KAPITEL 24

VOM REGEN IN DIE TRAUFE

DAS SAKURA NIWA HOTEL

Max sprang von der Maschine, ließ sie achtlos fallen und rannte die letzten Meter zu Freiherr von Lausitz. Der und seine Familie begegneten ihm mit entsetzten Blicken. Sicherheitschef Frommholz reagierte sofort: Er und seine Männer sprinteten los und packten Max an den Armen. Doch Max ignorierte sie.

Er wandte sich direkt an Freiherr von Lausitz. »Ich brauche diplomatische Immunität«, rief er drängend. »Dass mich die Polizei verfolgt, ist ein Missverständnis. Ich kann es erklären.«

Mehr konnte er jetzt nicht sagen, wenn er vermeiden wollte, dass unter den Gästen, die bislang das abenteuerliche Schauspiel mehr neugierig als verschreckt verfolgten, eine Panik ausbrach – was bei der Masse an Menschen vor und in dem Hotel fast ebenso verheerende Folgen haben würde wie der Anschlag, den Max verhindern wollte, selbst.

»Was geht hier vor, Max?«, herrschte der Botschafter ihn ungehalten an.

Inzwischen waren die Polizisten aus ihren Wagen gesprungen, kamen angerannt und richteten ihre Pistolen auf Max.

»Wie gesagt, ein Missverständnis«, sagte Max, »das ich aber nur unter vier Augen aufklären kann. Schnell, sagen Sie den Polizisten, dass ich unter diplomatischer Immunität stehe! Es ist wirklich wichtig!«

»Vertrau ihm, Papa!«, schaltete sich Vicky ein. Erst jetzt fiel Max auf, dass sie ein atemberaubend schönes Abendkleid trug. Rote Seide, knielang und mit einem Ausschnitt, der Max beinahe alles andere vergessen ließ. Ihre Haare hatte sie lockig mit einem funkelnden Diadem hochgesteckt. Sie sah aus wie eine Prinzessin. »Wenn Max sagt, es ist wichtig, dann ist es das auch.«

Der Blick des Botschafters verriet, dass er davon alles andere als überzeugt war.

Max zischte ihm flüsternd zu: »Wenn ich jetzt verhaftet werde, sterben Hunderte unschuldiger Menschen. Auf die Gala ist ein Anschlag geplant!«

»Red keinen Unsinn, Junge«, knurrte Sicherheitschef Frommholz, der ihn trotz des Flüsterns verstanden hatte. »Das gesamte Gelände ist gründlichst untersucht worden und gesichert.«

»Hör dir wenigstens an, was er zu sagen hat«, flehte Vicky ihren Vater an. »Wenn es kein Notfall wäre, wieso sollte Max hier dann halb nackt auf einem Motorrad auftauchen?«

Freiherr von Lausitz sah Max unschlüssig an.

»Guten Abend, Herr Botschafter.« Ein Mann war an die kleine Gruppe herangetreten und verneigte sich höflich. Es war ein älterer Japaner, hochgewachsen und schlank. Sein Haar war schneeweiß. Ebenso die Brauen über dunklen, klugen Augen. Er trug einen klassischen Smoking mit glänzendem Revers. Etwa drei Schritte hinter ihm war eine Japanerin etwa gleichen Alters stehen geblieben. Sie war in einen traditionellen Kimono gewandet. Offenbar waren die beiden Gäste der Gala – oder sie zählten möglicherweise auch mit zu den Veranstaltern.

Freiherr von Lausitz erwiderte die Verneigung.

»Guten Abend, Superintendent Yaramoto«, sagte er formell und freundlich.

