35

Lily

D er geliebte Klang deiner Stimme weckt mich ein zweites Mal. Schon einige Zeit zuvor hatten mich deine heißen Küsse und begierigen Hände aus dem Schlaf geholt, bis zur zitternden Erschöpfung getrieben und betäubt vor orgasmischer Wonne wieder einschlummern lassen.

»Bei dir würde der Teufel höchstpersönlich schwach werden«, murmelst du, reibst die Nasenspitze an meiner Schläfe und streifst die Bettdecke von mir.

Blinzelnd drehe ich mich auf den Rücken, und du setzt dich rittlings auf mich. Den durch die Fenster einfallenden Sonnenstrahlen nach zu urteilen, ist es noch früher Morgen.

Mein schlaftrunkener Blick wandert über deinen nackten Körper. Du bist ein blendendes Traumbild aus glatten Linien und spielenden Muskeln. Deine Haare sind feucht vom Duschen, und der Wasserdampf hängt auch noch schwer in der Luft. »Du musst gerade reden«, erwidere ich.

Dein Grinsen erinnert an früher, lässt die überhebliche Belustigung deines jüngeren Ichs wieder aufblitzen. Du verjüngst dich hier Stunde um Stunde, deine Züge werden sanfter, deine Haltung wird lockerer. Sexuelle Exzesse bekommen dir sichtlich gut. Dein Elan wächst von Tag zu Tag, als ob du überhaupt keinen Schlaf benötigen würdest, nur Orgasmen.

Deine Haut ist kühl, genau wie es meine ohne die wärmende Decke langsam wird. Deine Wangen sind glatt und weich. Es ist zu einem täglichen Ritual geworden, dass du vor mir aufstehst, um dich taktvoll zu rasieren, bevor du zurück unter die Bettdecke und in die empfangsbereiten Tiefen meines Geschlechts schlüpfst. Der erste Liebesakt noch vor dem Duschen ist inzwischen vorgemerkt, ein fester Programmpunkt deiner täglichen Aktivitäten und so obligatorisch wie Händewaschen. Mit welcher Formulierung würdest du es in deinem Kalender notieren, mein Liebster? Kooperation Ehefrau sichern ? Oder vielleicht Ehefrau schwängern ? Du tust auf jeden Fall alles Menschenmögliche, um zu gewährleisten, dass ich stets von deinem Sperma durchtränkt bin.

Ich beschwere mich nicht, schließlich komme ich dabei nicht nur selbst voll auf meine Kosten, deine animalischen Wesenszüge entsprechen zudem ganz den meinen. Wenn man ohne absichernde elterliche Unterstützung aufwächst und sich allein seinen Platz in der Welt erkämpfen muss, kann man sich den Luxus geschliffener Umgangsformen nicht immer leisten. Du hast instinktiv in mir die Seelenverwandte erkannt und kostest es nun genussvoll aus, dass du nach Herzenslust wild sein kannst und mir es auch noch Spaß bereitet.

»Gestehe«, sage ich und betrachte deinen unverschämt perfekten Körper, dein wunderschönes Gesicht. »Du bist in Wahrheit ein Inkubus, der sich nachts an mir vergeht.«

Dein tiefes, raues Lachen fährt in mich und liebkost zärtlich diesen geheimnisvollen stillen Ort, von dessen Existenz ich erst weiß, seit es dich gibt. Dieses Gefühl, im tiefsten Kern meines Wesens von dir berührt zu werden, entfacht mein Begehren stärker als alles, was du sonst tust oder sagst.

»Das ist auch der Grund, warum du ständig jünger wirst und ich nur ständig weiche Knie habe«, fahre ich lächelnd fort.

»So gefällst du mir eben am besten«, sagst du, beugst dich herab und küsst mich mit einer solchen Glut, dass es sogar in meinen Zehenspitzen prickelt.

Ich versuche noch immer zu verarbeiten, dass wir inzwischen eine ganze Handvoll solcher Tage hatten, dass wir uns gemeinsam austoben konnten, bis gefräßige Gier allmählich in unersättliches Schwelgen überging. Du bist liebevoll und albern, verkörperst mustergültig den vernarrten Liebhaber.

