KAPITEL 23
VERFOLGUNGSJAGD
TOKIO – ZOLLHAFEN
Die beiden Polizeimotorräder rasten mit heulenden Sirenen und blinkenden Blaulichtern heran und bremsten mit quietschenden Reifen links und rechts von Max.
»Auf die Knie und Hände hinter den Kopf!«, brüllte der eine Zollpolizist Max an und stieg eilig von seiner Maschine ab.
»Warten Sie! Ich kann das erklären!«, rief Max drängend.
»Ich habe gesagt: Auf die Knie und Hände hinter den Kopf!«, wiederholte der Polizist jetzt noch viel bissiger, packte mit einer gründlich trainierten Bewegung Max’ Handgelenk und drehte ihm schmerzhaft den Arm nach hinten auf den Rücken. Er nutzte den Hebel, um Max in die Knie zu zwingen.
Max stieß einen Schmerzensschrei aus und sagte: »Mein Name ist Max Ritter. Ich gehöre zur Botschaft der Bundesrepublik Deutschland.«
Auch der zweite Polizist war in der Zwischenzeit von seinem Motorrad abgestiegen und baute sich drohend vor Max auf.
»Ausweis!«, forderte er.
Max trug den Ausweis stets in seiner Umhängetasche, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo die im Verlauf der vergangenen Nacht verloren gegangen sein mochte. Vermutlich auf dem Dach, auf dem er Ishido mit dem Blitz lahmgelegt hatte.
»Ich habe ihn verloren«, sagte Max. »Sehen Sie mich doch an.« Er deutete auf seinen nackten Oberkörper. »Das ist ein Notfall. Ich wurde entführt. Es ist ein Terroranschlag geplant, der …«
Das war ein Fehler, denn in dem Moment, in dem Max das Wort ›Terroranschlag‹ sagte, machte der Polizist vor ihm einen Satz zurück, zog seine Pistole und richtete sie auf Max.
»Nicht von mir!«, rief Max eilig, um den Patzer zu korrigieren. »Ich muss den Anschlag verhindern. Und Sie müssen mir dabei helfen. Bitte! Es geht um Leben und Tod!«
Doch der Schaden war angerichtet. Die beiden Polizisten hörten ihm schon nicht mehr zu. Stattdessen schnatterten sie so schnell und aufgeregt miteinander, dass Max trotz seiner inzwischen wirklich guten Japanischkenntnisse kein Wort verstand.
Der Polizist vor ihm griff nach dem Funkgerät, das er an der Schulter trug, aktivierte es und rief panisch hinein. »Der Verdächtige ist ein Terrorist. Ich wiederhole: Der Verdächtige ist ein Terrorist. Fordere Verstärkung! Fordere Verstärkung!«
»Nein!«, schrie Max. »Ich bin doch nicht der Terrorist. Ich bin …«
Ehe er weitersprechen konnte, schlug ihm der Polizist hinter ihm so hart mit der Faust in den Nacken, dass Max Sterne vor den Augen sah und fast das Bewusstsein verloren hätte.
Von der Station am Eingang des Zollhafens kamen nun mit Sirenen und Blaulichtern Autos und weitere Motorräder herangerast.
Max befürchtete, dass das Missverständnis im Begriff war, zu eskalieren und in einer schrecklichen Katastrophe zu enden, und dass es zu viel der ohnehin knappen Zeit kosten würde, es aus dem Weg zu räumen. Wie die Sache sich darstellte, würde die Zollpolizei ihn erst einmal festnehmen und wegsperren. Die Beamten würden dann die zuständigen Behörden alarmieren und warten, bis deren Leute hier vor Ort waren, um Max zu verhören.
Und wer konnte schon sagen, wie schnell Max die dann von seiner Unschuld überzeugen und vor der echten Bedrohung warnen konnte.
Das Szenario, das Max sich da ausmalte, war so realistisch wie es inakzeptabel war. Er musste handeln. Jetzt!
Geschickt drehte er sich aus dem Klammergriff des Polizisten, der ihn hielt – so wie er es im Training bei Meister Chao Wong gelernt hatte –, und noch ehe die beiden Zollbeamten überhaupt reagieren konnten, hatte er sich schon auf eines der Motorräder geschwungen, startete es und raste los.
Im verteufelt engen Slalom jagte er die schwere Maschine zwischen den ihm entgegenkommenden Einsatzfahrzeugen hindurch zum Ausgang des Geländes.
