KAPITEL 18

SPURENSUCHE

DIE INDISCHE BOTSCHAFT

Eine Viertelstunde später saßen Max und Tapa in ihrem Zimmer in der indischen Botschaft vor ihrer Computeranlage. Die bestand aus drei Hochgeschwindigkeitsrechnern mit ebenso vielen Monitoren. Tapas schmale Finger jagten über die Keyboards wie die eines geübten Pianisten über die Tastatur seines Konzertflügels. Wie nebenbei wischte sie virtuos über den Touchscreen eines Tablets, mit dem sie die Anlage zusätzlich steuerte.

Max hatte immer geglaubt, einigermaßen versiert zu sein im Umgang mit Rechnern, aber was Tapa da an den Tag legte, stellte alles in den Schatten, und er verstand nicht einmal die Hälfte dessen, was sie da alles tat.

»Hast du das Foto?«, fragte sie.

Max holte es aus seiner Brieftasche und gab es ihr. »Aber es ist ein altes. Der Mann müsste inzwischen um einiges älter sein. Etwa elf Jahre älter.«

»Und wer ist das?«, fragte sie und legte das Foto auf das Tablet, das sie jetzt als hochauflösenden Scanner benutzte.

»Das ist es, was ich herausfinden will«, antwortete er ausweichend.

Er wollte noch nicht verraten, dass es sich dabei um seinen Vater handelte.

»In Ordnung«, sagte Tapa, ohne nachzuhaken. Falls sie neugierig war, merkte man ihr das nicht an. »Dann wollen wir mal schauen, was die Gesichtserkennung und die Datenbanksuche uns über ihn verraten.«

»Und du bist sicher, dass du keinen Ärger mit deinem Vater bekommst?«

»Oh, den bekäme ich ganz sicher, wenn ich auf die Programme und Daten der Botschaft zugreifen würde«, stellte Tapa klar. »Aber das tue ich nicht.«

»Nein?«

»Nein. Ich bewege mich mit meinen selbst geschriebenen Programmen völlig legal im frei zugänglichen Internet. Die großen Suchmaschinen wie Google sind ohnehin viel aktueller als die meisten der geschlossenen Systeme. Ich jage meine drei Rechner über drei verschiedene Pfade durch drei unterschiedliche Ebenen. Es kann aber natürlich trotzdem eine Weile dauern.«

»Kein Problem«, sagte Max. Jetzt hatte er seinen Vater so lange schon für tot gehalten, da machten ein paar weitere Minuten oder vielleicht auch Stunden Unkenntnis nicht mehr viel aus. Trotzdem war er extrem angespannt.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Max fuhr alarmiert herum.

»Wer ist das?«, fragte er Tapa argwöhnisch.

»Keine Panik, es wird nur Dimitri sein«, beruhigte sie ihn.

»Du hast ihn angerufen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ricky hat ihn gleich nach mir angerufen und ihm von deinen Schwierigkeiten erzählt.«

Während sie das sagte, war sie schon aufgestanden und hatte die Tür geöffnet.

»Ja, und außerdem hat mich Vicky auch noch mal angerufen«, sagte Dimitri, kaum dass er das Zimmer betreten hatte. »Dein Patenonkel will dich echt in die Schweiz abschieben?«

Max nickte.

»Kommt ja gar nicht infrage«, sagte Dimitri aufmunternd. »Mach dir mal keine Sorgen. Du bleibst hier bei uns in Tokio. Kannst im Zweifelsfall bei uns in der russischen Botschaft wohnen, wenn du willst.«

Max fühlte eine Welle von Dankbarkeit.

»Ihr beide seid wirklich gute Freunde«, sagte er.

Dimitri knuffte ihn mit der Faust an der Schulter. »Klar sind wir das.«

Sein Blick fiel auf Tapas Computeranlage, und Max sah, wie das Lächeln von seinem Gesicht verschwand und seine Miene finster wurde, ja geradezu hasserfüllt.