Aber mich täuschst du mit dieser Vorstellung keine Sekunde. Dummköpfe konnte meine Mutter nicht ausstehen.

Hinter dieser charmanten, lässigen Fassade verbirgt sich ein berechnender Jäger. Ich bemerke deine durchdringenden Blicke, wenn du denkst, ich würde nicht aufpassen. Und auch wenn du von Natur aus ein der körperlichen Liebe überaus zugeneigter Mensch bist, ist mir doch klar, dass die hohe Frequenz, mit der wir es treiben, viel mit Kontrolle zu tun hat, und genau die hast du seit unserer ersten Begegnung stets schmerzhaft vermisst. Du erfasst genau, wie ich auf unterschiedliche Berührungen und Stellungen reagiere, und verfeinerst bei jedem nächsten Mal deine Technik. Exzellent im Bett warst du schon früher, aber nun ist deine gesamte Konzentration darauf gerichtet, alles genau auf mich abzustimmen.

Aber auch wenn mein Verstand deine Absicht durchschaut, bleibt mein Körper dir hilflos ausgeliefert. Gestern kamst du in die Küche, sahst mir über die Schulter dabei zu, wie ich Sandwiches machte, und alles wirkte vollkommen unschuldig. Dann legten sich deine Lippen auf meine nackte Schulter, deine Hand glitt zwischen meine Beine, und keine fünf Minuten später wand ich mich zuckend im Orgasmus, wurde mein Körper nur noch von deiner Hand an meiner Brust und deinen Fingern in mir aufrecht gehalten. Und ebenso plötzlich, wie du gekommen warst, verschwandst du im nächsten Moment wieder in deinem Arbeitszimmer, während ich entkräftet über der kühlen Granitplatte hing und versuchte, zumindest so weit zu Sinnen zu kommen, um die Brote fertig zu schmieren.

Es ist eine Art Belagerung, und ich frage mich, worauf du letzten Endes abzielst. Ich schätze, es ist eine Mischung aus Stolz und Bestrafung. Du kannst es einfach nicht lassen, Lily gegenüber deine einzigartigen Qualitäten unter Beweis zu stellen, selbst wenn du sie im selben Moment dafür strafen willst, dass sie dich verlassen hat. Dabei bemühst du dich zweifellos, deine Besessenheit allein auf den Bereich der sexuellen Begierde zu beschränken. Zwischen Arbeit und Sex bist du noch kaum dazu gekommen, dir zu überlegen, was dich tatsächlich an mich bindet und wie extrem schreckenerregend es ist.

Jetzt betrachtest du mich mit so viel Liebe, dass es mir den Atem verschlägt. Freude flutet mein Herz wie Sonnenlicht, das einen Raum erstrahlen lässt. Ich werde von einem wahnsinnig tollen Mann geschätzt, angebetet und begehrt.

So viel Vollkommenheit kann nicht von Dauer sein. Wir leben in einer Blase, die wir selbst erschaffen haben, doch jenseits der Hülle, deren schillernder öliger Film den aufkommenden Horror kaschiert, breitet sich die Wirklichkeit aus. Die Ahnung des Abschieds wird immer zwischen uns sein, ein kaum hörbar geflüsterter Verweis darauf, dass wir diese Momente gerade nur stehlen.

»Du bist vollkommen«, rühmst du mich in einer spiegelverdrehten Version meiner Gedanken. Deine Hände streichen über meine Flanken, und ich dehne und winde mich in deine warmen Handflächen. »Ich werde mein Glück, dich zu haben, wohl nie wirklich begreifen können.«

Du senkst den Kopf und verschließt meine Lippen mit deinen.

Beim zärtlichen Spiel deiner samtweichen Zunge muss ich vor Genuss seufzen. Ich vergehe im köstlichen Vergnügen deiner sinnlichen Küsse. Deine Lippen sind fest, aber zugleich weich. Deine Zunge schmeckt mich mit tiefen, bedächtigen Bewegungen. Ein wohliges Brummen dringt aus deiner Kehle, ähnlich dem Schnurren eines großen Katers. Du umschließt meinen Kopf mit den Händen und küsst mich, als bräuchtest du für immer und ewig nur noch meinen Mund und nichts anderes mehr.