Dort schon nach wenigen Sekunden angekommen, bremste Max gerade genug ab, um zwischen den beiden Schlagbäumen hin und her zu zickzacken.
Kaum war er durch das Hindernis, drehte er das Gas voll auf. Die Beschleunigung des PS-starken Bikes war so krass, dass es ganz von selbst auf das Hinterrad stieg und Max fast nach hinten vom Sitz geschleudert wurde. Er beugte sich nach vorn über den Tank, um es zurück auf das Vorderrad zu zwingen, und schmiegte sich so tief er konnte auf die Maschine, hinter den Schutz des Windschilds. Trotzdem musste er die Augen gegen den scharfen Fahrtwind zusammenkneifen.
Max war in Berlin einige Mal illegal gefahren und wusste, wie man ein Motorrad bedient, aber das Polizeigerät mit dem aufgemotzten Aggregat war eine Klasse für sich. Es war so schwer zu bändigen wie ein wildgewordener Bulle. Die Schnelligkeit verschlug Max den Atem und wehte ihm das noch vom Meer nasse Haar nach hinten.
Was für ein verfluchter Mist!, dachte er. Jetzt verfolgt mich auch noch die Polizei! Er gab noch mehr Gas. Sie durften ihn auf gar keinen Fall einholen und stoppen.
DIE STRASSEN TOKIOS
Hinter ihm heulten die Sirenen auf. Max wusste, dass sein bis jetzt herausgefahrener Vorsprung nur ein winziger war. Er jagte das Motorrad nach Norden in Richtung des Sakura Niwa Hotels und nahm die erste Auffahrt hinauf zur Stadtautobahn.
Die Auffahrt war eine langgezogene Kurve, und er legte sich tief hinein, sodass sein Knie fast den Asphalt berührte. Von Sekunde zu Sekunde wurde sein Gespür für die Mühle besser, sodass es sich bald so anfühlte, als wäre er eins mit der Maschine.
Der Verkehr auf der vierspurigen Autobahn war dicht und schnell, aber Max wusste, dass er das zu seinem Vorteil ausnutzen konnte. Er überholte, wo immer es möglich war, zwischen den Spuren, wedelte mal nach links, mal nach rechts, und sah schon kurz darauf in den Rückspiegeln, dass die Einsatzwagen trotz ihrer Blaulichter immer weiter zurückfielen.
Nicht aber die Motorräder!
Es waren drei, und sie waren ihm dicht auf den Fersen.
Max holte aus der Maschine raus was ging, aber die Verfolger waren ausgebildete Motorrad-Cops und kamen immer näher und näher.
Max fühlte sich wie von Wölfen gehetzt. Er nutzte jede freie Lücke zwischen den rasenden Autos, um so unvorhersehbar wie möglich die Spuren zu wechseln. Doch die Polizisten hatten den Vorteil ihrer Blaulichter und Sirenen. Die Autos machten ihnen Platz und damit freie Bahn.
Max überlegte, ob auch er die Sirene und das Blaulicht anschalten sollte, entschied sich aber dagegen. Er durfte es seinen Verfolgern nicht zu einfach machen, ihn im Auge zu behalten.
Doch auch so überholten gleich darauf zwei von ihnen Max auf beiden Seiten.
Kaum waren sie an ihm vorüber gefahren, scherten sie nach innen – genau vor ihn – und bremsten. Damit wollten sie auch ihn zum Bremsen zwingen.
Links und rechts von ihnen waren Autos, also kein Platz, um um sie herumzukurven.
Max sah nur einen Weg: mitten durch! Statt also abzubremsen, behielt er seine Geschwindigkeit bei und jagte genau auf die kleine Lücke zwischen den beiden Motorrädern vor ihm zu.
Nur wenige Meter bevor er sie erreichte, drückte er sich mit den Füßen von den Stützen ab und streckte die Beine über die Sitzbank und das Rücklicht nach hinten weg, um bei dem gleich bevorstehenden Aufprall nicht mit den Knien an den anderen Bikes hängen zu bleiben und sich die Knochen zu brechen.
Sein Bike rammte wie ein Keil zwischen die anderen beiden. Frontaufbau, Rückspiegel und Windschild zersplitterten mit lautem Krachen und fetzten in alle Richtungen weg, aber das Manöver gelang: Die beiden Polizeimotorräder wurden – fast wie Billardkugeln – nach beiden Seiten wegkatapultiert.
