KAPITEL 27

SILBERSTREIFEN AM HORIZONT

DER ZOO

Der Tiger hockte aufrecht und stolz auf dem oberen Felsen seines Geheges und schaute gelassen auf Max herab, als er an den Zaun herantrat und sich im Schneidersitz niederließ. Er hatte nicht schlafen können. Albträume von den Todesschreien hatten ihn immer wieder geweckt, also hatte er sich entschieden, sich aus der Botschaft zu schleichen und Shogun einen Besuch abzustatten.

»Ich werde Tokio doch nicht verlassen, Shogun«, sagte er und der Tiger nickte, als wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass er sich das schon gedacht hatte.

»Es gibt hier noch zu viel zu erledigen«, fügte Max hinzu. »Ich muss mit Harutaka Ishido abrechnen. Und mit meinem Vater.«

Der Tiger richtete sich auf seine mächtigen Tatzen auf, sprang mit geschmeidigen Bewegungen die Felsen nach unten und kam an den Rand des Grabens, der das Gehege vom Zaun trennte. Er sah Max eindringlich an.

»Ja, ich habe mir das gut überlegt«, beantwortete Max die nicht ausgesprochene Frage. »Oder vielleicht auch nicht«, räumte er ein. »Aber es gibt einfach keine Alternative, verstehst du?«

Der Tiger gab ein leises, aber zustimmendes Grunzen von sich.

»Wie ich das anstellen will?«, fragte Max. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Nun, vielleicht könnte ich dir dabei ja behilflich sein.«

Max zuckte zusammen. Im ersten Moment dachte er, es wäre der Tiger, der gesprochen hatte – was natürlich vollkommener Unsinn war –, aber dann merkte er, dass die Stimme nicht aus dem Gehege kam, sondern von hinter ihm.

Max kannte die Stimme nur allzu gut, weshalb er nach dem ersten Schreck nicht gleich herumwirbelte, sondern langsam aus dem Schneidersitz aufstand, sich umdrehte und sich verbeugte.

»Meister Chao Wong«, begrüßte er den alten Chinesen ehrerbietig und zugleich verwundert. »Was tun Sie hier?«

»Mit dir reden«, antwortete sein Lehrmeister.

»Wie haben Sie mich hier gefunden?«

»Ich habe es mir in den vergangenen vier Monaten, die du inzwischen in meiner Obhut bist, zur Gewohnheit gemacht, dich näher zu beobachten.«

Max stieß ein ungehaltenes Schnaufen aus. »Noch jemand, der meint, mich beschützen zu müssen?«

Meister Chao Wong schüttelte den Kopf. »Mitnichten, Max Ritter. Schon seit unserer ersten Begegnung im Dojo weiß ich, dass du dazu ganz allein in der Lage bist.«

»Weshalb beobachten Sie mich dann?«

»Weil du etwas Besonderes bist«, antwortete Meister Chao Wong.

»Ich?«

»Ja, du. Du bist ein großer Krieger. Mit einem noch größeren Herzen.«

»Wenn ich das bin, dann nur dank Ihres Trainings, Meister.«

Chao Wong schüttelte wieder den Kopf. »Nein, ein großer Krieger ist man oder ist man nicht. Ein Krieger zu sein, hat mit Entschlossenheit zu tun. Vor allem mit der Entschlossenheit, nicht aufzugeben, ganz gleich wie hart und unerbittlich der Widerstand auch sein mag. Das steckt in dir, Max Ritter, das habe ich dich nicht gelehrt. Alles, was ich dir bisher geben konnte, war das nötige Handwerkszeug, diesen Widerständen zu trotzen. Aber das ist jetzt nicht mehr genug.«

»Was meinen Sie?«

»Du willst nicht länger nur Widerständen trotzen. Du willst zum Gegenangriff übergehen.«

Max nickte. »Ich sehe keinen anderen Weg.«

»Vermutlich gibt es auch keinen«, sagte Meister Chao Wong und wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Außer natürlich, den Kopf in den Sand zu stecken und zu hoffen, dass sich die Dinge von selbst erledigen. Aber das tun sie nicht. Das tun sie nie.«