Wie dankbar ich für deine Liebe bin, zeigen dir meine aufmerksamen Hände, die bewundernd über jedes kleinste Stück deines herrlichen Körpers streichen, das in ihrer Reichweite liegt. Du beugst dich meinen Berührungen entgegen, klemmst meine Unterlippe zwischen die Zähne und zupfst leicht daran.

Behutsam legst du dich auf mich, rollst dann zur Seite und nimmst mich mit, sodass meine Wange auf deiner Brust zu ruhen kommt. Deine Finger spielen mit meinen Haaren. »Wenn ich nicht bald aufstehe und zu arbeiten anfange, verbringe ich am Ende den ganzen Tag mit dir im Bett.«

»Einen Moment noch«, sage ich und schnappe mir dein Handy vom Nachttisch. Ich kuschele mich in deine Schulterbeuge und halte das Handy hoch über uns.

Du lachst schnaubend. »Ich bin überrascht, dass überhaupt noch Speicherplatz frei ist bei all den Fotos, die du gemacht hast.«

Ich fotografiere uns, wie ich deine Wange küsse. Dann schaue ich hoch und lächle breit, nicht nur für die Nachwelt, sondern weil du diesen geilen erfüllten Ausdruck eines Mannes hast, der gerade grandiosen Sex hatte, und schon steigerst du die Sache noch mit einem solchen vor Glück strahlenden Lächeln, dass mein Herz zu jauchzen beginnt. Ich knipse pausenlos, worüber wir beide in lautes Lachen ausbrechen.

»Ich gehe mich anziehen«, erklärst du schließlich. »Und du wirfst mal einen kritischen Blick in den Kampagnenentwurf für ECRA + und teilst mir dann beim Mittagessen mit, was du davon hältst.«

Eine Frage ist das nicht. Wenn du in den letzten Tagen gesättigt genug warst, um deinem Körper eine Pause zu gönnen, brachtest du mich in kleinen wie in großen geschäftlichen Dingen auf den laufenden Stand. Eine Flut an Informationen stürzte auf mich ein, und es fühlte sich an, als würde ich für einen Test büffeln, den ich in deinen Augen unbedingt bestehen sollte.

»Dazu habe ich mich bereit erklärt«, räume ich ein, »allerdings warte ich noch immer auf die Erklärung, warum dir an meiner Meinung gelegen ist. Du hast doch Angestellte, die sich ums Marketing kümmern. Du hast deren Instinkten doch bislang vertraut. Außerdem ist es das Projekt deiner Schwester. Und sie hat ganz bestimmt einen super Job gemacht. Dafür wird deine Mutter schon gesorgt haben, könnte ich mir denken.«

Deine Brust hebt und senkt sich schwer unter meiner Wange. »Ich hätte gern, dass du dich bei Baharan engagierst«, erwiderst du. »Es gehört dir ebenso wie mir.«

»Ich will es nicht.«

»Das hast du aber gar nicht zu entscheiden«, konterst du und ziehst mich amüsiert an den Haaren.

»Und warum nicht?«

»Weil das dein Plan war, für den du mich zurechtmodelliert hast. Du …«

»Also ›modelliert‹ würde ich jetzt nicht sagen«, bemerke ich amüsiert.

Du schaust mich kurz von der Seite an. »Bevor ich dich kennenlernte, habe ich nie auch nur einen einzigen Gedanken an Baharan verschwendet«, erklärst du ernst. »Du hast damit angefangen und vorgeschlagen, ich solle die Marke neu aufleben lassen.«

»Ich habe dich bloß gefragt, ob du dir das noch nie überlegt hast.«

»Wortklauberei.«

»Präzisierung.«

»Es nervt, sonst nichts!«

»Du weißt doch, wie viel Wert ich darauf lege, die richtigen Worte zu wählen«, sage ich lächelnd, kreuze die Unterarme auf deiner Brust und lege mein Kinn darauf. »Verkauf doch deinen Anteil, wenn du ihn nicht willst.«

