Lily
»W arum warst du um mich besorgt, aber nicht um Ryan?«, bohrst du weiter.
Ryan. Meine Vergangenheit passend zu ordnen wird immer eine tückische Angelegenheit bleiben. »Ihn habe ich nicht geliebt«, antworte ich tonlos.
»Offenkundig, und später kannst du mir auch erklären, was das in diesem Zusammenhang für eine Rolle spielt«, antwortest du und legst die Stirn in Falten. »Aber jetzt wüsste ich gern, wie der Mann zeitlich einzuordnen ist, der dir die Blumen geschickt hat. Bevor wir uns kennenlernten, oder nachdem du zu Ivy wurdest?«
Ich betrachte dich, während meine Gedanken rasen. Inzwischen wirkst du bedrohlich, hast nichts Sanftes, Anschmiegsamen oder Vernarrtes mehr an dir. Absonderlicherweise erregt mich die Gefahr.
Ich sammele mich für diesen Moment, den ich stets gefürchtet habe. »Hast du jemals nach deinem Vater gesucht?«
Deine Miene verfinstert sich weiter angesichts des vermeintlichen Themenwechsels. »Du bist jetzt an der Reihe damit, Fragen zu beantworten«, gibst du verärgert zurück.
»Was mit deinem Vater passiert ist, gehört zur Antwort, glaub mir.«
Du löst dich aus mir und legst dich auf den Rücken. Deine feucht schimmernde Erektion krümmt sich stolz Richtung Nabel. Ich schiebe mein Kleid herunter, rolle mich auf die Seite und schaue dich an. Nichts kühlt Verliebtheit so rasch ab wie der Gedanke an die Eltern.
»Wir fanden seinen Namen und seine Passnummer auf der Passagierliste eines Flugs nach Südamerika etwa zu der Zeit seines Verschwindens«, antwortest du, ohne den Blick von der Zimmerdecke abzuwenden.
Ich stütze den Kopf auf, um dich ansehen zu können. Die Sonne geht langsam unter und taucht den Raum in eine opulente Mischung aus warmen Farbtönen und kühler Dunkelheit. Auch deine herrlichen Züge liegen halb im Licht und halb im Schatten. Mir gefallen die Dämmerung und der Schutz, den sie mir bietet.
»Nach Cartagena, habe ich recht?«, frage ich. »Aber jemanden nach Kolumbien geschickt, um dort nach ihm zu suchen, hast du nicht, oder?«
Nun erstarrst du so abrupt wie ich zuvor. Dein Kopf schnellt zu mir, ich kann die Hitze spüren, die dein Körper plötzlich abstrahlt. »Woher weißt du, wohin er gegangen ist?«
Ich stehe auf und trete ans Fenster. Draußen liegt ein dunkler Schimmer über dem Sound, als wäre er aus Öl. So weit von dir entfernt und so feucht im Schoß, beginne ich zu frieren. Vor dem dämmrigen Himmel wird sich meine Silhouette abzeichnen, was seine Wirkung auf dich haben dürfte und mir womöglich einen Vorteil verschafft. Ich bin mir vollkommen darüber im Klaren, dass wir uns, obwohl wir uns eben erst geliebt haben, in diesem Moment so fremd sind wie nie seit unserer Ankunft im Strandhaus.
Ich hebe die Stimme, damit du mich gut verstehen kannst, aber behalte einen möglichst unaufgeregten Ton bei. Die Information ist auch ohne Dramatisierung schon grauenvoll genug. »Ich war dabei, als meine Mutter sich mit einem Mann traf, um ihren Namen von einer Passagierliste nach Kolumbien zu löschen. Sie war als No-Show aufgeführt, wollte jedoch, dass ihr Name komplett gelöscht und der Status ihres Mitreisenden von No-Show auf Boarded geändert wird. Ich weiß noch, wie ich dachte, was für ein spannend klingender Name Cartagena doch ist, diese Kombination von hart und weich. Du kennst ja mein Faible für Wörter. Und dann Paul Tierney – der Name ist hängen geblieben. Ich weiß nicht mehr, welchen falschen Namen meine Mutter damals benutzte, aber den von deinem Vater habe ich nie vergessen.«
Du hast später sowohl den Namen deines Vaters als auch den deines Stiefvaters abgelegt und dir selbst einen neuen ausgesucht: Black. Den hast du dann mir gegeben. Du begründest also ein neues Vermächtnis, frei von den Makeln der Vergangenheit, aber die Vergangenheit holt dich ein. Wirklich los werden wir sie nie.