Yaramoto lächelte, aber sein wachsamer Blick war ernst. »Wenn Sie die Freundlichkeit besäßen, den jungen Mann zügig in die Obhut meiner Polizisten zu übergeben, kann weiteres Aufsehen vermieden werden und unsere Veranstaltung ohne weitere Verzögerung beginnen.«

»Max steht unter diplomatischer Immunität«, mischte Vicky sich ein. »Er gehört zu uns, Superintendent Yaramoto. Zu unserer Familie.«

»Viktoria!«, sagte ihr Vater streng. »Halt dich da raus.« Er verneigte sich noch einmal vor dem Polizeichef. »Bitte verzeihen Sie meiner Tochter diesen unangebrachten Ausbruch.«

»Selbstverständlich, Herr Botschafter«, sagte Yaramoto geduldig. »Schließlich waren wir alle einmal jung, nicht wahr?«

Sein Blick wanderte zu Max. »Aber Jugend verzeiht gewiss nicht alles. Gegen den Jungen werden seitens meiner Beamten durchaus einige schwere Anschuldigungen erhoben.«

»Welche?«, fragte Freiherr von Lausitz mit neutraler Stimme.

»Nun«, erwiderte der Polizeichef leise. »Da wären unbefugte Einreise, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Beschädigung von Polizeieigentum und fahrlässige Gefährdung von Menschenleben.«

Er beugte sich zu Freiherr von Lausitz vor und flüsterte noch leiser: »Meine Männer sprechen sogar davon, dass er einen terroristischen Anschlag geplant habe.«

»Ich sagte doch schon, dass das ein Missverständnis ist«, stieß Max hervor. »Und Ihre Männer haben mir keine andere Wahl gelassen, als …«

»Schweig!«, forderte der Botschafter streng.

Viktoria stellte sich vor ihren Vater. »Bitte, Papa! Hör ihn doch wenigstens an.«

»Herr Botschafter«, sagte Superintendent Yaramoto drängend. Nur am Heben seiner Augenbraue war zu erkennen, dass sein Geduldsfaden sich dem Ende näherte und er nicht mehr allzu lange dazu bereit sein würde, die Form zu wahren.

»Papa!«

Freiherr von Lausitz wandte sich an Max. »Und du sagst, du kannst das alles erklären?«

»Kann ich«, bestätigte Max und fügte leise hinzu: »Aber nicht hier vor allen Leuten.«

Freiherr von Lausitz überlegte. Dann richtete er sich mit freundlichem, aber bestimmtem Ton an den Polizeichef. »Superintendent Yaramoto. Max steht als mein Patensohn und Mitglied der deutschen Botschaft unter diplomatischer Immunität. Ihre Männer können das sicherlich binnen Sekunden in Ihrem System überprüfen.«

»Das ist nicht nötig«, antwortete Yaramoto. »Ihr Wort genügt mir, Herr von Lausitz.«

»Danke«, sagte der Botschafter.

Doch Yaramoto war noch nicht fertig.

»Aber wollen Sie wirklich die Trumpfkarte der Immunität zücken, um mich und meine Autorität vor allen Leuten zu untergraben?«, fragte er, und seine Stimme hatte bei aller formellen Höflichkeit etwas Drohendes. »Ich würde vor meinen Leuten das Gesicht verlieren, und Sie wissen genau, dass das hier in Japan eine ernstzunehmende Sache ist. Unser beider Zusammenarbeit im Vorstand des CAPDM wäre gefährdet. Wenn nicht gar die Organisation selbst. Mein Land kann schließlich nicht gestatten, dass sich ein – wenngleich sehr willkommener – Ausländer wie Sie, Herr Botschafter, mit seinem diplomatischen Status einfach so und vor allem vor den Augen der ganzen Öffentlichkeit über unsere Gesetze erhebt und sie missachtet.«

Max erkannte das Dilemma sofort, in dem der Polizeichef steckte – und die Gefahr, in der das CAPDM durch seinen Auftritt vor den laufenden Kameras der Reporter und Journalisten gerade auch ganz ohne Anschlag schwebte.

