KAPITEL 4

TOKIO

TOKIO – DIE DEUTSCHE BOTSCHAFT

»Das hier ist dein Zimmer!«, sagte Vicky voller Begeisterung und Max antwortete ungläubig: »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

»Doch! Hier wohnst du ab heute.«

Max sah sich um. »Bist du dir sicher?«

»Wieso? Gefällt es dir etwa nicht?«

»Du hast ›Zimmer‹ gesagt. Das hier ist kein Zimmer, das ist eine Suite. Ach, was rede ich? Das ist ein ganzer Palast!«

»Das habe ich dir doch schon in Berlin versprochen. Ist es nicht wunderbar?«

Max war sich noch nicht sicher. Abgesehen davon, dass er befürchtete, dass das jetzt nur ein Traum war und er gleich wach werden und der Traum verpufft sein würde, schwankte er in seiner Meinung zu seiner neuen Unterkunft zwischen extrem beeindruckt und über alle Maßen eingeschüchtert.

Allein der vordere Raum, den sie gerade durch eine Doppelflügeltür betreten hatten, war beinahe halb so groß wie die gesamte Wohnung, in der er in Berlin mit seiner Mutter gelebt hatte.

Es war eine Mischung aus einem Wohnzimmer und einem Arbeitszimmer, so nobel eingerichtet wie ein Luxushotel. Allein die Computeranlage, die er auf und bei dem riesigen L-förmigen Schreibtisch sah, hatte seiner ersten schnellen Einschätzung nach mindestens so viel gekostet wie das gesamte Equipment von ihm, Paul und Tobi zusammen. Ach was, nicht mindestens so viel, sondern eher ganz bestimmt doppelt bis dreifach so viel.

»Und schau dir erst mal das Schlafzimmer an!«, rief Vicky und öffnete auf der gegenüberliegenden Seite des Raums eine weitere große Doppeltür.

Max ging ihr hinterher und blieb mit offenem Mund auf der Türschwelle stehen.

Das Schlafzimmer war ebenso groß wie schon das erste Zimmer und kein Stück weniger luxuriös eingerichtet. Max hatte noch nie ein so großes Bett mit so vielen Kissen gesehen. Die Wäsche war makellos weiß und schimmerte ganz leicht.

»Ist das Seide?«, fragte Max.

»Klar! Für unsere Gäste nur das Beste.«

Vicky nahm Anlauf und sprang mit einem Hechtsprung und einem vergnügten Schrei mitten darauf. Dabei drehte sie sich in der Luft, sodass sie auf dem Rücken landete und auf der Matratze auf und ab federte.

Sie breitete die Arme aus und jauchzte: »Ich schwör dir, so bequem hast du noch nie in deinem Leben gelegen! Komm schon, probier es mal!«

Max blieb zögernd am Fußende des Bettes stehen. Er war sich nicht sicher, wie ihre Einladung gemeint war. Normalerweise war er ganz und gar nicht gehemmt, wenn es um Mädchen ging, aber bei Vicky war das irgendwie anders. Wieso das so war, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären.

»Oh, da ist aber jemand ganz besonders schüchtern«, sagte Vicky verschmitzt und setzte dann eine beleidigte Miene auf, von der Max nicht sicher sagen konnte, ob sie echt war oder nur gespielt. Auf jeden Fall sprang sie vom Bett auf und lief zu einer Tür in der Seitenwand. »Komm, ich zeig dir das Bad.«

Das Bad war nicht weniger unglaublich als schon die beiden anderen Räume! Es war so groß wie Max’ Zimmer zu Hause und verfügte nicht nur über eine riesige Eckbadewanne, sondern darüber hinaus auch noch über eine Dusche, in der es außer einer Brause von oben zusätzlich zwei mal drei Wasserstrahldüsen an den Seiten gab.

Vicky stellte sich dicht vor Max hin und legte ihm die Spitze ihres Zeigefingers auf die Brust. Dabei schaute sie ihn von unten herauf mit seltsam schimmernden Augen an. Ihr Mund stand leicht offen und Max sah, wie ihre roten Lippen glänzten. Ihre unmittelbare Nähe, der Augenaufschlag und ihr Finger an seiner Brust machten ihn unruhig – aber auf eine äußerst angenehme Art und Weise.

Ehe Max reagieren konnte, schlängelte sie sich schon wieder an ihm vorüber und zurück ins Schlafzimmer. Dabei streifte sie mit ihrem Körper den seinen, und ihm wurde ganz warm. Er spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg.