»Unseren Anteil«, verbesserst du mich. »Und ich habe nie davon gesprochen, dass ich ihn nicht will. Ich möchte dich nur auch dabeihaben.«

»Und ich habe abgelehnt, und du meintest, das hätte nicht ich zu entscheiden.«

Deine Hand fährt durch meine Haare und packt mich am Genick. »Was hast du denn dagegen, mit mir zusammenzuarbeiten?«, fragst du. »Keiner kann das besser als du – Menschen einschätzen, ihr Potenzial ausmachen, erkennen, wozu sie in der Lage sind. Warum willst du diese Talente nicht bei mir einbringen?«

»Ich bringe bei dir alles ein, was ich habe, Kane. Was meins ist, ist deins. Im Guten wie im Schlechten. Das mit dem Schlechten musst du entschuldigen. Es ist bloß …«

»Hör auf zu witzeln«, unterbrichst du mich. Deine Gesichtszüge sind hart. In das Gesicht dieses Mannes habe ich vor Wochen beim Erwachen aus dem Koma geblickt. »Komm auf den Punkt.«

»Du brauchst mein Einverständnis nicht«, erkläre ich ruhig. »Es gibt Millionen von Gründen, warum ich stolz auf dich bin, und die haben allesamt weder mit deinem Job noch mit deinem Bankkonto zu tun. Du machst das ganz hervorragend auch ohne mich.«

»Scheiß auf hervorragend, ich will gar nichts ohne dich tun«, blaffst du zurück. »Und fängst du jetzt im Ernst an, mich hier zu analysieren? Ich bitte dich bloß, mit mir zu arbeiten, und du spielst gleich die Psychologin. Aber meinetwegen.«

Du machst dich los und stehst auf. Ich hindere dich nicht, drehe mich auf den Rücken und starre zur Decke.

Auf halbem Weg zum Kleiderschrank hältst du an. Ich schaue zu dir. Einen Moment verharrst du reglos, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt. Auch wenn ich weiß, dass du wütend bist, kann ich nicht anders, als deinen wunderbar knackigen Hintern zu bewundern.

Mit einem leisen Fluch kehrst du zurück und setzt dich auf die Bettkante. »Warum ich?«, fragst du, und die asketische Strenge in deinem Gesicht ist atemberaubend.

Es ist eine der zentralen Fragen, ich weiß, und die erste, die du mir gestellt hast. Dass du dich überhaupt fragst, warum jemand so viel Potenzial in dir sehen kann und in deine Träume investiert, bricht mir das Herz. Sie bringt mich zudem in eine schreckliche Lage.

»Du hast immer hart gearbeitet«, beginne ich. »Du wusstest im Rahmen deiner Möglichkeiten zu bleiben. Du warst nie nachlässig in irgendwas – weder in der Art zu leben, zu wohnen oder dich fit zu halten, noch wie du all die Frauen behandeltest, mit denen du ins Bett gestiegen bist. Du zeigtest dich nie eingeschüchtert oder überwältigt von der Gegenwart erfolgreicher Leute wie Ryan Landon, dessen Freunden oder mir. Du hast stets gute Ideen. Die Menschen holen gern deine Meinung ein. Ich könnte immer weiter fortfahren, aber du siehst schon, was ich meine.«

Dein konzentrierter Blick strahlt inzwischen eine bedrohliche Ruhe aus. »Wie ich Frauen behandelt habe, mit denen ich im Bett war, solltest du schwerlich beurteilen können, da ich seit meiner ersten Begegnung mit dir mit keiner anderen mehr geschlafen habe«, erklärst du. »Ich habe keine andere gewollt.«

Ich presse die Lippen kurz zusammen und richte den Blick wieder zur Decke. »Du weißt, was ich meine.«

»Nein, tue ich nicht«, erwiderst du und beugst dich direkt in mein Blickfeld. »Wie lange, bevor ich überhaupt wusste, dass es dich gibt, hattest du dich schon entschieden, mich allein für dich haben zu wollen?«