Ich höre, wie hinter mir die Matratze quietscht. »Unsere Eltern kannten sich?«, fragst du ungläubig.
Eine erwartungsvolle Stille tritt ein, als würde das Haus vor der Entscheidung über diesen Abend und unsere Liebe den Atem anhalten.
»Sie bezahlte den Mann in bar«, fahre ich unbeirrt fort. »Es war ein riesiger Stapel Scheine. Ich konnte einfach nicht den Blick von dem Haufen Geld abwenden, der da vor uns auf dem Tisch lag. Wir waren so lange arm gewesen. Es war ein Schock, dass sie so viel Geld besaß, und vor allem, dass sie es einfach so fortgeben wollte. Ich weiß noch, wie ihre Hand zitterte, als sie das Bündel herausholte, aber ansonsten hat sie sich nichts anmerken lassen.«
Ich wühle eine Weile in meinem Kopf nach weiteren Erinnerungen, doch die Bilder wirken, als wären sie auf wabernde Nebelschwaden projiziert. Nur Bruchstücke und vage Ahnungen lassen sich ausmachen. Und dabei bin ich mir noch im Unklaren, ob ich nicht gewisse Schnipsel ausgeschmückt habe, um Lücken zu füllen. Es ist schon so lange her, und ich war ein Kind, das ganz auf seine Mutter fixiert war.
Du schweigst. Du kannst mir die Vergangenheit nicht abzwingen und meine Worte nicht einfach für unwahr halten, das begreifst du wohl. Es ist schrecklich, sich jemandem so umfassend zu öffnen, zu wissen, dass du nun die Dunkelheit kennst, die mich umfangen hält wie ein Liebhaber. Womöglich kommt es dir sogar entgegen. Vielleicht funktionieren wir bloß auf diese Weise – wenn ich die Lily auf der trüb angelaufenen Seite der Goldmünze bin. Ähnlich genug, um die Fantasie aufrechtzuerhalten, aber doch so verschieden, dass ihr Andenken unbeschädigt bleibt.
Allerdings war sie in Wahrheit gar nicht so ein Unschuldsengel, habe ich recht?
Du stehst vom Bett auf. Das Licht, das durch das Dachflächenfenster im Bad fällt, reicht aus, um deine große, muskulöse Gestalt im Fenster zu spiegeln. Unsere beiden Schatten scheinen jetzt unmittelbar nebeneinanderzustehen, obwohl uns in Wirklichkeit der ganze Raum und die Geheimnisse einer Lebensspanne trennen.
»In der Woche zuvor hatte sie ihre Koffer gepackt«, nehme ich den Faden wieder auf und drehe dabei mit dem Daumen den Ring an meinem Finger. »Da sie meine nicht gepackt hatte, war mir klar, dass sie ohne mich gehen würde. Und es war auch keineswegs ungewöhnlich für sie, mich allein zu lassen. Sobald ich alt genug war, um den Fernseher und die Mikrowelle zu bedienen, blieb sie manchmal die ganze Nacht fort. Als ich in die Mittelstufe kam, fing sie an, länger wegzubleiben. Sie gab mir ein wenig Geld, stellte Essen in den Kühlschrank und schärfte mir ein, jeden Tag in die Schule zu gehen, damit das Sekretariat keinen Anlass hatte, während ihrer Abwesenheit zu Hause anzurufen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, frage ich mich, ob sie von der Reise nach Kolumbien überhaupt zurückkommen wollte. Du weißt ja selbst, wie viel dein Vater unterschlagen hatte. Wahrscheinlich dachte sie, endlich am Ziel ihrer Wünsche angekommen zu sein. Und für deinen Vater stand fest, dass er nicht nach Hause zurückkehren konnte, ohne im Gefängnis zu landen.«
Am Strand bewegt sich etwas. Ich senke den Blick und entdecke Bens Enkelsohn Robert von nebenan, der zu mir hinaufschaut. Ich verharre reglos, damit ich nur ein vager Umriss in der Dunkelheit bin. Ich erinnere mich an seine Behauptung, mich hier in den vergangenen sechs Jahren bisweilen gesehen zu haben. Ein verstörendes Déjà-vu-Gefühl überfällt mich, und einen Moment lang wird mir schwindlig.