»Schau dir den Balkon an!«, rief sie. »Na ja, eigentlich ist es kein richtiger Balkon, aber mindestens genauso gut. Wenn nicht sogar noch viel, viel besser!«

Die dem Bad gegenüberliegende Wand des Schlafzimmers war von der mit Stuck verzierten Decke bis hinunter zum weichen Teppich mit schweren undurchsichtigen Gardinen verhangen. Vicky nahm eine Fernbedienung vom Nachttisch und drückte einen Knopf.

Augenblicklich wurden die Gardinen nahezu lautlos aufgezogen. Der Blick wurde frei auf eine Wand aus Glas, die ebenfalls ganz von der Decke bis zum Boden reichte. Das Glas war blitzblank poliert, sodass Max sich darin spiegelte. Unterteilt war die Fensterwand von drei schlanken Säulen aus poliertem Granit.

Vicky drückte eine zweite Taste auf der Fernbedienung, und die Scheiben zwischen den Säulen begannen, sich um ihre mittlere Hochachse zu drehen.

»Genial, oder?«, rief Vicky und winkte Max, ihr zu den jetzt weit offenen Fenstern an das hüfthohe Außengeländer aus geschwungenen Stahlornamenten zu folgen.

Vicky hatte recht: Es war wie auf einem Balkon zu stehen, nur dass das Schlafzimmer selbst der Balkon war – oder vielmehr eine zur Fensterseite hin offene Veranda.

Die Suite befand sich im fünften und damit obersten Stockwerk des Botschaftsgebäudes, und der Ausblick auf das nächtliche Tokio war atemberaubend. Selbst auf Ansichtskarten oder in Computerspielen hatte Max noch nie eine derart große Stadt mit so vielen und vor allem so quietschbunten und in unterschiedlichen Takten blinkenden Lichtern gesehen.

»Wahnsinn!«, stieß Max ehrfürchtig hervor.

»Nicht wahr?«

»Absolut!«

»Hier genau vor uns liegt der Arisugawa-no-miya Park«, erklärte Vicky.

»Der was?«, fragte Max, der das lange japanische Wort nicht verstanden hatte.

Vicky lächelte. »Der Arisugawa-no-miya Park. Aber ›Park‹ reicht. Hier bei der Botschaft gibts ja nur den einen.«

»Arisugawa-no-miya«, sagte Max angestrengt.

»Wow«, machte Vicky erstaunt. »Sehr gut! Ich habe eine ganze Woche gebraucht.«

Max lächelte – schon ein wenig stolz auf sich selbst.

»Ich habe ein Talent für Sprachen«, sagte er. »Habe ich angeblich von meinem Vater geerbt.«

»Wunderbar«, sagte Vicky. »Das wirst du hier auch brauchen. Japanisch ist – wenn man es wirklich richtig sprechen will – eine der schwersten Sprachen der Welt, sagt man.«

»So schlimm?«

Vicky nickte. »Den meisten Japanern ist es im Allgemeinen lieber, man spricht Englisch mit ihnen, als dass man ihre Sprache verhunzt.«

»Ich werde es mir merken.«

»Sieh mal«, sagte Vicky und deutete nach rechts. »Wenn du an der Wand entlangschaust, liegt da hinten der Tokioter Hafen. Den muss ich dir bei Gelegenheit auch unbedingt zeigen!«

»Tretet augenblicklich von den Fenstern zurück!« Der Befehl war schneidend scharf und kam aus der Richtung des Wohnzimmers.

Max drehte sich erschrocken um und sah einen Mann im schwarzen Anzug.

Sein Anblick erinnerte Max spontan an einen Wolf. Einen Wolf, der kurz vor dem Angriff steht. Der Mann war groß und schlank, etwa Mitte vierzig und hatte pechschwarzes Haar mit silbergrauen Schläfen. Sein Gesicht war so kantig, dass es wirkte, als wäre es aus Stein gemeißelt. Seine Augen waren hell und kalt.

»Ach, Frommholz!«, sagte Vicky genervt. »Wir sind hier oben im fünften Stock. Gegenüber liegt der Park. Was soll schon passieren?«

Der Mann trat eilig zu ihnen, nahm Vicky die Fernbedienung aus der Hand und drückte den Knopf, der die großen Fenster wieder schloss.

