KAPITEL 9

ERBARMUNGSLOS

Am nächsten Morgen nach seinem spätabendlichen Ausflug zum Hafen und zum Zoo staunte Max tatsächlich nicht schlecht, ganz so wie Vicky es vorausgesagt hatte. Die Limousine brachte ihn, Vicky und Ricky nämlich nicht – wie gestern – zum Dojo von Meister Chao Wong, sondern ganz aus Tokio heraus in die nahen Berge im Westen. Die Straße dorthin war eng und extrem kurvig, sodass sie nur langsam vorankamen, und je höher sie die Serpentinen hinauffuhren, desto seltener begegneten sie anderen Autos. Den starken Kontrast zwischen der lebendig brodelnden Großstadt mit ihren Millionen von Einwohnern und der einsamen stillen Natur, die sie jetzt umgab, empfand Max schon beinahe als unheimlich. Es war, als würden sie eine andere Welt betreten. Die Wälder hier oben waren dicht und grün und üppig, so wie er es auch aus Deutschland kannte, aber die Bäume selbst kamen Max im direkten Vergleich fremdartig vor.

Nach einer kleinen Ewigkeit schließlich bogen sie um die letzte enge und steile Kurve, die man an der Seite, die dem Abhang zugewandt war, mit einer Basaltmauer bebaut hatte, und Max’ Augen weiteten sich vor Erstaunen.

Vor ihnen auf dem Gipfel des Berges thronte eine gewaltige Burg aus Stein. Die Mauern ragten vor ihnen lotrecht weit hoch in den wolkenlosen Himmel. Dahinter waren zwei massive, eckige Türme zu erkennen.

Im Schritttempo fuhr die Limousine durch den schmalen, dunklen Torgang und erreichte an dessen Ende den Burghof, wo bereits andere Limousinen parkten. Zwischen ihnen standen die anderen Diplomatenkinder.

Max entdeckte auf Anhieb Dimitri Grekov und seine kleine Schwester Irina zusammen mit Tapa. Sie winkten ihnen zu, als Max, Vicky und Ricky aus dem Wagen stiegen, und gingen ihnen entgegen.

Dimitri deutete mit dem Daumen auf die Festung im Innern der Mauern.

»Was auch immer Meister Chao Wong heute vorhat, das wird ganz bestimmt lustig«, sagte er mit einem breiten, herzlichen Lächeln.

Ricky sah das wohl gänzlich anders, denn er stieß ein langes, angestrengtes und von unheilvoller Vorahnung gefärbtes Stöhnen aus. »Mal ehrlich: Du hast wirklich eine seltsame Vorstellung von Spaß, mein lieber Dimitri. Nichts von dem, was Meister Chao Wong jemals mit uns anstellt, ist auch nur annähernd lustig.«

»Du bist ja auch ein Weichei, Richard«, sagte Peyton Hepburn III., der von der Seite her zu ihnen getreten war und jetzt demonstrativ den Arm um Vicky legte und sie auf die Wange küsste. Mit ihm waren Fernanda, Marcello und Giselle auf der Bildfläche aufgetaucht. »Du hast Angst vor deinem eigenen Schatten.«

Ricky sah Peyton trotzig an. »Es kann halt nicht jeder von uns ein Sportass und ein Schwarzgurtträger in Karate und Taekwondo sein.«

Peyton grinste überheblich. »Alles hartes Training, mein Lieber. Von nichts kommt nichts. Die Welt ist hart, und nur die Besten kommen an die Spitze.«

Der Sohn des amerikanischen Botschafters wandte den Blick von Ricky zu Max und zog verächtlich die Augenbraue nach oben, ehe er fortfuhr: »Vorausgesetzt natürlich, man stammt aus gutem Hause. Sonst müht man sich natürlich vollkommen vergeblich ab und erreicht ohnehin nie etwas von Belang.«

Peyton lachte, und Fernanda, Marcello und Giselle stimmten in sein Lachen ein.

Max entschied sich dagegen, etwas zu erwidern, aber es erfüllte ihn mit einer gewissen Genugtuung, zu sehen, wie Vicky sich aus Peytons Arm schälte und ihn vorwurfsvoll anfunkelte.