Max verneigte sich tief vor Yaramoto. »Was wäre, wenn Sie als Superintendent mich persönlich festnehmen und mich gemeinsam mit Botschafter von Lausitz hier in einem der Hotelzimmer verhören? Ich versichere Ihnen, Herr Yaramoto: Was ich zu sagen habe, ist von äußerster Wichtigkeit.«

Das ernste Gesicht des Polizeichefs hellte auf. »Das wäre eine akzeptable Lösung.«

»Einverstanden?«, fragte Max Botschafter von Lausitz, der wusste, dass es auch für ihn darum ging, das Gesicht zu wahren. Kultur und Diplomatie waren nun einmal zwei sehr viel delikatere Dinge, als Max es sich noch vor einem halben Jahr vorgestellt hätte.

Freiherr von Lausitz nickte bedächtig. »Wenn es für Superintendent Yaramoto in Ordnung geht, geht es selbstverständlich auch für mich in Ordnung.«

»Wie schön, dass wir eine einvernehmliche Lösung finden konnten.« Der Polizeichef gab seinen Männern ein Zeichen. Sie steckten ihre Waffen weg. Einer von ihnen trat zu ihnen hin und legte Max Handschellen an. Die anderen zogen sich zurück.

»Von hier an übernehme ich«, wies Yaramoto den Polizisten an, der Max die Handschellen angelegt hatte. Der verneigte sich tief und ging davon.

Schon im nächsten Moment hatten sämtliche Einsatzkräfte ihre Fahrzeuge bestiegen und verließen das Gelände vor dem Hotel.

Yaramoto nahm Max mit einer durchaus bestimmten, aber nicht zu entwürdigenden Geste am Arm und führte ihn durch das Portal in die Eingangshalle, gefolgt von Freiherr von Lausitz.

Vicky und Ricky wollten ebenfalls mitkommen.

»Ihr beiden bleibt hier unten im Foyer, bis die Sache geklärt ist«, sagte ihr Vater zu ihnen und wandte sich an Sicherheitschef Frommholz: »Sie begleiten uns bitte.« An Yaramoto gerichtet fügte er hinzu: »Wenn der Superintendent damit einverstanden ist.«

»Ich habe keinerlei Einwände, Herr Botschafter«, erwiderte Yaramoto.

Die vier bestiegen den Aufzug und fuhren in den vierten Stock, wo Max in eine Hotelsuite gebracht wurde, die offenbar dem Organisationsteam des CAPDM als Besprechungsraum diente.

Sieben oder acht Mitarbeiter waren in der Suite anwesend. Sie staunten nicht schlecht, als sie Max barfuß und mit nacktem Oberkörper hereinkommen sahen.

»Herrschaften«, sprach Freiherr von Lausitz sie an, »wenn Sie uns bitte den Raum überlassen würden.«

Die Mitarbeiter nickten gehorsam und verschwanden.

Max wurde zu einem Tisch gebracht. Yaramoto nahm ihm die Handschellen ab und bedeutete ihm, sich zu setzen. Auch der Superintendent und der Botschafter nahmen Platz.

Frommholz blieb hinter Max stehen. Max konnte den feindseligen Blick des Sicherheitschefs förmlich in seinem Nacken spüren.

»Möchtest du dir vielleicht zunächst etwas anziehen?«, fragte Superintendent Yaramoto.

»Ich weiß das sehr zu schätzen«, sagte Max mit einer leichten Verneigung, um die Höflichkeit des Polizeichefs zu erwidern. »Aber dafür ist jetzt keine Zeit. Harutaka Ishido plant ein Attentat auf die Gala. Einen Giftgasanschlag mit Sarin.«

Es fühlte sich befreiend an, es endlich, nach all den Strapazen, loszuwerden.

