Lily
D er Strand von Greenwich ist ins warme Licht der Morgensonne getaucht, die auf dem Wellengang des Long Island Sound glitzert. Gänsehaut überzieht meine nackten Arme und Beine, als ich dort stehe. Das Frösteln kommt aus meinem Innern und strahlt nach außen.
Von all den Fehlern, die mir im Leben unterlaufen sind, hat sich das Jawort, das ich dir gab, als schlimmster erwiesen. Wie hatte mir das Ungeheuer, das in dir schlummerte, entgehen können?
Das ist gelogen. Ich hatte von seiner Existenz gewusst. Aber ich fand den Gedanken beruhigend, dass diese beschützende, wilde Macht ganz in meiner Nähe schlief. Mein Fehler war zu glauben, dass deine Liebe diese Bestie verlässlich davon abhalten würde, sich gegen mich zu wenden.
Ich habe nie gelernt, an Märchen zu glauben. Mir wurde von Anfang an eingebläut, dass Prince Charming bloß die bevorzugte Verkleidung der gemeinen Bestie ist. Es gibt keine Schlös ser auf lichten Höhen, keine Ritter in glänzender Rüstung. Irgendwo Wurzeln zu schlagen, ist etwas für Langweiler. Beziehungen sind für die, denen es an der nötigen Kraft fehlt, sich alleine zu behaupten. Und trotzdem stehe ich jetzt hier mit diesem schmalen goldenen Ring am Finger. Und nun muss jemand sterben.
Ich bin nicht länger blind. Ich weiß, was ich tun muss.
Das Salzwasser leckt an meinen Füßen, besänftigend und erregend wie die zärtliche Berührung eines Liebhabers. Als Reaktion regt sich etwas tief in meinem Innern – etwas, das zu flüchten versucht.
Ein Zittern durchläuft meinen Körper. Unser Streit geht mir wie in Dauerschleife durch den Kopf. Deine zischende Stimme, das Glühen in deinen Augen. Dein stets so leicht entflammbares Temperament, das außer Kontrolle gerät.
Die verbalen Schläge, die du ausgeteilt hast, waren furchtbar gewesen. Hättest du mich mit deinen Fäusten traktiert, es hätte weniger geschmerzt als diese vernichtenden Worte, dieser aggressive Abscheu.
Die Geldgier hat mich nicht überrascht. War es nicht stets dein sehnlichster Wunsch gewesen aufzusteigen, deine Stellung im Leben zu verbessern, Macht und Kontrolle zu erlangen, etwas aus dir zu machen? Du hast deinen Ehrgeiz nie geleugnet. Und hat mir nicht gerade das an dir gefallen? Doch die Erkenntnis, dass deine Zärtlichkeiten nur vorgetäuscht waren, hat meine Seele entzweigerissen. Von Liebe nicht die geringste Spur. Wie hatte ich mir je etwas anderes einreden können?
Unfassbar, dass ich mich zur Annahme hinreißen ließ, du wärst gar nicht am Geld interessiert. Ich war so fest davon überzeugt, dass du mich liebst. Aber war ich das wirklich? Im Nachhinein muss ich mir wohl eingestehen, dass ich mir selbst etwas vorgemacht habe.
Du hast den Kopf in den Nacken geworfen und nur schallend dein finsteres Lachen gelacht. »Ich, nicht an Geld interessiert?«, hast du gehöhnt. »Ich habe mich in Secondhandklamotten lächerlich gemacht, rund um die Uhr geschuftet, herumgevögelt, bloß um einen Vorwand zu haben, einen fremden Kühlschrank zu plündern, habe gebuckelt für ein paar neue Kontakte und mich auf tausend weitere Arten erniedrigt. Geld bedeutet, dass ich all das nie wieder tun muss. Geld bedeutet Macht. Wenn du es nicht zu schätzen weißt, so einen Haufen davon zu besitzen … nun, ich schon.«
Es hat ein unnatürliches Leuchten in deinen Augen gelegen, das mir in die Eingeweide schnitt wie eine tödliche Klinge. All der Charme, die bezaubernde Attraktivität und die unbeschwerte Zuneigung waren fort, als hätte es sie nie gegeben. In diesem Augenblick habe ich dich gesehen. Dein wahres Ich. So falsch und fremdartig. Tollwütig. Zu allem fähig.
Wenige Tage zuvor erst hatte ich geschworen, bis dass der Tod uns scheide, ohne zu bemerken, wie sich die Sanduhr sofort nach meinem Jawort drehte und ungebremst zu entleeren begann.
Ich höre meinen Namen und wende mich vom Wasser ab. Das Strandhaus wartet. Seine Fenster und Türen umrahmen ein tiefes Schwarz, als würde man beim Eintreten unwillkürlich ins Nichts tauchen. Mit jedem Schritt fällt mir das Gehen schwerer. Meine Füße versinken immer tiefer im Sand. Die Brandung umspült mich. Hinter mir tost der Sound wie ein vom Sturm aufgepeitschtes Meer, und ein mächtiger Schatten zieht auf. Ich kann meine Füße nicht bewegen, während das Unwetter sich zusammenbraut, kann nicht an gegen diesen Tsunami, der mich im Wasser gefesselt hält.
Schreiend strecke ich die Hand aus Richtung Haus und höre noch dieses schallende finstere Lachen, bevor das Meer mich umschlingt.