Meine Wachsamkeit ist geweckt. Ich verharre so reglos wie du. Du bist einfach zu clever. Der kleinste Ausrutscher von mir genügt, und sofort ziehst du daraus weitreichende, aber durchaus zutreffende Schlussfolgerungen. Deine Miene wirkt jetzt gespannt wie die eines Scharfschützen, der sein Ziel im Visier hat. »Ist das von Bedeutung?«, antworte ich ausweichend. »Darum geht es doch nicht.«

»O Liebste«, schmachtest du gefährlich, »da irrst du aber gewaltig. Jede Minute, die wir hätten zusammen sein können, es jedoch nicht waren, ist von Bedeutung. Denn das sind alles Momente, die du mir schuldest. Zeit, die du gestohlen hast, und ich führe Buch über jede einzelne Sekunde, damit ich bekomme, was mir zusteht.«

Ich fühle mich auf einmal zu nackt und streife mir die Decke über. »Ich bin eben eine eher praktisch veranlagte Investorin«, beginne ich. »Bloß am Schreibtisch Papiere zu studieren, bringt einen oft nicht weiter. Wenn mich Leute interessieren, kundschafte ich sie gern persönlich ein wenig aus, nur um zu sehen, wie sie sich benehmen, wenn sie nicht gerade Eindruck schinden wollen.«

»Du hast mich gestalkt?«, fragt er verblüfft.

»So würde ich das nicht formulieren.«

»Na, dann mal los!«, sagst du und musterst mich weiter mit diesem ungewissen Blick. »Wie lautet denn dein bevorzugtes Wort dafür, dass du mir heimlich auf Schritt und Tritt gefolgt bist?«

»Scouting.«

»Ach ja … okay. Und wobei hast du mich überall gescoutet?«

»Bei deinem Arbeitgeber McSorley’s. Bei deinen Spielen. Solche Dinge eben.«

»Solche Dinge eben …«, wiederholst du. Deine Augen sind jetzt pechschwarz. »Und was hast du gesehen?«

»All deine Eroberungen und Groupies«, sage ich und muss lachen, als du zusammenschreckst. »Wolltest du nicht eigentlich an deinen Schreibtisch?«

»Wie lange bist du mir gefolgt?«

»Nicht lange«, antworte ich seufzend. »Ein paar Wochen, bevor du hier auf der Party vorbeigekommen bist. Mir war vom ersten Moment an klar, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Du hast mit einer jungen Frau an der Bar geflirtet und über irgendwas gelacht, das sie gesagt hat, und ich war nur … wow. Dieser Blick – so lässig, sexy und selbstsicher – hat mich einfach umgehauen. Ich wollte unbedingt, dass du mich auch so ansiehst, jeden Tag, für den Rest meines Lebens.«

Ich drehe mich fort, um vom Bett herunterzurutschen, aber du reißt mich zurück unter dich.

Dein Gesichtsausdruck bricht mir das Herz. »Setareh  … Was fange ich bloß mit dir an?«, seufzt du. »Hättest du dich bemerkbar gemacht, hätte ich auf der Stelle damit begonnen, dich so anzusehen.«

»Das habe ich befürchtet«, antworte ich. »Du hast mir eine Riesenangst eingejagt.« Ich streiche dir die Haare aus der Stirn. »In einer perfekten Welt wäre ich einfach vor dich getreten und hätte alles Weitere den wundersamen Launen des Schicksals überlassen. Baharan hättest du dann nicht. Wir hätten unsere Sachen gepackt und wären ausgewandert. Aller Wahrscheinlichkeit nach wärst du inzwischen Vater. Vielleicht würden wir irgendwo an der Küste leben, und du würdest nur von zu Hause aus arbeiten, da dein sexueller Appetit etwas anderes schlicht nicht zulässt.«

Die Neckereien sollen die Stimmung ein wenig auflockern, und es scheint zu funktionieren. Deine Züge werden weicher, dein Blick wird wärmer.