»Haben Sie in Ihrem Training nichts gelernt, Fräulein von Lausitz?«, fragte er kühl. »Für einen gut ausgebildeten Scharfschützen ist das ein Kinderspiel. Der trifft Sie sogar von der anderen Seite des Parks, ganz ohne Probleme. Und bei einer so großen Entfernung schlägt die Kugel ein, ehe Sie den Schuss überhaupt hören.«

Max hatte das Gefühl, Vicky vor dem ruppigen Kerl in Schutz nehmen zu müssen. »Dann halten ihn wohl auch ein paar Glasscheiben nicht ab.«

Der Mann deutete auf die Scheiben. »Das ist dreifach gesichertes Panzerglas. Aber das schützt nur, wenn die Fenster auch geschlossen bleiben.«

Vicky verdrehte die Augen. »Max, wenn ich vorstellen darf: Das ist Hauptmann Frommholz, Sicherheitschef der Botschaft.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Max, weil seine Mutter ihn dazu erzogen hatte, stets höflich zu sein, und streckte dem Hauptmann die Hand entgegen.

Frommholz ignorierte sie und fixierte Max mit eisigem Blick.

»Wo sind Ihre Manieren, Frommholz?«, fragte Vicky gereizt. »Max ist nicht nur unser geschätzter Gast, er ist jetzt Teil der Familie.«

»Nicht meiner Familie«, knurrte Frommholz, ohne den Blick von Max zu wenden. »Für mich bedeutet er ein großes Sicherheitsrisiko. Außerdem trägt er die Schuld am Tod eines meiner Männer in Berlin.«

»Was?!« Vicky war schlagartig außer sich vor Wut. »Wie können Sie so etwas sagen?!«

»Hätte er meinen Mann am Friedhof nicht abgelenkt, hätte der den Attentäter rechtzeitig bemerkt«, sagte Frommholz.

»Ihr Mann hat nicht einmal ansatzweise in die Richtung des Scharfschützen gesehen«, widersprach Max heftig. »Hätte ich nicht eingegriffen, wäre er genauso tot wie jetzt, und Botschafter von Lausitz und sein Sohn Richard ebenfalls.«

Frommholz schüttelte verächtlich den kantigen Kopf. »Wie der Vater, so der Sohn. Du bist ebenso selbstgefällig, wie er es damals war. Und genauso rücksichtslos.«

Max war schockiert. »Sie kannten meinen Vater?«

»Und ob ich deinen Vater kannte«, schnarrte Frommholz mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir haben in der gleichen Einheit gedient. Und auch ihm war es scheißegal, wer vor die Hunde ging, solange er nur als Held dastehen konnte.«

»Das ist nicht wahr!«, brüllte Max in Rage und schlug, ehe es ihm bewusst war, was er da tat, mit der Faust nach dem Gesicht des Hauptmanns.

Frommholz reagierte mit unglaublicher Schnelligkeit. Er machte einen Schritt zur Seite, wich damit der Faust aus und packte mit stählernem Griff Max’ nach vorn zuckenden Unterarm. Mit der Kraft eines trainierten Soldaten riss er daran Max aus dem Gleichgewicht und drehte ihm den Arm auf den Rücken.

Max schrie auf vor Schmerz. Er hatte das Gefühl, dass ihm gleich die Schulter aus dem Gelenk springen würde. Schon den Bruchteil einer Sekunde später hatte Frommholz Max von hinten den freien Arm um die Kehle geschlungen und drückte unbarmherzig zu.

»Lassen Sie ihn los!«, hörte Max Vicky schreien, während er vergeblich versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien. »Lassen Sie ihn auf der Stelle los. Das ist ein Befehl, Frommholz!«

»Fräulein von Lausitz, ich darf Sie daran erinnern, dass der Einzige, der mir gegenüber hier in der Botschaft Befehlsbefugnis besitzt, Ihr Vater ist?« Die Stimme des Hauptmanns war trotz des Kraftakts völlig unangestrengt. »Ihr kleiner Freund hier hat mich, einen Offizier der Bundeswehr, tätlich angegriffen. Das hat Konsequenzen.«

»Lassen Sie ihn los, Hauptmann Frommholz!« Diesmal stammte die Aufforderung nicht von Vicky. Es war die Stimme des Botschafters. »Das ist ein Befehl!«

Frommholz löste sofort den Würgegriff und ließ auch Max’ umgedrehten Arm los.

Max stolperte nach vorn, aber Vicky fing ihn auf. Das war ihm peinlich und angenehm zugleich.

Der Botschafter stand in der Tür zum Wohnzimmer. Sein strenger Blick war auf den Hauptmann gerichtet, der jetzt strammstand.

»Bei allem gebührenden Respekt, Herr Botschafter«, sagte Frommholz, »aber der Junge hat mich zuerst angegriffen.«

»Ist das wahr?«, fragte Freiherr von Lausitz Max.

