GEHEIMPROTOKOLL AvL/HI Eintrag 022

BETREFF: FEIER VON HARUTAKA ISHIDO

ORT: JAPAN, TOKIO

Kōkyo – Kaiserlicher Palast

Weiß der Teufel, wie er das anstellt, aber die Feier, die Harutaka Ishido heute Nacht gibt, findet tatsächlich im großen Saal des Kaiserlichen Palasts statt. Über vierhundert Gäste sind anwesend. Alles, was in Wirtschaft, Politik und vor allem bei der Yakuza Rang und Namen hat, ist hier vertreten. Mit Ausnahme der Yakuza-Mitglieder natürlich, die Ishido bei seinem Anschlag auf das Sakura Niwa Hotel getötet hat. Entsprechend nervös sind die heutigen Gäste. Man kann ihnen die Angst von den Gesichtern ablesen. Ishido hat also auch auf dieser Ebene erreicht, was er wollte.

Und ich habe ihm dabei geholfen. Mögen spätere Generationen darüber richten.

Der Saal ist unglaublich aufwendig in alter japanischer Tradition geschmückt. Die Gäste sind allesamt in Kimonos gewandet. Viele der Männer tragen Katanas und Tantos in ihren Gürteln. Ohne Ausnahme sind die Waffen Erbstücke ihrer Ahnen. Seit Jahrhunderten im Familienbesitz.

Auch ich trage zur Feier des Anlasses einen Kimono. Allerdings bin ich der einzige Nicht-Japaner. Blicke fixieren mich von allen Seiten. Manche verhohlen, die meisten jedoch ganz offen. Auch wenn niemand von ihnen weiß, wer ich bin, erkenne ich wiederum viele der Gesichter wieder, unter anderem Superintendent Yaramoto. Er steht schon seit seinen ganz frühen Dienstjahren auf der Lohnliste der Yakuza, wie ich weiß. So wie jetzt auch ich.

Auf der einen Seite des Saals spielen Musikerinnen mit Flöten, Streichinstrumenten und Trommeln Gagaku, klassische japanische Musik. Sie halten inne, als Harutaka Ishido die Bühne betritt.

Er ist prachtvoll gekleidet – in der Kriegsrüstung eines Shogun. Zu einem formellen Anlass wie diesem ist das in japanischen Augen ein klarer Stilbruch, ein absoluter Affront gegen die gesellschaftlichen Regeln. Zugleich ist es natürlich eine klare Herausforderung, eine Kampfansage. Ishido stellt damit auch ganz ohne Worte klar, dass jetzt er das Sagen hat. Dass er in Zukunft die Regeln bestimmt. Gleichzeitig bringt er seine Verbundenheit zu den alten Werten des Landes zum Ausdruck. Ein geschickter Schachzug.

Als wäre er ganz allein im Raum, postiert er sich jetzt auf das Podest der Bühne – die Füße weit auseinandergestellt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt – und lässt den Blick über die Menge der geladenen Gäste schweifen. Sein Gesicht ist ernst, fast finster. Er hat die Brandnarben, die er sich bei dem Kampf mit dem Jungen Max Ritter zugezogen hat, nicht überschminkt. Meiner Einschätzung nach trägt er sie offen, um sich entweder daran zu erinnern, dass er mit dem Jungen noch eine Rechnung zu begleichen hat, oder um dem anwesenden Publikum zu demonstrieren, dass er einen teuren Preis dafür bezahlt hat, heute hier über ihnen zu stehen. Vielleicht auch beides.

Mit jeder Sekunde, die vergeht, werden die Gäste leiser – bis sie endlich ganz verstummen. Harutaka Ishido hat jetzt ihre volle Aufmerksamkeit.

Erst als es ganz still ist, deutet er eine knappe Verbeugung an. Jeder einzelne Gast im Raum erwidert sie – doch um einiges tiefer als er. Ishido nimmt das mit einem kleinen Lächeln zufrieden zur Kenntnis. Dann beginnt er zu reden.

Zum ersten Mal nach über vierhundert Jahren vereinen sich endlich die drei größten Syndikate der Yakuza zu einer einzigen, machtvollen Organisation.

Yamaguchi-gumi, Sumiyoshi-kai und Inagawa-kai. Viel zu lange haben wir im Zwist gelebt, getrennt durch die Eitelkeiten unserer Anführer. Weil sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben. Weil sie nicht begriffen haben, dass das Geheimnis für eine erfolgreiche Zukunft in unserer Vergangenheit liegt. In unserer Einheit!

Jetzt sind sie tot, diese Anführer. Gerichtet von meiner Hand. Mein Herz ist voller Trauer deshalb. Wie die meisten von Ihnen, die mir heute Nacht hier die Ehre geben, wissen, habe ich jahrelang versucht, eine andere Lösung zu finden, ihnen den richtigen Weg zu zeigen. Sie wollten nicht hören und hatten einen Kurs eingeschlagen, der uns alle ins Verderben geführt hätte.

Sie wollten Krieg! Das an sich ist nicht verwerflich. Wir alle sind im Feuer des Krieges geboren und leben für den Kampf. Aber unsere alten Anführer wollten einen Krieg gegen das eigene Volk, statt gegen die Welt. Das eigene Volk! Das konnte ich nicht zulassen. Daher hatte ich keine Alternative, als sie auszuschalten.

Doch ihr Blut ist nicht umsonst vergossen. Es ist der Preis für den heutigen Tag. Der Preis für eine goldene Zukunft! Eine Zukunft unter meiner Führung!

In diesem Moment bricht das Publikum in Applaus aus. Mich wundert, wie schnell sie Ishido zu verzeihen scheinen, dass er ihre Freunde, Väter und Mütter, Brüder und Schwestern und Söhne und Töchter getötet hat, aber so ist es nun einmal, das Spiel der Macht. Jeder der hier Anwesenden weiß, dass er als nächstes auf Ishidos Todesliste kommt, wenn er dieses Spiel nicht mitspielt.

Ishido wartet, bis der Applaus verklungen ist, ehe er auf drei Männer nahe bei ihm zeigt und weiterspricht.

Schwört ihr, bei den Leben eurer Familien, beim Blute eurer Clans, mich, Harutaka Ishido, als euren obersten Herren und Befehlshaber, als euren Kumicho, anzuerkennen?

Die drei Männer leisten den Schwur im Chor. Ishido hat sie die Worte mit Sicherheit vorher einstudieren lassen. Ishido nickt zufrieden, während eine Geisha herumgeht und die drei Sake aus einer Schale trinken lässt. Nachdem sie das getan haben, bringt sie die Schale nach oben auf die Bühne zu Ishido, und auch er trinkt davon. Dann schickt er die drei Männer mit einer knappen Geste zurück in die Menge, um gleich darauf mit seiner Ansprache fortzufahren.

Erneut bricht das Publikum in Applaus aus. Er unterbricht ihn mit einer schnellen Bewegung seiner Faust.

Er zeigt auf mich und ich trete an die Bühne heran. Doch Ishido winkt mich nach oben zu sich. Es geht ein Raunen durch die Menge, aber ich ignoriere es und folge Ishidos Einladung. Als ich vor ihm stehe, streckt er mir die Hand entgegen.

Diesmal ist der Applaus verhaltener, aber als Ishido einen herausfordernden Blick in die Menge wirft, schwillt er allmählich an und ist am Ende dann doch tosend.

Chefberater von Harutaka Ishido. Das war die Bedingung, die ich gestellt hatte, dafür, dass ich ihm das Sarin besorge.

Ich verbeuge mich tief vor Ishido.

Der erste Teil meiner Mission ist erfüllt.