Ich spüre mehr, als ich höre, wie du dich besorgt näherst, und strecke abwehrend die Hand aus. »Nein, mir geht’s gut«, erkläre ich schnell. »Lass mich zu Ende erzählen.«
Ich könnte es nicht ertragen, jetzt von dir berührt zu werden. Ich bin irgendwo zwischen Kindheit und der Frau, die ich heute bin, gefangen, bin weder das eine noch das andere wirklich, wodurch ich unausstehlich und beängstigend verwundbar werde.
»Du glaubst, sie waren ein Liebespaar«, sagst du nun schon deutlich näher.
»Mit Liebe hatte das Ganze nichts zu tun, zumindest nicht vonseiten meiner Mutter«, erwidere ich. »Sie war gar nicht fähig, jemanden zu lieben. Meiner Ansicht nach betrachtete sie deinen Vater eher als Bankguthaben, während dein Vater in ihr vor allem die hinreißende Frau sah. Die Männer sind reihenweise ihretwegen durchgedreht, Kane. Sie konnte einen Mann mit einem Fingerschnipsen dazu bringen, jegliche Selbstkontrolle zu verlieren.«
»Das glaube ich gern.«
Ich sehe, wie Robert sich abwendet und weiter am Strand entlangläuft. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine Frau sie war.«
Du umschlingst mich von hinten und reibst deine Schläfe an meiner. »Meinst du?«
»Ich bin nur ein fader Abklatsch von ihr.«
»Du überstrahlst alles, wenn ich dich berühre. Deine Augen leuchten, wenn du mich anschaust.«
Ich sei sicher bei dir, hast du gesagt. Die Geduld, mit der du auf die Antwort deiner Frage wartest, beweist das unwiderlegbar. Doch wenn ich dir schildere, wie unsere Leben anfingen, sich zu kreuzen, könnte ich aus der Haut fahren. Der Luftzug, der meinen Körper wie eine Liebkosung streichelt, macht mich fast verrückt.
»Wenn sie unfähig war zu lieben, kann sie unmöglich so schön gewesen sein wie du«, flüsterst du mir wohlig ins Ohr.
Bei dir Bestätigung zu finden, schenkt mir die emotionale Sicherheit, an die man mich stets lehrte, nicht zu glauben. In einem fernen Winkel meines Hirns kann ich hören, wie meine Mutter über meine hoffnungslose Sentimentalität, mein unstillbares Sehnen nach dir lästert. Die Melodie ihres Lachens hallt in meinem Innern. Ich sehe das herzlose Funkeln von Augen vor mir, die ebenso grün leuchten wie meine und in denen steht, dass alles sich genau so entwickelt, wie sie es erwartet hat. Sie hat alles vorhergesehen und überall ihre Finger im Spiel gehabt. Ihr entkommt niemand. Nichts kann sie überraschen, schon gar nicht ich.
Ungeachtet ihrer gnadenlosen Erziehung, hat die Liebe mich nichts ahnend erwischt. Sie trägt dein Gesicht, spricht mit deiner Stimme. Ich spüre sie, wenn deine Haut über meine streift. Du hast mich zu Fall gebracht. Und ich habe wieder eine Lektion gelernt. Doch bislang hat noch jede Lektion, die das Leben mir erteilte, bloß dazu geführt, dass ich meiner Mutter ähnlicher geworden bin.