Ehe Max antworten konnte, sagte Vicky: »Frommholz hat ihn provoziert. Er hat …«

»Für dich immer noch Herr Frommholz oder Hauptmann Frommholz«, unterbrach der Botschafter sie und wandte sich an den Sicherheitschef. »Ich weiß, Sie und Max’ Vater kamen nie gut miteinander aus, und Sie machen ihn auch noch nach all den Jahren verantwortlich für das, was damals in Moskau geschehen ist. Aber ich verbitte mir, dass Sie diesen alten Groll auf seinen Sohn Max übertragen. Meine Familie, aber auch die Bundesregierung, schulden ihm großen Dank, und Sie werden ihm den Respekt erweisen, der ihm als meinem besonders geschätzten Gast gebührt. Und als Sicherheitschef werden Sie für seinen Schutz sorgen. Sollten Sie sich dessen außerstande sehen, erwarte ich gleich morgen früh Ihr Versetzungsgesuch. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt, Herr Hauptmann?«

Für ein paar Momente stand Frommholz regungslos da. Lediglich am Mahlen seines Kiefers konnte Max erkennen, wie wütend er war und dass er innerlich mit sich haderte. Dann endlich nickte er knapp und sagte: »Ja, das haben Sie, Herr Botschafter. Ich werde meine Pflichten erfüllen, ganz so wie ich es geschworen habe.«

»Gut«, sagte von Lausitz. »Dann dürfen Sie jetzt wegtreten.«

»Sehr wohl«, sagte Frommholz militärisch knapp und ging mit schnellen Schritten davon.

Max sah ihm nach. Er ahnte, dass Frommholz und er keine Freunde werden würden.

»Tut mir leid, Max«, sagte Freiherr von Lausitz, nachdem der Hauptmann die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Und ich entschuldige mich in aller Form …«

Max unterbrach ihn. »Was ist damals in Moskau geschehen? Wie ist mein Vater ums Leben gekommen? Meine Mutter und ich wurden nie über die genauen Umstände informiert.«

»Und das hat seine Gründe, Max, das musst du mir glauben.« Das Gesicht des Botschafters verfinsterte sich zu einer Miene der Trauer.

»Ich will es wissen«, forderte Max.

»Ich kann … Ich darf es dir nicht sagen, Max! Die Ereignisse von damals sind absolute Verschlusssache. Streng geheim. So sehr ich natürlich verstehe, dass du es wissen willst, muss ich dich doch bitten, mir diese Frage nie wieder zu stellen.«

»Das ist nicht Ihr Ernst! Das kann nicht Ihr Ernst sein!«

Der Botschafter senkte den Kopf. »Es ist mein voller Ernst, Max. Ich kann daran bedauerlicherweise nichts ändern.«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ die Suite.

Max verspürte den Drang, ihm hinterherzulaufen – ihn aufzuhalten –, doch Vicky packte ihn am Arm.

»Du wirst seine Meinung nicht ändern«, sagte sie. »Mein Vater ist unglaublich pflichtbewusst. Wenn die Sache als streng geheim eingestuft wurde …«

Max fuhr zu ihr herum. »Wir reden hier vom Tod meines Vaters! Wie kannst du das einfach als Sache abtun?!«

Vicky wich erschrocken einen Schritt zurück. »Entschuldige! So habe ich das nicht gemeint.«

Als er den ängstlichen Ausdruck in ihren Augen sah, verflog seine Wut auf der Stelle.

»Nein, ich muss mich entschuldigen, Vicky«, sagte er schnell. »Es tut mir leid. Ehrlich. Dieser Frommholz hat mich völlig aus der Fassung gebracht.«

Sie trat auf ihn zu und legte ihm eine Hand an die Wange. »Schon in Ordnung, Max. Ich kann mir ja nicht einmal entfernt ausmalen, was du alles durchgemacht hast. Damals und jetzt. Aber ich verspreche dir, es wird alles wieder gut.«

Max konnte sich das nicht vorstellen, dennoch sagte er: »Danke.«

Sie lächelte. Dann grinste sie sogar. »Und wenn du das nächste Mal jemandem eine verpassen willst, behalte die Schultern unten und die Ellbogen am Körper, ehe du zuschlägst. Sonst verrät dein Körper dem Gegner zu früh, wohin du schlagen willst, und er kann ausweichen.« Sie stellte sich mit geballten Fäusten in Kampfposition, um ihm zu demonstrieren, was sie meinte. »Aber das lernst du schon noch im Training.«

Max fiel ein, dass auch Frommholz vorhin von einem Training gesprochen hatte. »Welches Training meinst du?«

»Das weißt du noch gar nicht?«, fragte Vicky erstaunt.