»Was ist?«, fragte Max.

Dimitri zeigte mit dem Finger auf das alte Foto von Max’ Vater. »Was macht ihr da?«

»Wieso?«, fragte Max ausweichend. Die feindselige Art und Weise, mit der Dimitri auf das Bild reagierte, riet ihm zur Vorsicht. »Kennst du den Mann etwa?«

»Ob ich ihn kenne?«, fragte Dimitri. Seine Stimme war mit einem Mal kalt wie Eis. »Darauf kannst du dich aber verlassen.«

»Wer ist es?«, fragte Tapa.

»Das ist Prizrak«, sagte Dimitri.

»Priz… was?«, fragte Max.

»Prizrak«, wiederholte Dimitri, und es klang, als würde er das Wort ausspucken. »Das ist russisch und bedeutet so viel wie Schatten oder Geist. Den Spitznamen hat der Verbrecher, weil er einfach nicht zu fassen ist. Wie ein Schatten eben. Manche sagen sogar, er existiert gar nicht wirklich.«

»Ein Verbrecher?«, fragte Max. Er sah seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden.

Dimitri nickte finster. »Prizrak ist einer der meistgesuchten Männer Russlands. Wahrscheinlich sogar der meistgesuchte. Sein wirklicher Name – oder vielmehr der einzige Name, den man jemals herausgefunden hat – ist Oleksiy Tereshchenko. Er ist ein aus der Ukraine stammender Waffenhändler mit weitreichenden Kontakten zum internationalen Terrorismus und Drogenkartellen weltweit.«

Unmöglich!, dachte Max. Er war überzeugt davon, dass der Mann sein Vater war: Kai Ritter.

»Bist du dir ganz sicher, Dimitri?«, fragte er daher den Freund.

»Hundert Prozent sicher«, sagte Dimitri. »Das kannst du mir glauben.«

Er deutete auf Tapas Computer und fragte: »Darf ich?«

»Fühl dich ganz frei.«

Dimitri setzte sich und ließ seine Finger über die linke Tastatur tanzen. Er war nicht ganz so geschickt wie Tapa, aber Max konnte erkennen, dass er wusste, was er da tat. »Ich nehme an, du hast einen IP-Scrambler.«

»Worauf du dich verlassen kannst«, antwortete Tapa. »Habe ihn sogar selbst programmiert. Ich route pingpong über fünf Kontinente und siebzehn Satelliten.«

Max musste wohl ziemlich planlos dreinschauen, denn sie fügte in seine Richtung erklärend hinzu: »Ein IP-Scrambler schafft eine Unzahl künstlicher IP-Adressen mit entsprechend andauernd wechselnden Locations, die per Zufallsgenerator simulieren, verschiedene POIs anzusteuern.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du gerade redest, Tapa«, gab Max zu.

»Wenn ich dieses Programm benutze, kann niemand die Position meiner Rechner aufspüren«, übersetzte sie ihre Computersprache.

»Wäre auch schlecht«, sagte Dimitri, während er weitertippte, »wenn man in der russischen Botschaft glauben würde, jemand aus der indischen Botschaft saugt Daten aus ihren Banken.«

Max sah auf dem Monitor vor Dimitri diverse Masken aufpoppen, die Sicherheitskennwörter abfragten.

Dimitri gab sie ein, bis schließlich eine virtuelle Akte erschien. Es war eine Akte mit dem Foto von Max’ Vater. Das Foto war um einige Jahre jünger als das, das Max von ihm besaß.

»Hier«, sagte Dimitri. »Oleksiy Tereshchenko. Geboren am fünften April 1971 in Kiew, Ukraine. Eintritt in die Militärakademie des Generalstabs der Streitkräfte der UdSSR ›K.J. Woroschilow‹ in Moskau im Oktober 1987. Da war er gerade mal sechzehn. Er hat einen kometenhaften Aufstieg hingelegt.