»Was ist los?«, fragte Peyton sie mit erstauntem Blick. »Wo ich recht habe, habe ich recht.« Er drehte sich zu seiner Clique. »Das seht ihr doch ganz genauso, Leute, oder?«

Fernanda, Marcello und Giselle nickten zustimmend – wie Marionetten an den Fäden Peytons.

Vicky öffnete empört den Mund, doch ehe sie ihrem amerikanischen Freund sagen konnte, was sie von seiner Meinung hielt, ertönte vom Eingang der Festung her ein lauter Gong.

Als der Klang des Gongs verebbte, trat Meister Chao Wong aus dem Inneren auf das Podest der Treppe.

Er hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und sein strenger Blick brachte sie allesamt zum Schweigen. Er nickte knapp, drehte sich um und ging zurück in das Gebäude – auch ohne Worte war klar, dass er erwartete, dass die Kinder der Diplomaten ihm folgten.

Stumm erklommen sie die Stufen und betraten das Gebäude. Max war erstaunt, wie gut die gesamte Festungsanlage erhalten war.

Der Raum hinter der Eingangstür war eine große, quadratische und völlig schmucklose Halle. Sie war wie in alten Zeiten von Feuern beleuchtet, die in insgesamt sechs Dreifüßen aus Kupfer brannten. Meister Chao Wong wartete bewegungslos wie eine Statue vor einem langen, grob gezimmerten Holztisch auf die Schüler.

Max sah Waffen auf dem Tisch liegen und war im ersten Moment schockiert. Doch dann erkannte er, dass es nur Paintball-Gewehre und -Pistolen waren. Auf dem Boden neben dem Tisch lag ein Stapel Schutzkleidung.

Die zwanzig Jugendlichen bauten sich in einer Linie vor Meister Chao Wong auf.

»Heute wird es eure Aufgabe sein, zu versuchen, einem bewaffneten Angriff zu entkommen«, sagte der alte Asiate und teilte die zwanzig Mädchen und Jungen mit knappen Gesten seiner Hand in vier Gruppen zu je fünf auf.

Im Anschluss daran mussten alle Schutzkleidung und -brillen anlegen.

Max war in einer Gruppe mit Ricky, Dimitri, Tapa und Irina. Vicky war mit zwei Mädchen und zwei Jungs zusammen, die Max noch nicht kannte.

Meister Chao Wong wandte sich an diese beiden Gruppen.

»Die Festung hat, wie ihr seht, zwei Türme«, sagte er und deutete auf zwei Treppen, die links und rechts von der Eingangshalle nach oben führten. »Gruppe eins geht in die oberste Kammer des Südturms, Gruppe zwei in die des Nordturms. Erst zehn Minuten nachdem ihr losgegangen seid, dürft ihr die obere Kammer wieder verlassen. Nicht früher. Gleichzeitig werden die hier unten verbleibenden beiden Gruppen sich auf den Weg zu euch machen – bewaffnet. Sie spielen in dieser Übung Terroristen, deren Aufgabe es ist, euch zu erschießen.«

Beim Wort ›erschießen‹ machte er mit beiden Händen Gänsefüßchen in die Luft. »Also, damit ihr das richtig versteht: Sie sollen euch nicht gefangen nehmen, sondern töten.« Wieder machte er die Gänsefüßchen.

»Eure Aufgabe ist es«, fuhr er fort, »von der obersten Kammer des Turms an ihnen vorbei hierher nach unten in die Eingangshalle zu gelangen. Möglichst unverletzt.«

Er ging vor ihnen auf und ab und sah jeden von ihnen eindringlich an. »Ich weiß, dass ich lehre, dass es im Kampf ums Überleben keine Regeln gibt. Das dürft ihr in einer realen Situation auch nie vergessen. Aber der Sinn dieser speziellen Lektion soll sein, auszuweichen – euch in Sicherheit zu bringen. Ihr sollt lernen, euch zu verstecken und zu schleichen – euch unsichtbar zu machen und eure Gegner zu umgehen. Daher ist es euch heute streng verboten, zum Gegenangriff überzugehen. Weder dürft ihr versuchen, die Angreifer kampfunfähig zu machen, noch ihre Waffen an euch zu bringen und sie gegen sie einzusetzen.«

Auf sein Kommando verglichen sie alle ihre Uhren und die beiden Gruppen von Max und Vicky begaben sich über die Treppen in die Türme.