»So ein Quatsch!«, bellte Frommholz sofort. »Mein Team hat …«

»Ruhe!«, forderte Yaramoto mit dermaßen schneidend autoritärer Stimme, dass der Sicherheitschef mitten im Satz verstummte. »Wir sind hier, um uns anzuhören, was Max zu sagen hat. Es muss einen Grund dafür geben, warum er all das Chaos angerichtet hat.«

»Der Junge spinnt«, sagte Frommholz eisern. »Er ist ein Unruhestifter. Das ist seine Art, um Aufmerksamkeit zu betteln. Er ist einfach unzufrieden, wenn sich nicht die ganze Welt um ihn dreht.«

Freiherr von Lausitz wandte den Blick seelenruhig auf Frommholz. »Superintendent Yaramoto hat Sie gebeten zu schweigen. Bitte halten Sie sich daran oder ich muss Sie dazu auffordern, den Raum umgehend zu verlassen.«

Max konnte hören, wie Frommholz mit den Zähnen knirschte, aber schließlich sagte der Sicherheitschef: »Jawohl, Herr Botschafter.«

»Nun?«, fragte Yaramoto Freiherr von Lausitz. »Ist Ihr Patensohn verrückt oder auf irgendeine andere Weise geistig nicht zurechnungsfähig?«

»Er ist wild und freigeistig«, antwortete der Botschafter offen. »Er hat ein scheinbar tief sitzendes Problem mit Regeln und Autorität. Er …«

»Er ist also ein ganz normaler Jugendlicher, könnte man sagen«, unterbrach ihn Yaramoto ruhig. Max sah Milde in den klugen Augen des Polizeichefs.

»Ganz gewiss ein wenig hyperaktiv«, sagte Freiherr von Lausitz. »Aber ganz bestimmt nicht verrückt im pathologischen Sinne. Max ist geistig, wenn auch zugegebenermaßen nicht immer nachvollziehbar, dann doch ohne Zweifel vollkommen zurechnungsfähig.«

Yaramoto nickte bedächtig.

»Was mich zu der Annahme zurückführt«, sagte er, »dass Max einen Grund für die halsbrecherische Verfolgungsjagd quer durch meine Stadt und die Missachtung der Anweisungen meiner Beamten hatte. Und dieser Grund scheint die Überzeugung zu sein, dass Harutaka Ishido einen Anschlag auf die Gala plant.«

Yaramoto richtete seine nächsten Worte wieder direkt an Max. Er sah ihm dabei tief und forschend in die Augen. »Es ist jetzt unsere Aufgabe, zu überprüfen, ob es sich bei dieser Überzeugung um einen Irrglauben deinerseits handelt oder vielleicht auch um ein schlichtes Missverständnis, oder ob diese Überzeugung tatsächlich Hand und Fuß hat. Also, Max, wie kommst du zu der Annahme, dass uns ein Anschlag auf die Gala bevorsteht?«

»Ich habe mit eigenen Augen gesehen«, antwortete Max, »dass Harutaka Ishido mit Sarin fünf seiner Yakuza-Vorgesetzten hingerichtet hat.«

»Wo?«, fragte Yaramoto.

»In seiner Tempelfestung im Stadtteil Yanaka«, antwortete Max.

»Du warst in Ishidos Haus?«, fragte Botschafter von Lausitz mit weit aufgerissenen Augen zutiefst schockiert. »In der Höhle des Löwen? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Was um alles in der Welt hattest du da zu suchen, Max?«

Max beschloss, die Sache mit seinem Vater zu verschweigen. Sie war zwar für die Hintergründe der Ereignisse von beachtlichem Belang, würde aber in diesem kritischen Moment alles nur noch komplizierter machen und vor allem in die Länge ziehen.

»Der Mann hat es auf mich abgesehen, da ist es ja wohl nachvollziehbar, dass ich so viel wie möglich über ihn herauszufinden versuche«, sagte er deshalb ausweichend.

»Max, wir haben darüber mehr als einmal ausführlich gesprochen«, sagte Freiherr von Lausitz.

»Bitte lassen Sie ihn fortfahren«, bat Superintendent Yaramoto.

»Danke«, sagte Max. »Auf jeden Fall hat Harutaka Ishido seine Hauptleute ermordet, und er befindet sich im Besitz von weiteren fünf Glasampullen. Jede davon ist so groß wie eine Zigarrenhülse.«

»Woher weißt du, dass er noch fünf der Ampullen hat?«, fragte Yaramoto.