»Es gibt eine Unmenge von Antworten, die ich gern von dir hätte«, sagst du und lehnst den Kopf an meinen. »Was aus meinem Vater geworden ist, gehört nicht dazu.«
Dein nackter Oberkörper an meinem entblößten Rücken glüht die Kälte fort, die mir in die Knochen gestiegen ist. »Dein Vater hatte einen schwachen Punkt«, beginne ich, und jedes Wort verbrennt mir wie Säure die Kehle. »Und meine Mutter war womöglich die Einzige, die ihn auszunutzen vermochte. Es ist durchaus denkbar, dass dein Vater es sich noch mal anders überlegen wollte. Vielleicht ist ihm auf dem Weg zum Flughafen bewusst geworden, dass er dich und das Leben, das er sich aufgebaut hatte, nicht aufgeben wollte, aber meine Mutter war in diesem Moment schon viel zu nahe dran, sein Geld in die Finger zu bekommen, um ihm einen Rückzieher zu erlauben. Irgendwas lief jedenfalls schief, Kane, und keiner von beiden saß in diesem Flugzeug. Sie kam nach Hause mit dem Geld, und dein Vater wurde nie wieder gesehen.«
Der Druck deiner Arme erhöht sich. »Willst du mir die Sache etwa dadurch leichter machen, dass er womöglich gar nicht zurückkommen konnte?«, entgegnest du scharf. »Das ändert nichts an seinen zuvor getroffenen Entscheidungen, seine Familie zu verlassen, sein Lebenswerk zu zerstören, seinen Geschäftspartner übers Ohr zu hauen und zu ruinieren und seinen Angestellten die Lebensgrundlage zu nehmen … Und das alles wegen einer Frau, die unfähig ist, ihn zu lieben, aber willens und in der Lage, ihn umzubringen?«
Alles an dir – deine Haltung, dein Ton, deine Wortwahl – verrät abgrundtiefe Verachtung und Zorn. Dein Widerwille lodert so heftig in dir, dass er deinen Körper weiter aufheizt.
Ich lehne mich an dich, schmiege mein Rückgrat an deine harte Brust, schlinge die Arme über deine. Ich lege die Wange an deine Schulter, tue mein Bestes, dir das beruhigende Gefühl von Geborgenheit zu geben. »Deshalb hatte er es aber noch lange nicht verdient zu sterben«, bemerke ich dann.
»Das sage ich ja auch nicht«, erwiderst du. Dein Kinn ruht nun auf meinen Kopf. »Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, eine Frau mehr als die Luft zum Atmen zu brauchen, aber er wird dennoch nie mein Mitgefühl haben, und ich werde ihm auch nie verzeihen. Ich bin dir verfallen, weil du mich liebst. Würdest du das nicht tun, wäre es doch vollkommen egal, wie sehr ich dich liebe, ich käme nie auf den Gedanken, mein Leben oder das eines anderen deinetwegen zu ruinieren.«
»Es tut mir leid, Kane.«
»Entschuldige dich nicht für ihn.«
»Ich entschuldige mich dafür, es dir nicht früher gesagt zu haben. Du hättest wissen sollen, dass meine Mutter meiner Ansicht nach deinen Vater umgebracht hat. Ich hatte nicht das Recht, dir diesen Verdacht vorzuenthalten, und ich tat es aus reiner Selbstsucht, weil ich Angst hatte, diese Vorgeschichte würde unsere Zukunft zerstören.«
Deine Brust weitet sich zu einem tiefen Ausatmen. »Wegen dieser Vorgeschichte hast du mich also ausfindig gemacht und ›gescoutet‹.«
»Du nennst mich dein Schicksal. Deine Bestimmung. Aber es fing gar nicht mit uns an – es fing mit ihnen an.«
»Die Taten meines Vaters haben dich zu mir geführt, Setareh. Wie sollte ich mir wünschen, alles hätte sich anders entwickelt, wenn unsere Ehe das Resultat ist?«
»Ich fände es verständlich, wenn du es dir wünschen würdest.«
»Tue ich aber nicht«, erklärst du entschieden und drehst mich zu dir. »Und das werde ich auch nie.«
Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue hoch in dein atemberaubend schönes Gesicht. Die beiden Hälften von mir – die Frau, die meine Mutter immer aus mir machen wollte, und die Frau, die dich unsterblich liebt – ringen miteinander. »Ich habe nicht vor, das Verhalten meiner Mutter zu rechtfertigen, aber du musst etwas mehr über sie wissen, um den Rest zu verstehen.«