Dimitri rannte voraus.

»Warte!«, rief Max.

»Was ist?«, fragte Dimitri.

»Wir haben Zeit«, sagte Max. »Lass uns auf dem Weg nach oben den Turm gründlich erkunden.«

»Warum?«, fragte Dimitri.

»Damit wir auf dem Weg nach unten wissen, wo wir uns am besten verstecken oder ausweichen können«, sprach Tapa aus, was Max gedacht hatte.

Dimitris Gesicht hellte auf. »Das ist eine verdammt gute Idee, Mann!«

Sie erklommen die erste Etage. Hier gingen vom Treppenabsatz zwei Gänge ab, einer nach Süden, der andere nach Westen.

»Tapa, geh mit Dimitri und Irina in den südlichen Bereich«, sagte Max.

»Welcher der beiden Gänge ist denn der nach Süden?«, fragte Dimitri und schaute sich unentschlossen um. »Die Treppen haben meinen Orientierungssinn total durcheinandergebracht.«

Tapa zeigte geradeaus. »Der hier.«

Max nickte zur Bestätigung. »Ricky und ich schauen uns währenddessen den westlichen Teil an.« Er schaute auf die Uhr. »In genau einer Minute treffen wir uns hier wieder und tauschen auf dem weiteren Weg nach oben unsere Informationen aus.«

Sie teilten sich auf und liefen los. Max versuchte dabei, auf jede Kleinigkeit zu achten und sich die Räumlichkeiten genau einzuprägen.

Am Ende des kurzen Ganges gab es drei größere Kammern, von denen zwei jeweils noch über einen kleinen Lagerraum verfügten. Überall lag altes Gerümpel herum. Leere Kisten, Seile, Balken.

Die größte Besonderheit, die Max auffiel, war, dass abgesehen von dem Treppenhaus, das vollständig aus Stein bestand, der Boden im restlichen Bereich des ersten Geschosses komplett aus Holzplanken bestand. Sie quietschten und knarrten, wenn man darüber ging.

Wie verabredet trafen die fünf der Gruppe sich genau eine Minute später an der Treppe wieder und gingen weiter nach oben, wobei sie einander erzählten, was sie gesehen hatten.

Laut Dimitris und Tapas Bericht waren die Räumlichkeiten im Süden genauso aufgeteilt wie im Westen und auch dort war der Boden vollständig aus Holz.

»Nicht gut«, sagte Max. »Überhaupt nicht gut.«

»Wieso?«, fragte Tapa.

»Die knarrenden Planken sind verräterisch«, erklärte Max. »Es ist nahezu unmöglich, sich darauf zu bewegen, ohne dass einen das Knarren verrät.«

Im zweiten Geschoss war der Aufbau der Räume identisch. Auch hier keine Möbel, nur Gerümpel. Ebenso in der dritten Etage des Turms.

Darüber war die obere Kammer – eine große Halle mit einer Leitertreppe, die zu einer Falltür in der Decke hinaufführte.

Max sah auf die Uhr. »Wir haben noch etwas über fünf Minuten Zeit, ehe unsere Jäger unten losmarschieren.«

»Wie wollen wir vorgehen?«, fragte Ricky.