Max’ Bike kam ins Schlingern. Er beeilte sich, die Füße wieder auf die Stützen zu kriegen, um die Mühle auszubalancieren.
Ohne den Schild schnitt ihm der Fahrtwind jetzt direkt mit aller Härte mitten ins Gesicht. Obwohl Max die Augen so dicht es ging zukniff, begannen sie sogleich zu tränen. Fliegen und Motten klatschten ihm mit voller Wucht gegen die Wangen, das Kinn und die Stirn, so fest wie Paintball-Geschosse. Er konnte nur hoffen, dass ihm nichts in die Augen flog.
Im nächsten Moment spürte er, wie ein scharfer Ruck von hinten durch sein Motorrad ging. So heftig, dass das Bike einen kleinen Satz nach vorn machte und Max beinahe aus dem Gleichgewicht geraten und umgestürzt wäre.
Auch ohne sich umzudrehen, wusste Max sofort, was geschehen war: Das letzte der drei Polizeimotorräder hatte ihn gerammt – und rammte ihn gleich darauf noch einmal.
Max ging sofort auf Zickzackkurs, um es seinem Verfolger so schwer wie möglich zu machen, ihn noch ein drittes Mal zu treffen.
Bis zu dem Hotel, in dem die Gala stattfand, war es nicht mehr weit. Aber Max wusste, dass das kein Grund war, in seiner Konzentration nachzulassen. Ganz im Gegenteil. Von seinen Parkour-Runs wusste er nur zu gut, wie gefährlich es war, die Aufmerksamkeit zu früh abzulegen. Die meisten Unfälle passierten auf den letzten Metern, wenn man sich schon in Sicherheit wiegte.
Max biss die Zähne zusammen und hielt, während er im scharfen Slalom an den Autos vorüberjagte, mit tränenden Augen Ausschau nach der Ausfahrt.
Dann kam sie endlich!
Aber Max tat so, als wolle er weiter geradeaus fahren. Erst in der allerletzten Sekunde legte er das Bike in die Kurve und fädelte zwischen zwei Pkw nach rechts rüber.
Hinter sich hörte er das kreischende Quietschen der bremsenden Reifen des Verfolgers. Max hatte ihn ausgetrickst.
Doch Max wusste, dass er sich damit nur ein paar weitere Sekunden Vorsprung verschafft hatte, und behielt das hohe Tempo auch in der kreisförmigen Ausfahrt bei. Dabei kam er der Leitplanke immer näher.
Tiefer und tiefer legte er sich in die Kurve. Immer näher kam er mit Knie und Schulter dem harten Asphalt. Wenn er jetzt hängen blieb, war nicht nur alles verloren, er würde sich auch verflucht schwer verletzen.
Doch schließlich hatte er die Kurve geschafft! Er richtete das Bike wieder auf und raste jetzt die Stadtstraße entlang.
Die Autos um ihn herum waren hier um einiges langsamer als auf dem Highway und er musste beim Ausweichen noch mehr achtgeben.
Plötzlich hörte Max weitere Sirenen. Sie kamen von allen Seiten. Auf der Kreuzung vor ihm schossen jeweils zwei Polizeiwagen aus den Zufahrtsstraßen und bremsten mit quietschenden Reifen, um ihm die Weiterfahrt zu versperren.
Max schaltete einen Gang runter und gab Vollgas. Sein Bike sprang nach vorn – gerade noch zwischen den Wagen hindurch.
Da sah er vor sich die helle Reklameleuchtschrift des Hotels: SAKURA NIWA.
Auf der Auffahrt reihte sich eine große schwarze Limousine an die nächste. Die Festgäste in ihren Smokings und Abendkleidern stiegen unter Blitzlichtgewitter der Reporter aus, und die Wagen fuhren weiter, um den nachfolgenden Platz zu machen.
Vor dem Eingang des Hotels sah Max Freiherr von Lausitz auf dem roten Teppich stehen, wie er die Ankommenden allesamt persönlich mit Handschlag und Verbeugung begrüßte. Seine Frau, Vicky und Ricky waren bei ihm. Hinter ihm standen Frommholz und zwei weitere Bodyguards.
Max hielt genau auf die Familie des Botschafters zu, fuhr zwischen zweien der Limousinen auf den Bürgersteig und legte eine so scharfe Vollbremsung hin, dass es ihn fast über den Lenker des Bikes geschleudert hätte.
Hinter ihm heulten die Sirenen der heranrasenden Polizei.