Du schweigst, und nach einer kurzen Pause fahre ich fort: »Sie verachtete Männer grundsätzlich. Ihrer Meinung nach waren sie durchweg von Natur aus schwach, unzuverlässig und über ihre Schwänze leicht lenkbar. Sie sagte das zwar immer mit einem Lachen, als würde sie es nicht ganz ernst meinen, aber später erkannte ich, wie abnorm sie tatsächlich war. Vermutlich war der Mord an deinem Vater nicht einmal geplant gewesen, allerdings bereitete er ihr offenbar so viel Vergnügen, dass sie auf den Geschmack kam. Er war ihr erstes Opfer, aber er war ganz sicher nicht ihr letztes.«
Bleischwer und eisig hängt mein Geständnis zwischen uns im Raum. Deine Pupillen weiten sich, deine gebräunte Haut wird blass. Dein ganzer Körper strafft sich wie die Sehne eines Bogens, und deine Finger bohren sich in meine Hüften.
Ich halte dich ebenso fest. Mit gespreizten Händen auf deinem Rücken presse ich uns aneinander, als ob ich so verhindern könnte, dich zu verlieren. »Eins ihrer Opfer führte einen Laden, der sich als Geldwaschanlage des organisierten Verbrechens entpuppte, weshalb das Geld, das sie ihm abknöpfte, in Wahrheit einem Gangster namens Val Laska gehörte. Es dürfte Val nicht die geringsten Probleme bereitet haben, die Spur zu meiner Mutter zurückzuverfolgen. Wer ihr einmal begegnet war, vergaß sie in der Regel nicht so schnell. Und sobald er sie traf, verfiel auch er, wie all die Männer vor ihm, ihrer blendenden Schönheit, und sie hatte den Herrscher an ihrer Seite gefunden. Val ergänzte sie perfekt und machte sie nur noch tödlicher.«
Ich stelle sie mir oft zusammen vor. Sie respektierten sich, wussten um die wahre Persönlichkeit des anderen und fürchteten einander. Diese Kombination ergab ein brandgefährliches Aphrodisiakum, dessen Mischung genau zu den beiden passte.
Und machen wir uns nichts vor, sind wir wirklich so anders?
»Vor der Zeit mit Val waren ihre Opfer stets brave Familienväter«, fahre ich fort. »Teil ihres Spiels war eben die Lust daran herauszufinden, ob ein Mann, der alles hat, so selbstsüchtig und gierig ist, unbedingt noch mehr zu wollen. Widerstanden sie der Versuchung, ließ sie sie leben. Wenn nicht, starben sie. Aber Val in die Hölle zu locken, ergab keinen Sinn – schließlich war er deren Herrscher: Menschenschmuggel. Prostitution Minderjähriger. Auftragsmord. Folter war da nur ein Hobby.«
»Klingt wie der Traumpartner«, bemerkst du zynisch, aber mit zornigem Unterton. »Wie hat es dich betroffen?«
»Eigentlich gar nicht«, antworte ich. »Meine Mutter zog bei ihm ein, ließ mich, wo ich war, und mein Leben ging weiter wie bisher, nur dass sie noch weniger Anteil daran hatte. Sie gab mir Geld, kam für Kleidung, Essen und die Miete auf. Ich war auf mich allein gestellt, was ich sowieso schon immer gewesen war. Erst als ich dann älter wurde und ihr ähnlich zu sehen begann, erwachte ihr Interesse an mir neu.«
Ich bemühe mich zwar, möglichst abgeklärt zu klingen und zu wirken, muss mich jedoch durch irgendetwas verraten haben. Mitgefühl tritt in deinen Blick, macht ihn milder. Keine Ahnung, warum ich das alles erzählen musste. Ich hätte deine Frage auch einfach mit einem Achselzucken abtun und es bei der Bemerkung belassen können, dass ich es ja offensichtlich ganz ordentlich überstanden habe. Eigentlich wollte ich dir nur verständlich machen, was es wirklich mit der Blumensendung auf sich hat. Aber irgendwie konnte ich meine Klappe nicht halten, und wenn ich jetzt abbreche, wirst du dir bloß unnütze Dinge ausmalen.