»Zunächst einmal müssen wir davon ausgehen«, sagte Tapa, »dass sie rein mathematisch betrachtet den zweiten Stock etwa gleichzeitig mit uns erreichen. Also wenn wir uns verstecken, dann schlage ich vor, wir tun das im dritten.«

Max schüttelte mit dem Kopf. »Nein, damit rechnen sie ganz bestimmt«, meinte er. »Außerdem – und das ist das noch größere Problem – würde ich, wenn ich sie wäre, zwei Schützen ganz unten im Erdgeschoss auf der Treppe aufstellen, um uns spätestens dort abzufangen, falls wir es an den anderen drei Angreifern vorbeischaffen.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Ricky mit vor Überraschung geweiteten Augen. »Dass es eigentlich gar keinen Ausweg hier heraus gibt?«

Max grinste. »Zumindest keinen auf den ersten Blick offensichtlichen«, sagte er. »Wie eigentlich immer im Leben.«

»Dann bleibt nur aufgeben«, sagte Ricky resigniert.

»Aufgeben ist keine Option«, entgegnete Max in ernstem Ton. »Die Aufgabe der Angreifer ist es in dieser Übung nicht, uns gefangen zu nehmen, sondern uns zu erschießen. Aufgeben wäre also unser Tod.« Beim Wort ›Tod‹ machte er jetzt dieselben Gänsefüßchen in der Luft wie zuvor Meister Chao Wong.

»Aber wenn wir nicht an ihnen vorbeikommen und nicht aufgeben dürfen, was bleibt dann noch als Ausweg?«, fragte Ricky.

»Genau«, sagte Max. »Du darfst nie aufhören, dir diese Frage zu stellen. Viel wichtiger ist aber noch, darauf auch eine Antwort zu finden.«

»Hast du denn eine?«, fragte Dimitri.

»Schauen wir uns mal an, was über der Falltür liegt«, sagte Max und stieg die Leitertreppe hinauf.

Die hölzerne Falltür war schwer und er musste sich mit der Schulter dagegenstemmen, um sie auch nur anzuheben. Dabei rieselten Staub und morsches Holz auf ihn herunter. Er hustete und drückte fester, schließlich gab sie nach und klappte unter lautem Poltern auf.

Max stieg nach oben und stand wenige Augenblicke später oben auf der Dachterrasse des Turms unter freiem Himmel. Er half Tapa und Irina hinauf. Ricky und Dimitri kamen hinterher.

Sie checkten die Uhren.

»Noch drei Minuten«, sagte Tapa.

Max ging an die Zinnen und sah nach unten.

»Bis zum Burghof da unten sind es etwa zwölf, höchstens vierzehn Meter«, schätzte er.

»Wie wollen wir da denn hinunterkommen?«, fragte Dimitri.

»Unmöglich«, sagte Ricky.

»Nein, nicht unmöglich«, widersprach Max. »Bei dem Gerümpel in den einzelnen Kammern waren auch Seile. Sobald die zehn Minuten vorüber sind, rennen wir alle in den dritten Stock, teilen uns dort auf und suchen alles zusammen, was wir an Stricken finden können.«

»Du willst, dass wir da runterklettern?«, fragte Irina unsicher. Ihr Gesicht verriet, dass der Gedanke ihr Angst bereitete. Große Angst.

»Das sieht viel schwerer aus, als es ist«, versicherte Max ihr.

»Vorausgesetzt natürlich, wir finden in der Zeit, die uns bleibt, überhaupt genug Seile«, wandte Tapa ein.

»Falls nicht, seilen wir uns direkt aus dem dritten Stock ab«, schlug Dimitri vor.

Max schüttelte den Kopf. »Das funktioniert nicht. Den dritten Stock werden die Angreifer zu schnell erreicht haben. Und den können wir auch nicht verbarrikadieren wie die Falltür hier.«

»Mich kriegen da keine zehn Pferde runter«, beharrte Irina.

»Mich auch nicht«, sagte Ricky. »Lieber lasse ich mich erschießen.« Auch er machte jetzt die Gänsefüßchen in der Luft.

»Das ist immerhin nichts weiter als ein Training.« Irina verschränkte die Arme vor der Brust.

»Aber was, wenn es Realität wäre, Schwesterchen?«, fragte Dimitri.

»Ist es aber nicht«, sagte sie trotzig.

»Helft ihr beide uns trotzdem dabei, Seile zu sammeln?«, fragte Max sie und Ricky.

»Klar«, sagte sie, und auch Ricky nickte.