»Und was würdest du tun?«

»Ach, du weißt schon, deine amourösen Avancen abwehren, weil ich viel zu viel damit zu tun habe, den kleinen Replikaten von dir hinterherzujagen.«

»Du würdest durchdrehen«, sagst du und legst die Stirn auf meine. »Dafür ist dein Ehrgeiz viel zu ausgeprägt.«

»Genau wie deiner.«

»Nein. Ich habe nie die ganze Welt haben wollen. Ich will Antworten, und ich will dich, das ist alles. Ich bin gar nicht der wahnsinnig anspruchsvolle Mensch, für den du mich gern hältst.«

Da bin ich anderer Meinung, verkneife mir aber, es zu sagen. Du bist der Sohn einer Narzisstin und deshalb darauf bedacht, alles besonders gut zu machen. Du wirst stets danach streben, so erfolgreich und perfekt zu sein, dass du die Anerkennung einer Mutter findest, die heute vor Stolz strahlen und morgen vor Enttäuschung ihr ätzendes Gift versprühen kann. Darüber hinaus macht dir seit Jahren die komplizierte und labile Schwärmerei für eine Chimäre zu schaffen. Diese in Unsicherheit wurzelnde Obsession hat dich aufgefressen. Doch sobald unser Schicksal entschieden ist, wirst du neue Herausforderungen finden. Denn die brauchst du.

»Hätten wir doch bloß all die Zeit zusammen verbracht«, murmelst du.

»Hast du dir denn niemals gewünscht, dass wir uns besser überhaupt nicht begegnet wären?«

»Nie, und du hättest es auch nie anders haben wollen«, antwortest du sofort und betrachtest mich aufmerksam. »Eben hast du gesagt, ich hätte dann Baharan nicht. War das ernst gemeint? Wäre dir das wirklich egal, wenn ich unsere Anteile verkaufen würde?«

»Nicht, wenn die Firma dich glücklich macht. Das ist alles, was ich will. Sollte der Wiederaufbau von Baharan dir kein Glück gebracht haben, schaff dir das Ganze vom Hals.«

Du küsst mich hart und lässt mich los. »Wenn ich dir jetzt nicht widerstehe, verpasse ich noch all meine Vormittagstermine. Und die vom Nachmittag womöglich gleich mit.«

»Na los«, sage ich und schüttele amüsiert den Kopf. »Erobere die Welt. Ich mach solange Kaffee.«

Du springst voll unerschöpflicher Energie aus dem Bett und gehst mit deinen langen, federleichten Schritten zum Ankleideraum. »Der Entwurf ist im Tablet«, wirfst du über die Schulter zurück. »In der File-Sharing-App. Du findest ihn schon. Und achte darauf, dass du dir sowohl die Datei für Marketing als auch die für Social Media anschaust.«

»Warum sind die getrennt?«, frage ich und stemme mich auf die Ellbogen. »Sollte Social Media nicht unter Marketing fallen und aus Kohäsionsgründen demselben Entwurf folgen?«

Du bleibst auf der Schwelle stehen, schaust zu mir und lehnst dich gegen den Türrahmen. Du bist vollkommen ungeniert in deiner Nacktheit. Und warum auch nicht? Perfekter können männliche Formen nicht sein. Du bist ein wahr gewordener Traum.

»Zwei verschiedene Abteilungen«, erwiderst du. »Marketing ist inhouse, Social Media nur irgendwie auch. Die Firma gehörte mal Amy, aber wir haben sie Baharan angegliedert, als sie meinen Bruder heiratete. Soweit ich weiß, haben wir die Übernahme noch nicht ganz abgeschlossen, daher gibt es einstweilen getrennte Entwürfe.«

»Soweit du weißt?«, frage ich erstaunt.

»Das liegt im Zuständigkeitsbereich meiner Mutter«, antwortest du mit einem beiläufigen Achselzucken. »Es dürfte dir doch bekannt sein, dass Name und Logo bei Baharan von ihr stammen, daher überlasse ich alles ihr, was mit Markenmanagement zu tun hat.«

Ich erinnere mich an die eisigen Blicke zwischen den beiden Frauen in der Bibliothek und später dann an Aliyahs Reaktion auf Amys Verletzung im Büro. »Sie hat eine Schwäche für dich.«

Sofort überzieht eine ausdruckslose Maske dein Gesicht und verbirgt deine Gedanken. »Meine Mutter?«, fragst du. »Darüber lässt sich streiten.«

»Du weißt genau, dass ich nicht von deiner Mutter spreche«, gebe ich bissig zurück.