Vielleicht wollte ich insgeheim auch nur mehr erzählen.
Ich hebe den Kopf und führe das Ganze zu Ende: »Etwa zu der Zeit, als ich in die Pubertät kam, hörte sie auf, mich als eigenständige Person zu betrachten. Sie verstand mich nun eher als ihren Klon, eine neue, verbesserte Modellentwicklung, die ihr fantastisches Leben kopieren würde, nur ohne die Fehler.« Tränen brennen mir in den Augen. »Ich habe sie geliebt, Kane«, gestehe ich. »Ich werde sie immer lieben, trotz der Dinge, die sie dir, deiner Familie oder den vielen anderen angetan hat. Zu Anfang liebte ich sie, wie jedes Kind eben seine Mutter liebt, auch wenn sie nicht dafür geschaffen war, sich um jemanden zu kümmern, schon gar nicht um so einen kleinen Menschen. Später, als ich erwachsen war, habe ich dann den Wert ihrer Lektionen begriffen, und ich war ihr dankbar dafür. Sie hat mich stark gemacht, hat mich über das Verhalten der Leute aufgeklärt, vor allem der Männer. Daher bin ich nie naiv oder leichtgläubig gewesen. Ich bin nie in bedrohliche Situationen mit irgendwelchen Typen geraten.«
»Du musst dich für deine Empfindungen gegenüber deiner Mutter nicht schämen«, versicherst du mir.
»Sie schärfte mir ein, dass ich auf dieser Welt haben kann, was immer ich will, weshalb ich mich bei all meinen Zielen nie irgendwelchen Grenzen unterworfen habe. Leb, wie es dir gefällt, beschwor sie mich. Lass dich nicht von der Welt daran hindern. Sobald ich vor einer wichtigen Entscheidung stehe, höre ich ihre Stimme, die mir sagt, was ich tun soll, und ihr Rat – ganz gleich wie er auch lauten mag – verleiht mir stets Kraft.«
»Du bist nicht wie sie, Lily«, erklärst du und siehst mir fest in die Augen. Die Dunkelheit um uns nimmt zu.
»Meine besten Seiten schon. Und meine schlimmsten auch.«
»Ich liebe jede Seite an dir«, sagst du und fährst mit der Hand beruhigend mein Rückgrat herab, obwohl ich doch diejenige sein sollte, die dir die Sorgen abnimmt. »Ich sage es dir so oft, bis du es glaubst: Nichts kann etwas an meinen Gefühlen für dich ändern. Außerdem schenkst auch du anderen Kraft. Es ist eine besondere Gabe, die du hast.«
Ich hole tief Luft, atme langsam aus. Mein erschöpfter Körper schmiegt sich in deine Umarmung.
»Also, zu deinem Freund Val …«, fängst du an. »Massiger Typ, groß, glatzköpfig, mit einem Faible für protzige Autos?«
»Ja, das ist Val«, antworte ich, und eine böse Vorahnung beschleicht mich.
»Er hat die Blumen geschickt – höchstpersönlich«, berichtest du und streichst mir eine lose Haarsträhne hinter das Ohr. »Hat er es auf dich abgesehen? Auf das Geld? Oder auf beides?«
»Nein, auf dich. Du sollst sterben.«
Dein Körper erstarrt.