Sie liefen zurück zur Falltür, doch während Ricky, Tapa und Irina mit dem Abstieg in die Kammer begannen, hielt Dimitri Max am Arm fest.

»Ich kann meine Schwester nicht hier zurücklassen, Max«, sagte der junge Russe. »Auch wenn das hier nur eine Übung ist.«

»Keine Sorge, Dimitri«, sagte Max. »Wir lassen Irina nicht zurück.«

»Was hast du vor?«

»Vertrau mir.« Mehr sagte er nicht, denn für mehr war jetzt keine Zeit.

»Es ist gleich soweit«, rief Tapa von unten. »Noch zwanzig Sekunden, dann laufen die unten los.«

Max und Dimitri eilten die Leitertreppe herab.

»Sobald es losgeht«, sagte Max, noch ehe er den Boden erreicht hatte, »haben wir maximal eine Minute, um von hier loszulaufen, uns aufzuteilen, die Seile zu holen und wieder hier hoch zu kommen. Dann gehts direkt aufs Dach, die Stricke zusammenknoten. Verstanden?«

»Das wird verdammt knapp«, bemerkte Dimitri.

»Ja«, pflichtete Max bei. »Aber wenn wir uns konzentrieren und die Ruhe bewahren, haben wir eine echte Chance.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, meinte Dimitri mit einem schiefen Grinsen.

»Wir kriegen das schon hin«, versicherte Max ihnen. »Seid ihr bereit?«

Sie alle nickten, während Tapa mit Blick auf die Uhr zählte: »Drei, zwei, eins, jetzt!«

»Alle Stricke, die ihr finden könnt!«, rief Max und sie rannten los.

In der dritten Etage angekommen teilten sie sich eilig auf, genau wie sie es auf dem Weg nach oben getan hatten, sodass jeder da suchen konnte, wo er zuvor schon einmal gewesen war.

Max rannte so schnell er konnte, griff ein Seil nach dem anderen und warf sie sich zum leichteren Tragen über die Schulter. Ohne auf die Uhr zu schauen, zählte er im Kopf die Sekunden, und als die Zeit gekommen war, lief er zusammen mit Ricky zur Treppe zurück, wo gerade auch Dimitri, Tapa und Irina ankamen.

Von unten hörte er bereits die schweren, schnellen Schritte ihrer Angreifer.

Max und seine Leute hetzten die Stufen nach oben und über die Leitertreppe auf die Dachterrasse, wo Dimitri die Falltür schloss und sie alle gesammelten Stricke auf einen großen Haufen warfen.

»Tapa und Irina, ihr sortiert die Seile vor«, rief Max den beiden Mädchen zu. »Die längsten und dicksten zuerst. Dimitri, Ricky und ich machen die Knoten.«

Zu den beiden Jungs sagte er: »Beeilt euch, aber seid trotzdem sorgfältig. Die Knoten bringen nichts, wenn sie nicht richtig halten.«

Die fünf arbeiteten stumm, schnell und gründlich, wie Max gesagt hatte.

Max übernahm die Aufgabe, jedes einzelne der Teile, die er, Dimitri und Ricky verknotet hatten, gewissenhaft zu überprüfen und sie anschließend noch einmal miteinander zu verbinden.

»Das müsste reichen«, kalkulierte er schließlich und rief Irina zu: »Du bist die Erste!«

»Ich habe gesagt, dass ich nicht da runterklettere«, antwortete sie.

»Musst du auch nicht«, sagte Max. »Habe ich dir doch versprochen. Ich habe ans Ende des Seils eine Schlaufe gemacht. Die legen wir dir um und lassen dich vorsichtig nach unten, ganz ohne dass du klettern musst. Dir kann nichts passieren.«

Sie sah ihn unsicher an.

»Irina, wir müssen uns beeilen«, stellte Max drängend klar. »Sie werden nicht mehr lange brauchen, bis sie entdecken, dass wir nicht nach unten, sondern nach oben geflüchtet sind. Und wenn du nicht mitkommst, will auch Dimitri hierbleiben. Könntest du das im Ernstfall verantworten?«

»Ist das wahr?«, fragte Irina ihren Bruder.