»Ich habe den Koffer gesehen«, sagte Max, »in dem er sie aufbewahrt. In dem Koffer befanden sich außerdem die Baupläne von der Veranstaltungsebene des Sakura Niwa Hotels im dritten Stock.«

Yaramoto sah ihn nachdenklich an. »Wann hast du diesen Koffer gesehen?«

»Gestern«, sagte Max.

»Gestern?«, fragte der Superintendent misstrauisch. »Und damit kommst du erst heute Abend zu uns? Und dann auch noch halbnackt aus dem Hafenbecken? Was hattest du überhaupt im Wasser zu suchen?«

»Ich wurde gestern Nacht auf der Flucht vor Ishido überfallen und entführt«, sagte Max wahrheitsgemäß. »Und dann …«

»Entführt?«, unterbrach Botschafter von Lausitz. »Von wem?«

»Ich weiß es nicht«, log Max.

»Du weißt nicht, wer dich entführt hat?«, fragte Yaramoto argwöhnisch.

Max schüttelte den Kopf. »Ich war bewusstlos und bin erst vor Kurzem auf einem verlassenen Frachtschiff weit draußen in der Bucht von Tokio wach geworden. Weil es nirgends ein Funkgerät gab oder ein Telefon, bin ich geschwommen. Hätten die Beamten im Hafen auf mich gehört, hätte es nicht zu der Verfolgungsjagd durch die Stadt kommen müssen.«

Yaramoto neigte den Kopf zur Seite. »Irgendetwas verschweigst du uns, Max. Ich spüre so etwas. Immerhin bin ich seit fast vierzig Jahren Polizist.«

»Sie müssen mir glauben, der Kern der Sache ist die Wahrheit«, sagte Max beharrlich, ohne dem ihn forschend fixierenden Blick Yaramotos auszuweichen oder auch nur zu blinzeln. »Harutaka Ishido befindet sich im Besitz von fünf Ampullen Sarin und plant einen Anschlag auf das CAPDM

Es folgte ein ausgedehntes Schweigen. Max beobachtete, wie Botschafter von Lausitz und der Superintendent einander abwägend ansahen.

»Meine Männer haben den Veranstaltungssaal gründlich durchsucht«, sagte Yaramoto dann.

»Meine ebenfalls«, erwiderte Freiherr von Lausitz. »Auch alle umgebenden Serviceräume und Zugänge. Auch wurde sämtliches Personal auf Herz und Nieren überprüft.«

»Bei dem Anschlag auf seine Hauptleute hatte Ishido das Sarin in einer Verzierung im Blumengebinde auf seinem Tisch versteckt«, sagte Max. »Es war ein kleiner Lampion aus Seidenpapier, den er mit einer Fernbedienung zum Explodieren gebracht hat.«

Sowohl der Botschafter als auch Yaramoto horchten alarmiert auf.

Von Lausitz wandte sich an seinen Sicherheitschef: »Durchsuchen Sie bitte mit Ihren Männern noch einmal gründlich die Dekorationen sämtlicher Tische, Hauptmann Frommholz. Und überhaupt alles, was in dem Saal steht an Blumengebinden oder auch Lampions, die vielleicht von der Decke hängen. Alles.«

»Herr Botschafter, ich versichere Ihnen …«, begann Frommholz.

»Sofort!«, schnitt Freiherr von Lausitz ihm das Wort ab. »Alles. Gründlich!«

»Jawohl, Herr Botschafter!«, bestätigte Frommholz endlich und eilte davon.

Yaramoto hatte sein Smartphone gezückt und befahl ebenfalls seinen Männern, noch einmal alles zu durchsuchen und vor allem auch wachsam Ausschau zu halten nach Harutaka Ishido.

Die beiden Männer erhoben sich in geschäftiger Eile von ihren Plätzen am Tisch.

»Du bleibst hier, bis wir mehr über die aktuelle Situation herausgefunden haben«, sagte Freiherr von Lausitz zu Max.

Max nickte.

Freiherr von Lausitz und Superintendent Yaramoto verließen die Suite.