»Du musst begreifen, wie diese Menschen denken, Kane«, erkläre ich. »Nach außen hin schien ich alles erreicht zu haben, was meine Mutter sich erhofft hatte. Ich war unabhängig, behandelte Männer als Spielzeug und musste niemand gegenüber Rechenschaft ablegen. Dann verliebte ich mich in dich, und alles veränderte sich. Du warst der Auslöser dafür, also musst du verschwinden. Und meine Mutter mochte zwar von Liebe nicht die geringste Ahnung haben, aber sie wusste, dass deine Ermordung der krönende Abschluss meiner Ausbildung sein würde. Erst dann wäre ich wirklich mitleidlos.« Ich schließe die Augen und lege die Stirn auf deine Brust. »Wenn dir etwas zustößt, würde ich endlich, was ich in ihren Augen immer werden sollte – sie.«
Deine Lippen pressen sich hart auf meinen Scheitel. »Mir geschieht schon nichts.«
»Val wird die Wünsche meiner Mutter erfüllen«, erwidere ich. »Darin besteht die Botschaft der Blumensendung: Er hat es auf dich abgesehen. Denn er würde sie enttäuschen, wenn er zuließe, dass du mich haben kannst, und enttäuschen will er sie auf keinen Fall.«
Ich drehe mich ein wenig, um zu testen, ob du mich loslassen würdest, aber dein Griff wird fester und gibt mich nicht frei.
»Du darfst es nicht bedauern, dich in mich verliebt zu haben, Setareh . Ich würde fünf Minuten mit dir stets fünfzig Jahren mit einer anderen vorziehen.«
Aufgebracht stoße ich dich fort. »Verfluchte Scheiße, denk doch gefälligst mal zuerst an dich, Kane!«, fahre ich dich an. »Zuallererst musst du dich selbst lieben. Du kannst das doch nicht einfach bloß hinnehmen! Du solltest erbost darüber sein, dass meine Selbstsucht dich in Lebensgefahr gebracht hat.«
»Spar dir den Mist«, gibst du mit hochgezogenen Brauen zurück. »Dafür bin ich nicht in Stimmung.«
»Für dich bin ich doch bloß eine ständige Herausforderung«, platzt mir der Kragen. »Etwas, dem du unablässig zu genügen versuchst, weil du deiner Meinung nach eigentlich keine Liebe verdienst. Dank deiner Eltern hältst du es nicht für möglich, dass dich jemand liebt, wirklich liebt. Wer bist du überhaupt, wenn du nicht der Mann bist, der versucht, Lily zu verdienen?«
»Fang nicht mit diesem verdammten Psychogeschwafel an!«, rufst du und wendest dich mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.
Aber ich kann nicht. Du reagierst einfach nicht so, wie ich es von dir brauche. Wo bleibt der Abscheu? Die Wut? Die Angst? Wo ist das Wilde? »Es ist eine Art Co-Abhängigkeit«, mache ich weiter. »All unsere Eigenschaften verstärken negative Verhaltensmuster beim jeweils anderen, merkst du das denn nicht?«
»Fasst du mir jetzt den kompletten Lehrstoff eines deiner Psychologieseminare zusammen?«
»Du glaubst, wenn du meine Liebe verdient hast, wäre das deine Heilung, aber das Ganze ist zu einer Obsession geworden, die dich vielmehr zerstört.«
»Okay, also gut«, sagst du und drehst dich zu mir zurück. »Du willst streiten? Bitte schön! Ich bin sowieso schon angefressen genug über diesen blöden Blumenstrauß.« Du packst mich an den Armen und schüttelst mich hart. »Jeder Mensch ist ein wenig durchgeknallt. Du bist nie glücklicher gewesen als mit mir. Ohne dich wäre ich nie der geworden, der ich bin. Wen kümmert es da schon, ob deine Scheißverhaltensstörung irgendwas mit meiner Scheißverhaltensstörung macht, sodass was weiß ich für ein Mist sich verstärkt? Solange es funktioniert, braucht niemand eine Therapie.«
Wie ein Leichentuch hatte sich die Nacht herabgesenkt. Im Haus ist es still und ruhig, eine dunkle Wacht, die uns vor der Welt da draußen schützt. Du bist zum Schatten geworden, mit Augen, die funkeln wie Sterne.