Dimitri nickte. »Selbst im Ernstfall würde ich doch meine kleine Schwester nicht zurücklassen«, sagte er zu ihr. »Niemals. Das weißt du doch, Irina.«

Ohne ein weiteres Wort rannte Irina zu Max und ließ zu, dass er die Schlaufe des Seils um sie legte und unter ihren Achseln festzog.

Max winkte Dimitri und Ricky herbei, das Seil festzuhalten und half Irina über die bauchhohe Brüstung des Turms.

»Schau nicht nach unten, wenn du kannst«, riet er ihr, »und halt dich gut mit beiden Händen am Seil fest. Verstanden?«

Irina nickte. Max konnte sehen, dass ihre Lippen zitterten. Sie atmete laut und schnell.

»Dir kann wirklich nichts passieren«, sagte er, »Vertrau mir.«

»Okay.«

»Gut«, sagte er. »Sobald du unten bist, läufst du durch den Hof auf direktem Weg in die Eingangshalle. Dort bist du in Sicherheit.«

Irina nickte, und zu dritt begannen die Jungs, sie nach unten zu lassen.

»Die Angreifer sind gleich hier!«, zischte Tapa flüsternd von der Falltür her. Sie hatte sich daraufgelegt und lauschte mit dem Ohr am Holz.

»Ich halte sie auf!«, rief Max. »Komm her, Tapa, und übernimm meinen Platz. Ich stelle mich auf die Falltür, um sie schwerer zu machen.«

»Nein«, sagte Ricky. »Das übernehme ich. Ich werde eh nicht da runterklettern, das habe ich ja schon gesagt, und anders als Irina wirst du mich nicht vom Gegenteil überzeugen können, Max.«

Max zögerte – er wollte Ricky nicht zurücklassen – aber er sah keine Alternative und nickte schließlich. Tapa kam zu ihnen, fasste das Seil, und Ricky legte sich flach auf die Falltür.

Kaum war Irina unten angekommen, wickelte Max mit Dimitris Hilfe das obere Ende des Seils um eine der Zinnen und verknotete es sicher.

»Jetzt du, Tapa«, sagte er.

Tapa stieg über die Brüstung, packte das Seil und kletterte daran flink wie ein Eichhörnchen hinab.

Sie hatte den Boden gerade erreicht, als die Falltür zu klappern begann.

»Schnell, jetzt du«, sagte Max zu Dimitri.

»Nein, du zuerst«, widersprach Dimitri. »Ich schulde dir das Leben meiner Schwester.«

»Kommt nicht infrage«, sagte Max und rannte zu Ricky, um sich neben ihn auf die Falltür zu stellen, um es den Angreifern noch schwerer zu machen, sie zu öffnen.

Dimitri schaute ihn vorwurfsvoll an. »Ich muss meine Schuld begleichen, Max«, sagte er. »Das ist eine Sache der Ehre.«

»Begleich sie einfach ein andermal«, rief Max.

»Na gut«, lenkte Dimitri endlich ein. »Aber ich werde es mir merken. Verlass dich drauf, Max Ritter!« Er fasste das Seil, kletterte über die Brüstung und nach unten.

Die Falltür polterte inzwischen immer fester. Max hörte durch das dicke Holz, wie Peyton nur wenige Zentimeter unter ihm fluchte und seine Freunde anspornte, sich mehr anzustrengen.

»Dimitri müsste gleich unten sein«, keuchte Ricky. »Wenn du dich beeilst, könntest du es auch noch schaffen.«

»Und dich einfach hier zurücklassen?«, fragte Max. »Auf keinen Fall!«

»Hör zu«, sagte Ricky. »Das ist doch nur ein Trainingslauf. Mir macht es nichts aus, erschossen zu werden.« Jetzt machte er die Gänsefüßchen in der Luft.

»Aber was, wenn es kein Trainingslauf wäre?«, fragte Max.

»Vermutlich würde ich dann meine Angst überwinden und klettern«, gab Ricky zu.