»Sie halten es nicht für verrückt, dass ich mir vorgenommen habe, Harutaka Ishido das Handwerk zu legen?«

Meister Chao Wong wiegte den Kopf hin und her. »Es spielt gar keine Rolle, ob es verrückt ist oder nicht. Es ist notwendig. Dringend notwendig. Nicht nur, um Rache zu üben für die Morde, die er begangen hat, oder um dein eigenes Leben zu schützen. Es geht um sehr viel mehr Leben, die geschützt werden müssen. Und ich glaube, dass du das kannst. Oder vielmehr glaube ich daran, dass, wenn es jemand kann, du derjenige bist.«

»Wieso?«

»Weil du keine Angst vor ihm hast. Das hast du unter Beweis gestellt.«

»Sie glauben also wirklich, dass ich eine Chance hätte?«

»Nicht im Alleingang und nicht ohne Ressourcen.«

TOKIO – HAFEN

Die Dschunke war alt, aber gut erhalten. Das Schiff hatte zwei Masten mit den typischen Lattensegeln, die das Tuch, wenn es offen war, aussehen ließ wie weit gespreizte Fledermausflügel. Die Dschunke lag im Fischerhafen vor Tau. Sie war über zwanzig Meter lang und beinahe halb so breit. Ihr Holzaufbau sah aus wie ein kleiner langgestreckter Bungalow mit großen eckigen Fenstern und einem Flachdach. Oben auf dem Flachdach saß Max im Schneidersitz und blickte nach Osten über die See hinweg zum Horizont, wo ein schmaler silbriger Streifen gleich unterhalb des Nachthimmels verriet, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Sonne aufging.

Max hörte Schritte auf der Planke, die von der Hafenmauer an Deck führte. Es waren die Schritte zweier Personen, und er konnte sie deutlich am Klang unterscheiden, ohne sich zu ihnen umzudrehen. Das eine Paar Füße ging schnell und energisch und brauchte mehr Schritte als das andere Paar, das deutlich schlurfte. Vicky schien trotz der frühen Stunde hellwach, während Ricky wohl noch ein bisschen verschlafen war.

Max griff nach der Teekanne, die auf einem Stövchen neben ihm stand, und schenkte daraus zwei Schalen voll.

»Kommt, setzt euch zu mir«, bat er die Zwillingsgeschwister.

Vicky setzte sich neben ihn und nahm eine der Teeschalen. »Was hat dich denn geritten, uns so früh hierherzubitten?«

»Ja, Mann! Hast du eigentlich mal auf die Uhr geguckt?« Ricky gähnte und ließ sich auf den Boden plumpsen. »Was hast du vor? Und was ist das für ein Boot?«

»Verrate ich euch alles gleich«, sagte Max, »wenn auch Dimitri und Tapa hier sind. Jetzt trinkt erst mal euren Tee und schaut euch mit mir zusammen diesen wunderbaren Sonnenaufgang an.«

Das taten sie dann auch. Sie saßen schweigend nebeneinander und sahen der Sonne beim Aufgehen zu. Sie war gerade zur Hälfte über den jetzt rotgold schimmernden Horizont geklettert, als Dimitri und Tapa ankamen.

Max schenkte auch ihnen eine Schale Tee ein und bat sie, Platz zu nehmen.

»Ich will euch danken«, begann er schließlich. »Für eure Hilfe in den vergangenen Tagen. Dafür, dass ihr mir in meinem Kampf zur Seite gestanden habt.«

»Das war doch selbstverständlich«, sagte Tapa.

»Jederzeit wieder«, fügte Dimitri hinzu und schüttelte ungläubig den Kopf. »Deshalb hast du uns um diese unchristliche Zeit hierherbestellt?«

»Nicht nur«, gab Max zu. »Aber auf jeden Fall auch. Ich möchte, dass ihr wisst, wie sehr ich zu schätzen weiß, was ihr für mich getan habt. Dass es mich ehrt, dass ihr meine Freunde seid. Die besten, die sich ein Mensch nur wünschen kann.«

»Die Ehre ist ganz auf unserer Seite«, sagte Dimitri. »Aber jetzt mach es nicht so spannend. Was ist der andere Grund, aus dem du uns hierhergebeten hast?«

»Ihr wisst alle, was passiert ist«, erwiderte Max, »und auch, dass ich geschworen habe, Harutaka Ishido zur Strecke zu bringen.«

Die vier nickten.