»Hör auf!«, sagst du barsch und lässt mich los, um mein Gesicht in die Hände zu nehmen. »Hör sofort auf damit!«
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich weine, bis deine Daumen mir die Tränen fortwischen. Du bedeckst mein Gesicht mit zärtlichen Küssen und murmelst Liebesschwüre und Worte voller Verständnis – Verständnis, das ich weder verdient habe noch überhaupt möchte. Ich halte deine Handgelenke umklammert und sauge diese Sturzflut an Zuneigung auf wie ein ausgedörrter Boden, denn du hast recht – wir funktionieren. Wir machen einander glücklich. Aber das ist nicht, was ich mir für dich vorgestellt habe. In dieser perfekten Welt, die wir uns vor ein paar Tagen ausgemalt hatten, würden wir niemanden verletzen, vor allem nicht uns gegenseitig.
»Wie viel von dem, was du mir erzählt hast, entspricht der Wahrheit?«, raunst du im irreführenden Säuselton eines Verliebten. »Eine ungefähre Prozentangabe genügt.«
Ich stoße die Hände gegen deine Brust, aber es fühlt sich an, als wollte ich eine Steinmauer bewegen. »Wie kannst du so etwas sagen?«
»Lügen ist für dich wie atmen«, antwortest du mit sarkastischem Grinsen. »Du musst nicht einmal darüber nachdenken.«
Das stimmt nicht. Ich denke viel darüber nach. »Vielleicht ist ja alles, was ich dir erzählt habe, eine Lüge«, stichele ich gekränkt.
»Oh, irgendetwas Wahres steckt bestimmt darin«, sagst du und streichst mit dem Daumen über meinen Wangenknochen. Dein Blick ruht auf meinem Mund, jenem Teil von mir, der den Schwindel ausspricht. Allerdings ist der heiße, lüsterne Ausdruck in deinen Augen unverändert.
Wir haben in vergangenen Leben bestimmt keine Erlösung gefunden. Irgendeinen Grund muss das Karma doch gehabt haben, gerade uns in einer grenzenlosen Liebe miteinander zu verbinden, die so vielen anderen einen schrecklich hohen Preis abverlangt.
»Wie kannst du mich lieben, wenn du mir nicht vertraust?«, frage ich bissig.
»Ich vertraue dir blind«, erwiderst du und lächelst nun eher nachsichtig. »Trotzdem kann mir doch klar sein, dass du mir nur selten die Wahrheit erzählt hast. Welchen Namen hat deine Mutter zuletzt benutzt?«
»Stephanie. Steph Laska. Und bevor du fragst – nein, ich weiß nicht, ob Val ein Spitzname oder eine Abkürzung ist.«
»Und wie heißt du? Wirklich Lily? Oder Ivy? Violet? Rose? Weder noch?«
Ich kneife kurz die Augen zusammen. Mein Hirn hat abrupt seine Tätigkeit eingestellt. Das Schweigen wird ohrenbetäubend. Welche Leichen hast du denn noch ausgegraben?
Ach, mein Liebster, wie habe ich dich verdorben! Bist du tatsächlich wie ich geworden? Soll ich darüber traurig oder glücklich sein?
»Ist ja auch egal«, versicherst du mir und drückst deine Lippen lang auf meine Stirn, während deine Hände über meine nackten Arme reiben, um sie zu wärmen.
Wilde, freudige Hoffnung wühlt mein Innerstes auf. Du betrachtest mich noch immer mit solch unbändiger Liebe. Irgendwie, aus irgendeinem Grund, liebst du mich – die ganz und gar nicht perfekte Frau, die ich eigentlich bin.
»Wie starb deine Mutter?«, fragst du leise. »Hat Val sie umgebracht?«
Was wäre dabei, wenn ich lügen würde? Wer hätte schon einen Schaden davon, wenn ich es täte?
»Setareh … Sag, wie deine Mutter gestorben ist.«
»Nicht durch Val«, erkläre ich. »Ich war’s. Ich habe sie umgebracht.«