»Wenn du jetzt kletterst und merkst, wie einfach es ist«, sagte Max, »dann wirst du in einem Ernstfall deine Angst nicht erst überwinden müssen, weil du dann keine mehr hast. Das ist doch der Sinn dieses Trainings, Ricky: Es soll uns auf den Ernstfall vorbereiten. Und du hast in Berlin doch am eigenen Leib erlebt, wie schnell so ein Ernstfall eintreten kann – und wie sehr die Angst dich dann lähmen kann.«

Ricky bedachte Max mit einem forschenden Blick, dann aber lachte er. »Du bist echt ein Sturkopf, Max. Ein verdammter Sturkopf. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«

Max stimmte in Rickys Lachen ein. »Ja, meine Mutter. Andauernd. Sie hat immer gesagt, das habe ich von meinem Vater geerbt.«

»Also gut, ich werde es probieren«, sagte Ricky.

»Probieren ist nicht genug – du wirst es tun, Ricky. Und du wirst es schaffen. Aber du musst dich jetzt beeilen – und dich voll konzentrieren. Bist du bereit?«

Ricky holte noch einmal tief Luft. »Bereit«, sagte er dann, sprang auf und rannte los. Max merkte sofort, wie der Druck der Angreifer von unten ihn und die Falltür höher wuchtete. Er sprang ebenfalls in die Höhe und ließ sich zurück auf die Holzplanken fallen. Er hörte durch die Tür hindurch, wie jemand polternd die Leitertreppe nach unten stürzte und Peyton fluchte.

Max sah zu Ricky hinüber, der gerade über die Brüstung kraxelte und sich an dem Seil nach unten ließ. Er kalkulierte, dass er etwa fünfzehn bis zwanzig Sekunden brauchen würde, bis er unten und in Sicherheit war. Früher durfte Max auf keinen Fall selbst loslaufen – das geknotete Seil war nicht stark genug, sie beide zu tragen.

Während der Druck unter der Falltür wieder größer wurde und Max Stück für Stück weiter in die Höhe hob, zählte er stumm die Sekunden. Er versuchte den Trick, zu springen und sich wieder fallen zu lassen, ein zweites Mal, doch diesmal waren die Angreifer darauf vorbereitet und stemmten sich so fest von unten gegen das Holz, dass es nicht einen Zentimeter nachließ, als Max mit seinem ganzen Gewicht daraufplumpste.

Dreizehn, vierzehn, fünfzehn, zählte Max in Gedanken zu Ende, während die Tür sich mehr und mehr hob, bis sie schließlich so weit offen war, dass Max fast von selbst herunterrutschte.

Er beeilte sich, auf die Füße zu kommen, und rannte hinüber zur Brüstung. Doch noch ehe er darüberklettern konnte, spürte er einen harten Schlag im Rücken, gleich darauf einen an der Wade. Gleich zwei der Paintball-Geschosse hatten ihn getroffen.

Max gab sich geschlagen, hob die Arme in die Höhe und drehte sich um. Da standen Peyton, Marcello und Giselle. Sie hatten die Mündungen ihrer Gewehre auf ihn gerichtet.

Peyton starrte ihn zornig an. Offenbar war er sauer, dass allen außer Max die Flucht geglückt war.

»Gebt ihm den Rest«, knurrte er und betätigte den Abzug seiner Waffe. Die anderen beiden folgten seinem Befehl.

Ein Paintball nach dem anderen traf Max hart. Auf der Brust, an den Schenkeln und Armen. Peyton aber hielt voll auf sein Gesicht. Der Schmerz war trotz Schutzbrille so groß, als würde jemand Max wiederholt mit der Faust schlagen, und er riss die Arme schützend nach oben – nur um gleich darauf einen Schuss nach dem anderen zwischen die Beine zu bekommen.

Max schrie wütend auf und stürmte auf Peyton los. Der aber wich geschickt aus und trat Max von der Seite gegen das Knie. Das brachte Max zu Fall, und Peyton stellte sich mit beiden Füßen auf Max’ Hände, um ihn daran zu hintern, aufzustehen. Dann schossen sie ihm den Rest der Magazine auf den Rücken.