Schaut her: Eine Auszeichnung nach der anderen. Bester Schütze seines Jahrgangs, überragend im Nahkampf, goldene Abzeichen in Strategie und Taktik, ein Ausnahmetalent im Guerillakampf. Wäre das alte Regime nicht zusammengebrochen, wäre Tereshchenko heute mit Sicherheit einer der führenden Militärs. Aber so hat er mit dem Ende der UdSSR die Seiten gewechselt und sich am Ausverkauf unserer Waffenarsenale beteiligt.«

Die nächsten Dateien, die Dimitri aufrief, waren ältere Bilder von Oleksiy Tereshchenko.

»Hier sehen wir ihn mit Drogenbossen in Süd- und Mittelamerika, mit Warlords in Afrika, Terroristen im Nahen Osten und so weiter.«

Max konnte nicht fassen, was er da sah. Der Mann auf den Fotos war eindeutig sein Vater. Aber ebenso eindeutig war sein Vater Kai Ritter und nicht ein Ukrainer namens Oleksiy Tereshchenko.

Sein Gehirn schlug Purzelbäume, kam dabei aber zu keinem auch nur halbwegs vernünftigen Ergebnis.

»Woher weißt du so viel über ihn?«, fragte Tapa.

»Mein Vater hat höchstpersönlich in Russland jahrelang die Sonderkommission geleitet, die mit der Aufspürung Oleksiy Tereshchenkos beauftragt war«, antwortete Dimitri. »Und weil er damit trotz aller Anstrengungen ebenso erfolglos war wie seine Vorgänger, wurde er in den diplomatischen Corps strafversetzt. Deshalb sind wir jetzt hier in Tokio. Ich meine, mir gefällt es hier in Tokio, aber die Karriere meines Vaters ist ruiniert.«

Jetzt war klar, warum Dimitri einen so großen Hass auf den Mann hatte, den er Oleksiy Tereshchenko nannte.

»Gibt es Infos zu seinem jetzigen Aufenthaltsort?«, fragte Max.

»Hast du nicht zugehört?«, fragte Dimitri. »Der Kerl ist Prizrak. Ein Geist. Ein Schatten. Niemand hat Infos zu seinem Aufenthaltsort.«

»Geh auf Nummer sicher«, sagte Max und deutete auf den Computer. »Schau nach.«

Dimitri hackte nochmals in die Tastatur.

»Nichts«, sagte er schließlich. »Wie ich gesagt habe. Keine Spur.«

»Meine Programme haben auch nichts gefunden«, fügte Tapa mit Blick auf die anderen beiden Rechner hinzu. »Der Kerl muss ein wahrer Profi darin sein, sein Gesicht vor Überwachungskameras zu verbergen.«

»Der Schatten ist ein Profi«, bestätigte Dimitri. »Ein Vollprofi. Wieso suchst du ihn überhaupt, Max?«

Max spürte, dass es unklug wäre, seinen Freunden die Wahrheit zu sagen, ehe er selbst mehr wusste. Aber belügen wollte er sie auch nicht.

»Ich habe beobachtet«, sagte er daher, »wie er heute Abend etwas an Harutaka Ishido verkauft hat.«

Tapa horchte auf. »Der Yakuza-Killer, der es auf dich abgesehen hat?«

Max nickte. »Genau der.«

»Vicky hat am Telefon erzählt, dass seine Ninjas euch beim Hafen überfallen haben«, sagte Dimitri.

»Ja«, bestätigte Max. »Ich muss herausfinden, was Ishido plant. Wenn jemand wie Tereshchenko ihm etwas verkauft hat, muss es sich um etwas verdammt Gefährliches handeln.«

»Davon kannst du ausgehen«, bestätigte Dimitri. »Wenn der Prizrak seine Hände im Spiel hat, geht es sicher nicht um Kleinigkeiten.«

»Kennt die Datenbank der russischen Botschaft Ishidos aktuellen Aufenthaltsort?«, fragte Max.