»Was denn?«

»ATST. Das steht für Anti-Terror-Sicherheitstraining. Ist eine spezielle Ausbildung für die Kinder der hier in Tokio ansässigen Diplomaten«, erklärte sie. »Wir lernen, uns vor Attentaten oder Entführungen zu schützen. Es ist eine Mischung aus Nahkampftraining, Lektionen in Strategie und Taktik und Verhaltenspsychologie.«

Max war augenblicklich Feuer und Flamme. »Cool!«

»Ja, das ist es. Aber auch verdammt hart.«

»Hart ist gut«, sagte er. »Je härter desto besser! Wann geht das Training los?«

»Na, schon morgen!«, sagte sie. »Zwei Stunden. Vor dem Unterricht.«

»Morgen?« Das kam überraschend. Max befühlte instinktiv den Tapeverband um seinen Brustkorb. Die Schmerzen waren zwar nicht mehr ganz so groß, aber ob er schon dazu in der Lage war, mit angeknacksten Rippen zu trainieren?

»Leg den Verband morgen früh am besten ganz eng an«, riet Vicky. »An deiner Stelle würde ich sicherheitshalber sogar besser zwei Verbände übereinander anlegen. Das Training wird nicht leicht für dich.«

Max nickte. »Und wir haben morgen auch schon Unterricht?«

»Ja, du gehst am besten gleich ins Bett. Emil weckt uns um Punkt sechs. Frühstück gibt’s im Esszimmer. Abfahrt zum Training ist um Viertel vor sieben.«

»Emil?«

»Unser Butler«, erklärte sie.

»Ihr habt einen Butler?«

»Ja. Eigentlich ist er Adjutant. Das heißt, er war Adjutant. Bei meinem Großvater. Und sein Vater schon bei meinem Urgroßvater. Irgendwie ist er in der Familie hängengeblieben und kümmert sich jetzt um uns. Ein bisschen schwerhörig und hin und wieder ganz schön durch den Wind, aber eine treue Seele.«

Vicky machte einen Schritt auf Max zu, gab ihm einen Kuss auf die Wange und sagte: »Also dann, gute Nacht! Wir sehen uns morgen früh. Träum was Schönes.«

Sie zwinkerte ihm zu und verschwand.

Max sah ihr noch lange nach. Er hatte keine Ahnung, was er von Vicky halten sollte. Flirtete sie mit ihm oder machte sie nur Spaß? Eines wusste er ganz sicher: Ihre Nähe tat ihm gut. Sie verstand es hervorragend, ihn von seinen finsteren Gedanken abzulenken. Wenn Vicky bei ihm war, war der Schmerz, den er über den Tod seiner Mutter empfand, nicht ganz so stechend wie sonst. Auch die Gedanken an seinen Vater und den Yakuza-Killer rückten dann immer wenigstens ein bisschen in den Hintergrund.

Er trat an das riesige Fenster und schaute durch das dicke Panzerglas hinaus über Tokio, die fremde, bunte Stadt.

Wer zur Hölle hat mich im U-Bahn-Tunnel vor Ishido gerettet?, fragte er sich zum inzwischen hundertsten Mal, ohne auch nur ansatzweise eine Antwort auf die quälende Frage zu finden. Und was ist damals mit meinem Vater wirklich passiert? Mindestens zwei Menschen hier in der Botschaft wussten etwas über die Ereignisse von damals: Freiherr von Lausitz und Hauptmann Frommholz. Max fragte sich, wie er wohl einen von ihnen zum Reden bringen konnte. Im Moment hatte er noch keine Idee, aber ihm würde schon etwas einfallen.

Seine Gedanken schweiften zu dem Training, von dem Vicky gesprochen hatte. Er war gespannt, was ihn da wohl erwarten würde. Er wusste schon jetzt, er würde trotz seiner Verletzung sein Bestes geben, um so schnell wie möglich so gut wie möglich zu werden. Denn eines war Max so bewusst wie nichts anderes auf dieser Welt: Harutaka Ishido, der Yakuza-Killer, war irgendwo da draußen, und er war hinter ihm her. Max würde alles daran setzen, ihm nicht noch einmal dermaßen hilflos ausgeliefert zu sein wie in Berlin im U-Bahn-Tunnel, wenn sie einander das nächste Mal begegneten. Und dass sie einander wieder begegnen würden, daran hatte Max nicht den geringsten Zweifel.