Du fährst dir mit der Hand über das Gesicht.

Ich warte ab, ob du noch etwas sagst oder dich einfach abwendest. Drängen will ich dich nicht. Das ist überflüssig, schließlich habe ich gesehen, wie Amy auf dich reagiert.

»Für den Bruchteil einer Sekunde«, erklärst du unwillig, »hat sie mich an dich erinnert.«

Auch wenn ich es schon wusste, trifft der Schlag, es ausgesprochen zu hören, mich unvorbereitet. Ich lasse mich auf den Rücken fallen und starre wieder zur Kassettendecke hoch. Die makellose Symmetrie gibt dem Chaos in meinem Kopf ein wenig Halt. »Du schuldest mir keine Erklärung, Kane«, sage ich in den Raum.

»Mir ist sie nach einem harten Tag irgendwie aufgefallen«, fährst du fort. »Es war einer dieser Tage, an denen ich ständig an dich denken musste. Es war nur eine Nacht. Nicht mal eine Nacht. Am Ende hat sie auf diesem Weg Darius kennengelernt.«

Meine Enttäuschung ist gewaltig. Allerdings nicht aus dem Grund, den du vermutlich annimmst.

»Du hast völlig recht, wenn du sauer bist.«

»Nein, habe ich nicht.«

»Mich überkommt Mordlust, wenn ich mir dich mit jemand anderem vorstelle«, platzt es hart und leidenschaftlich aus dir heraus.

Wir bleiben beide lange Zeit stumm. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, in der meine Gedanken mit meinen Dämonen tanzen.

»Kannst du mir vergeben, Setareh ?«, fragst du leise.

»Kane«, sage ich kopfschüttelnd, »da fragst du die Falsche. Bei ihr solltest du dich entschuldigen.«

Du atmest hörbar aus. »Da hast du recht«, räumst du ein.

»Ich kann dich zwar nicht von irgendwas freisprechen, aber deine Frau war tot, und du warst einsam«, fahre ich fort. »Sei gnädig mit dir – du bist auch nur ein Mensch. Davon abgesehen solltest du jedoch nie vergessen, dass du auf Frauen betörend wirkst. Sei also vorsichtig.«

»Ich verstehe, was du meinst.«

Ich nicke und sage: »Überhaupt ein Wunder, dass du nicht verheiratet bist und Kinder hast.«

»Ich hätte nie noch einmal geheiratet oder eine Familie gegründet.«

»Das weiß man nie.«

»Und ob ich das weiß«, erwiderst du und verschränkst die Arme vor der Brust. »Ich hätte mich nie mit weniger zufriedengegeben. Und ich hätte mit einer anderen auch nie ein Kind haben wollen.«

Es versetzt mir einen Stich. Dabei ist es gar nicht die übliche Form von Eifersucht, die uns quält. Wir fürchten keine Umorientierung der Gefühle, denn dafür ist unsere Bindung viel zu stark. Eifersüchtig sind wir allein darauf, dass hier sinnliche Freuden verschenkt und empfangen werden, während unsere Beziehung von Schmerz geprägt ist.

Mein Mund bemüht sich um ein Lächeln. »Du könntest jetzt mit einer anderen zusammen sein, aber stattdessen bin ich bei dir«, sage ich. »Das macht mich glücklich. Alles andere ist egal.«

»Ich würde nie eine andere Frau hierherbringen oder wohin auch sonst«, erklärst du. »Es gab nie jemanden von Bedeutung. Wer hätte schon mit dir konkurrieren können?«

Ich schaue schnell fort, um meine Tränen zu verbergen, und schüttele den Kopf.