Erst jetzt merkte Max, wie durstig und hungrig er war. Er ging zu dem Snackbüfett, das an der Wand für die Mitarbeiter aufgebaut war, öffnete eine kleine Flasche Coke und leerte sie mit einem Zug. Von dem Tablett daneben nahm er sich ein Roastbeef-Sandwich und schlang es in gierigen großen Bissen runter.

In dem Moment fühlte es sich an, als wäre es das Beste, was er je in seinem Leben gegessen hatte. Er aß ein zweites und trank noch eine Flasche Coke. Dann rülpste er aus vollem Hals. Lang und laut.

»Hmmm, lecker«, sagte eine Stimme hinter ihm, und Max verschluckte sich an seinem eigenen Rülpser so hart, dass er husten musste.

Es war Vicky. Sie hatte die Suite durch die Tür in seinem Rücken betreten. Er war so mit Schlingen und Schlucken beschäftigt gewesen, dass er sie nicht bemerkt hatte.

»Entschuldigung«, sagte er, wischte sich schnell den Mund mit dem Handrücken ab und drehte sich dann erst zu ihr um. »Ich dachte, ich wäre allein.«

Sie lachte. »Das habe ich gehört. Laut und klar.«

Sie hatte zwei große Papiertüten in den Händen. »Ich habe dir, während man dich verhört hat, aus der Hotelboutique frische Klamotten besorgt.« Sie stellte die Tüten auf den Tisch.

»Danke«, sagte Max und bemerkte, dass ihr Lachen verschwand und abgelöst wurde von einem vorwurfsvollen Blick.

»Sag mal, hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was ich mir für Sorgen gemacht habe, Max?« Ihre Stimme war leiser als eben.

Max konnte den Schmerz, der darin mitklang, deutlich hören.

»Ich glaube schon«, antwortete er.

Vicky schüttelte den Kopf. Ganz langsam, und ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Nein, das glaube ich nicht, Max. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass du nicht die leiseste Ahnung davon hast. Sonst hättest du einen solch gefährlichen Stunt niemals abgezogen.«

Er wollte etwas erwidern, aber er spürte, dass sie noch nicht fertig war. Dass sie sich etwas von der Seele reden musste. Also wartete er.

»Weißt du«, fuhr Vicky fort. »Erst habe ich gedacht, du hättest dein Versprechen gebrochen und wärst einfach abgehauen. Und ich hätte es sogar – auch wenn es mich verletzt hätte, dass du so einfach dein Wort brichst – bedingt noch verstanden, wenn man in Betracht zieht, dass mein Vater dich immerhin in die Schweiz schicken wollte. Ich meine, wer will schon in ein Internat? Also, wie gesagt, ich hätte es bedingt verstanden. Aber dann …« Sie schluckte trocken. »Dann haben sich Dimitri und Tapa bei mir gemeldet und mich gefragt, ob ich wüsste, wo du bist. Sie haben mir erzählt, dass sie dir geholfen haben, Harutaka Ishidos Unterschlupf auszumachen und da einzudringen. Bist du eigentlich vollends von Sinnen, Max Ritter?«

»Vicky, bitte versteh doch«, sagte er. »Ich musste das tun.«

»Nein, Max!«, sagte sie scharf. »Was immer du dir einreden magst, das musstest du nicht! Das wolltest du! Das ist ein gewaltiger Unterschied! Und dann warst du plötzlich einfach verschwunden …« Sie stockte und schluckte ein zweites Mal.

Max sah, dass ihre wunderschönen blauen Augen feucht geworden waren.

»Wir dachten … ich dachte, Ishido hat dich erwischt … dachte, du wärst vielleicht sogar tot.« Tränen rollten ihr über die Wangen und verwischten ihre Augenschminke.

»Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren, Max. Und was auch immer du gerade gesagt hast: Ich bin sicher, du hast keine Ahnung, was das für ein verfluchtes Scheißgefühl ist.«

Max machte einen eiligen Schritt auf sie zu, um sie zu trösten. »Vicky!«

Doch sie machte einen zurück.