»Aber alleine schaffe ich das nicht«, fuhr Max fort.

»Musst du auch nicht«, sagte Vicky. »Wir sind für dich da.«

»Darauf kannst du dich verlassen«, stimmte Ricky zu.

»Klar«, schloss Tapa sich an. »Was auch immer du brauchst, Max.«

»Wir ruhen erst, wenn wir den Mistkerl erledigt haben«, sagte Dimitri. »Wir sind doch ein Team! Kommt, steht alle auf!«

Sie folgten seiner Bitte. Dimitri streckte die Hand nach vorn. »Lasst es uns schwören! Wie die Musketiere: ›Einer für alle, und alle für einen!‹«

Max legte seine Hand auf die von Dimitri. »Einer für alle, und alle für einen!«

Vicky folgte seinem Beispiel. Dann Tapa, dann Ricky.

»Einer für alle, und alle für einen!«

»Ihr seid die Größten!«, sagte Max begeistert. »Und jetzt will ich euch was zeigen. Kommt mit.«

Er führte sie in das Innere des Bootsaufbaus zum Steuerhaus.

»Wahnsinn!«, stieß Dimitri hervor, als er die hochmoderne Anlage neben dem Steuerruder sah. »Ist die Dschunke etwa motorisiert?«

»Ja«, bestätigte Max. »Zwei separate MAN i6-800-Module mit insgesamt 1600 PS. Aber das ist gar nicht, was ich euch zeigen will.« Er öffnete eine Luke im Boden und kletterte nach unten.

Die anderen folgten ihm, und als sie sahen, wohin Max sie geführt hatte, standen ihnen die Münder vor Staunen offen.

»Das ist unsere Ausrüstungskammer«, präsentierte Max voller Stolz. An den Wänden hingen Katanas und Wakizashis, Army-Tomahawks, Messer und Dolche und noch jede Menge anderer Waffen. Daneben kugelsichere Westen, Nachtsicht- und Funkgeräte und allerlei Werkzeuge.

»Wahnsinn!«, hauchte Ricky, während Tapa bereits begonnen hatte, die Notebooks, Tablets und Smartphones unter die Lupe zu nehmen.

»Das ist ja alles State-of-the-Art-Equipment!«, sagte sie voller Begeisterung.

»Das Beste vom Besten«, bestätigte Max. »Warte erst mal, bis ich dir die Kommandozentrale zeige, Tapa.«

Tapa quiekte vor Entzücken. »Es gibt eine echte Kommandozentrale?«

»Klar«, sagte Max. »Dein neuer Adlerhorst.«

Sie klatschte vergnügt in die Hände. »Ich habe einen echten Adlerhorst!«

»Sag mal, wo hast du das alles her?«, fragte Vicky.

»Von Meister Chao Wong«, erklärte Max. »Es ist sein Boot. Und er stellt es uns mit der gesamten Ausrüstung für den Kampf gegen Harutaka Ishido zur Verfügung.«

»Wow!«, sagte Dimitri. Dann nickte er mit für ihn ungewohnt ernstem Gesicht. »Jetzt brauchen wir nur noch einen Namen für unser Team.«

»Ich habe einen«, sagte Max.

»Rück raus!«

»Wir haben eine Mission, aber keine offizielle Befugnis. Wir müssen deshalb in den Schatten bleiben – und selbst zu Schatten werden, wenn wir gegen eine mächtige Organisation wie die Yakuza eine Chance haben wollen. Daher schlage ich vor, dass wir uns Shadow Agents, also Schattenagenten, nennen!«

»Shadow Agents klingt gut«, meinte Vicky. »Verdammt gut sogar.«

»Wunderbar«, sagte Dimitri. »Dann sind wir ab heute die Shadow Agents!«

Max betrachtete seine Freunde, und sein Herz füllte sich mit der Zuversicht, dass ihre Chancen, den bevorstehenden Kampf zu gewinnen, vielleicht gar nicht mal so schlecht waren.