»Ich war innerlich wie gelähmt vor Sehnsucht nach dir«, fährst du fort. »Ich habe gelernt, damit zu leben, aber manche Tage waren einfach der Horror.« Die Erinnerung an die Leiden lässt dich kurz innehalten. »An manchen Tagen habe ich wie unter Zwang nach dir gesucht, habe in jeder Frau, die mir begegnete, gehofft, dich zu finden. Und wenn es ihnen gelang, dass ich zweimal hinsehen musste, dass wenigstens eine Sekunde lang dieser Funke Hoffnung aufglühte, dann brachte mich das um den Verstand. Prompt drehte ich durch vor Enttäuschung … und habe sie gefickt.«

Ich schnappe laut nach Luft und lege mir die Hände über die Augen. Als ich dich kennenlernte, wärst du solcher Rohheiten nicht fähig gewesen. Nein, das stimmt nicht. Fähig dazu sind wir alle, du wärst einfach zu nett gewesen, um dich so grausam zu verhalten. Ein gebrochenes Herz hat dich zu einem anderen werden lassen.

»Wütender Sex kann reinigend sein«, fauchst du erregt nach einer kurzen Pause. »Anschließend hasste ich mich selbst für meine Schwäche. Ich hasste dich dafür, dass du mich schwach gemacht hattest, dass ich mich nur deinetwegen mit Frauen abfinden musste, die nicht wie du rochen, nicht wie du schmeckten, sich nicht wie du anfühlten. Frauen, die in mir niemals das sehen konnten, was du gesehen hast. Also habe ich sie noch einmal gevögelt, gerade weil mir davon schlecht wurde, weil ich es verdient hatte, von Ekel aufgefressen zu werden. Es widerte mich so an, dass ich keine danach noch einmal wiedersehen wollte.«

Ich drehe mich von dir fort, ziehe die Beine an meine Brust. Kurz darauf spüre ich, wie die Decke angehoben wird und die Matratze nachgibt. Dein Körper nimmt die gleiche Embryonalstellung an, und deine kühle Haut schmiegt sich an meine. Dein kräftiger Arm umschlingt mich und zieht mich zu dir heran, während deine Lippen sich reuevoll auf meine Schulter pressen. Du wolltest mir wehtun, wie dir wehgetan wurde, wolltest mich strafen, wie du das Gefühl hattest, gestraft zu werden. Das ist das Verrückteste an der Liebe: Sie ist von innen nach außen gestülpter Hass.

Der Mann, den ich einst kennenlernte, wäre nicht zu solch demonstrativer Grausamkeit fähig gewesen. Die Liebe zu Lily hat dich entstellt, und dafür übernehme ich die Verantwortung, das ist das Mindeste. Ich ergreife deine Hand und verschränke unsere Finger.

Keiner spricht ein Wort. Die Umarmung allein wirkt auf uns beide beruhigend. Lange Zeit liegen wir so da. Die Sonnenstrahlen auf Wand und Decke wandern weiter.

»Bist du okay?«, fragst du schließlich.

Ich nicke. »Und du?«

»Ich komme mir wie der letzte Dreck vor. Abgesehen davon kann mir nichts passieren, solange zwischen uns alles gut ist.«

»Alles wird gut zwischen uns.«

»Ich gebe Julian Bescheid und nehme mir den Tag frei«, sagst du und beginnst, dich zu bewegen.

Ich drehe den Kopf und schaue dich an. »Tu das nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil alles okay ist bei mir«, betone ich noch mal. »Alles okay ist bei uns. Im Ernst. Und du musst möglichst viel vom Tisch schaffen, damit wir die Flitterwochen machen können, die du mir versprochen hast.«

Du studierst fragend mein Gesicht, scheinst aber zufrieden zu sein mit dem, was du darin liest, denn du drückst mir schnell einen festen Kuss auf die Lippen und sagst: »Ich liebe dich.«

Ich hole tief Luft und seufze. »Ich weiß.«

Es ist eine verrückte, erdrückende, grausame Form von Liebe. Du bist eigentlich für zartere, sanftmütigere Empfindungen geschaffen, doch du hast dich angepasst. Ich trauere dem einfühlsamen jungen Mann von früher nach, aber ich bin von einer wahnsinnigen, atemlosen und brutalen Liebe für den Mann erfüllt, der aus ihm geworden ist.