»Moment, ich schaue nach«, sagte Dimitri und ließ die Finger wieder über die Tastatur jagen.

Max war froh, dass er die beiden mit Ishido von seinem Vater ablenken konnte.

»Ich habe etwas gefunden«, meldete Dimitri gleich darauf. »Ishido besitzt einen Shinto-Tempel in Yanaka.«

»Das ist Tokios ältester Stadtteil«, fügte Tapa hinzu.

»Ja«, sagte Dimitri. »Den Unterlagen zufolge hat er ihn zu einer Villa umgebaut. Oder eher zu einer Festung. Schaut euch das an.«

Max sah auf dem Computermonitor Luftaufnahmen von der Anlage. Der umgebaute Tempel war von hohen Mauern umgeben und überall auf dem Grundstück waren schwarz gekleidete Wachen zu sehen.

Dimitri hatte recht: Das war eine Festung. Im wahrsten Sinne des Wortes.

»Hast du die Adresse?«, fragte Max.

»Ja.«

»Gib mal her«, bat Tapa und Dimitri drehte den Monitor zu ihr. Sie begann, auf einer der anderen Tastaturen zu tippen.

»Was tust du?«, fragte Max.

»Ich erstelle einen Stadtplan und lade vom Bauamt die Grundrisse des ursprünglichen Tempels herunter. Vom Umbau selbst gibt es leider keine Aufzeichnungen.«

»Nachvollziehbar«, sagte Max. »Den hat er natürlich streng geheim gehalten. Kannst du mir die Daten auf mein Tablet schicken?«

»Schon erledigt«, sagte Tapa.

»Du willst dahin?«, fragte Dimitri und loggte sich aus der russischen Datenbank aus.

»Ich muss dahin«, sagte Max, »und herausfinden, was Harutaka Ishido vorhat.«

»Ich komme mit«, sagte Dimitri.

»Ich auch«, schloss sich Tapa an.

»Nein«, stellte Max klar. »Ich weiß eure Hilfe sehr zu schätzen, aber ich habe heute schon Vicky in Gefahr gebracht. Ich kann nicht zulassen, dass euch auch noch etwas passiert.«

»Kommt überhaupt nicht infrage«, widersprach Dimitri. »Wenn du da hingehst, kommen wir mit.«

Aber Max blieb eisern. »Schaut euch die Anlage doch an. Allein habe ich eine echte Chance, da unbemerkt rein- und auch wieder rauszukommen. Und wenn etwas schiefgehen würde, könntet ihr mir im Zweifelsfall auch nicht gegen Ishidos Ninjas helfen.«

Dimitri holte tief Luft, um etwas zu sagen, aber Tapa kam ihm zuvor.

»Max hat recht, Dimitri«, sagte sie. »Das ist keine Mission für ein Team. Seine Chancen sind allein sehr viel größer.«

»Also gut«, lenkte Dimitri schließlich ein, fasste in die Tasche und holte sein Smartphone hervor. »Aber wenn du uns brauchst, rufst du an.«

»Einverstanden«, erklärte sich Max bereit.

»Ich habe hier noch etwas für dich«, sagte Tapa und öffnete eine Schublade. »Eine kleine USB-Kamera mit Schwanenhals. Wenn du sie an das Tablet anschließt, kannst du damit um die Ecke schauen.«

»Danke«, sagte Max, steckte sie ein und ging los. An der Tür blieb er noch einmal kurz stehen, drehte sich um und sah Tapa und Dimitri an. »Ihr seid wirklich gute Freunde, wisst ihr das?«

Dimitri grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Klar wissen wir das.« Dann wurde seine Miene wieder ernst. »Pass auf dich auf!«

»Ja, Max«, schloss Tapa sich an. »Pass auf dich auf.«