»Nicht«, sagte sie. »Fass mich nicht an. Versuch bloß nicht, mich zu trösten. Jetzt ist es ja nicht mehr da, dieses Scheißgefühl. Jetzt ist es nur noch eine Erinnerung. Jetzt weiß ich ja, dass du noch lebst … aber auch, dass dir dein Leben scheinbar nichts wert ist. Und dass dir die Menschen nichts wert sind, denen du etwas bedeutest. Sonst würdest du ihnen das nicht antun.«

Max wollte ihr sagen, dass sie sich irrte. Dass ihm seine Freunde sehr viel wert waren. Dass ganz besonders sie ihm viel wert war.

Aber ehe er das konnte, hatte Vicky auf dem Absatz kehrtgemacht und war aus der Suite gerannt.

Er kannte sie inzwischen gut genug, dass er wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihr jetzt nachzulaufen. Dass das alles im Moment nur noch schlimmer machen würde. Er ging also zum Tisch und packte die Papiertüten aus, um seiner Aufregung wenigstens ein wenig Herr zu werden.

Vicky hatte ihm frische Unterwäsche und Socken gebracht, Jeans, ein Paar Sketchers, ein T-Shirt und einen Hoodie.

Er wollte sich schnell umziehen, doch dann merkte er, dass er nach Hafenwasser und Schiffsdiesel stank. Also ging er ins Badezimmer der Suite und stieg unter die Dusche.

Max musste sich dreimal gründlich abseifen, bis er den Gestank endlich komplett von sich abgespült hatte. Anschließend frottierte er sich ab und schlüpfte in die neuen Klamotten.

Er schnürte sich gerade die Sketchers zu, als Vicky zurückkehrte. Ihre Augen waren ganz verweint.

»Frommholz’ Leute und die Tokioter Polizei haben die Durchsuchung des Veranstaltungssaals abgeschlossen«, sagte sie, und Max fiel auf, dass sie mit einer gewissen Hast sprach.

»Und?«

»Nichts«, antwortete sie. »Sie haben nichts gefunden. Nicht das geringste. Mein Vater ist natürlich heilfroh, aber gleichzeitig auch furchtbar wütend auf dich. Ich meine, er ist erleichtert, dass du dich geirrt hast und nirgends auch nur eine Spur von dem Nervengas oder auch Ishido zu finden ist, aber er ist stocksauer wegen dem Chaos, das du angerichtet hast. Er hat mit Superintendent Yaramoto gesprochen, und der ist bereit, auf eine Anklage aufgrund deiner zahlreichen Vergehen zu verzichten, wenn du gleich morgen früh in die Schweiz fliegst. Frommholz ist auf dem Weg hierher, dich abzuholen und dich bis zu deinem Abflug in der Botschaft unter Gewahrsam zu halten.«

»Ishido ist hier, Vicky!«, sagte Max bestimmt.

»Sie haben ihn nicht gefunden«, wiederholte sie.

»Dann haben sie nicht richtig gesucht.«

»Sie sind alle in höchster Alarmbereitschaft, Max. Das sind Profis. Wenn er hier ist, finden sie ihn. Du hast im Moment ganz andere Sorgen.«

»Was mit mir geschieht, spielt jetzt keine Rolle«, sagte er. »Ishido muss gestoppt werden.«

Er lief zur Tür. Vicky stellte sich ihm in den Weg.

»Du tust es schon wieder!«, sagte sie.

»Was?«

»Du setzt dein Leben aufs Spiel, ganz gleich, wie wir, die wir dich mögen, fühlen, wenn du es dabei verlierst.«

Er fasste sie bei den Schultern und sah sie eindringlich an.

»Vicky, du irrst dich«, sagte er. »Wenn ich mein Leben aufs Spiel setze, dann eben gerade für die, die mich mögen – und die ich mag. Denn, was glaubst du denn, wie ich mich fühlen würde, wenn euch … wenn dir etwas zustößt? Vor allem, wenn ich es hätte verhindern können.«

Damit schob er sie zur Seite und rannte nach draußen.