen, um sie in die Wüste zu schicken.

Prescott greift an mir vorbei und schiebt das geöffnete Fensterelement nach unten, was den Lärmpegel aber bloß geringfügig senkt.

Inzwischen bebe ich vor animalischer Energie, die ein Ventil braucht. »Ein paar Häuser weiter gibt es ein Hotel«, sage ich und schaue ihn an.

Er runzelt die Stirn, dann sehe ich, wie der Groschen fällt. »Ich bin verheiratet«, antwortet er nur.

»Herzlichen Glückwunsch. Das Angebot steht.«

»So verlockend das Angebot auch ist, ich liebe meinen Mann und betrüge ihn nicht.«

»Ah«, sage ich und gehe zum Tisch zurück, um meine Handtasche zu holen. »Zu schade.«

»Darf ich davon ausgehen, dass Sie sich gegen eine Fortsetzung der Nachforschungen entschieden haben?«

Ich halte inne und überlege.

»Miss Armand«, fährt er fort und verschränkt die Arme vor der Brust, »Sie sind zweifellos eine beeindruckende Frau, die gewohnt ist zu bekommen, was sie will. Dennoch würde ich Ihnen dringend empfehlen, Ihren Sohn diese Sache selbst regeln zu lassen. Die Frau, die Sie als Lily kennen, hat sich über viele Jahre mit äußerstem Geschick auf extrem gefährlichem Niveau zu behaupten vermocht. Was immer Sie glauben, als Druckmittel gegen sie zusammentragen zu können, dürfte nicht annähernd den Widerständen entsprechen, mit denen diese Frau bislang schon fertiggeworden ist. Ehrlich gesagt können Sie sich einfach mit ihr nicht vergleichen.«

»Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen, Mr. Prescott«, erwidere ich. »Ist Ihnen bekannt, welchen Gesamtumfang die Vermögenswerte von LLC hatten, als mein Sohn sie erbte?«

»Fahrzeuge und Immobilien hat sie stets geleast oder gemietet. Was ihre Konten betrifft, da habe ich auf alte Daten keinen Zugriff, nur auf den derzeitigen Stand.«

»Dann muss ich sie wohl einfach selbst fragen«, erkläre ich knapp und wende mich zum Gehen. Flink ist er vor mir an der Glastür und hält sie mir auf. »Wirklich zu schade«, sage ich noch mal.

Durch die Schreibtischreihen eile ich in Richtung Ausgang, um gleich mit der Organisation der Abwehrmaßnahmen zu beginnen.