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ADAM

Ich lächle, während ich wieder auf den Heimtrainer steige. Holly Michaelson, Evans kleine Schwester, ist erwachsen geworden. Und sie ist süß.

Sie war damals schon süß gewesen, aber nicht so, wie ich sie wahrgenommen hatte. Sie war jünger als wir und kam nicht in Frage. Nicht so wie jetzt. Nicht so wie … nein. Evan und ich haben zwar seit über einem Jahrzehnt nicht mehr miteinander gesprochen, aber sie ist immer noch seine kleine Schwester.

Aber sie hat meine Brust beäugt. Das war mir nicht entgangen.

»Adam?«

»Jep«, sage ich zu meinem Assistenten. Duncan ist über Hunderte Kilometer entfernt mit meinen Kopfhörern verbunden. »Ich bin wieder da.«

»Es geht um den Terminplan für Februar.«

»Ich weiß. Fahr fort.«

Aber als er mit mir die Termine und Angebote für das nächste Jahr durchgeht und ich wieder in die Pedale trete, wandern meine Gedanken zurück zu Holly.

Ich hätte nicht gedacht, dass sie Ja sagen würde. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass sie mir den Scheck zurückgeben würde. Was hat mich nur geritten, ihn ihr zu geben? Vielleicht wollte ich nur sehen, ob sie ihn annehmen würde. Um den Einsatz zu erhöhen. Sie herauszufordern, so wie sie mich herausgefordert hat. Und vielleicht, nur vielleicht, wollte ich eine Ausrede haben, um Zeit mit ihr zu verbringen.

Ich beende meine Besprechung und gehe duschen. Gerade habe ich mich angezogen, als es an der Tür klingelt. »Komme schon!«

Draußen steht Holly. Sie trägt einen viel zu großen Wintermantel und hat ihr blondes Haar unter eine beige Mütze gestopft. Ihre Arme sind voller Kartons.

»Das hier wirst du bereuen«, sagt sie.

Ich öffne die Tür weiter. »Komm rein. Ist das da ein Rentier auf dem Karton?«

»Ja. Du weißt schon, dass du mir mit dem Scheck einen Freibrief ausgestellt hast?«

»Das war mir klar.« Ich sehe nach draußen zu ihrem Wagen. »Wie viel davon gibt es noch?«

»Oh, der Kofferraum ist voll.«

»Holly«, stöhne ich. Ihr Name liegt süß auf meiner Zunge.

Sie stellt die Pakete im Flur ab. Ich ziehe meine Boots an und mache mich auf den Weg zum Auto. Zwei Runden später stehen alle ihre Einkäufe in meinem Flur, direkt neben den Umzugskartons. »Du hast dich ganz schön ins Zeug gelegt«, sage ich. Die Kartons sind mit ekelhaft fröhlichen Illustrationen versehen. Jede Menge Weihnachtsbäume, Weihnachtsmänner und lächelnde, glückliche Familien. Alle sollen glauben, dass Kommerz der Schlüssel zum Glück ist.

»Ja. Hätte ich vielleicht nicht tun sollen. Aber«, Holly dreht sich mit einem tadelnden Glitzern in den Augen zu mir um, »du hast mich ja losgeschickt, um deine Besorgungen zu machen.«

»Ich fand, du brauchtest eine Pause. Sag mir, dass es dir keinen Spaß gemacht hat, diese unverschämte Summe für Weihnachtsdeko auszugeben.«

Sie hält mit dem Rücken zu mir inne, den Blick auf die Pakete gerichtet. »Okay, in Ordnung. Ich habe es genossen. Ich glaube, ich liebe Weihnachten so sehr, wie du es hasst.«

»Dann musst du es wirklich sehr lieben.« Blonde Strähnen haben sich aus ihrem Zopf gelöst und kräuseln sich flaumig in ihrem Nacken. Ihr Pullover ist riesig, rot und flauschig. Es wirkt niedlich. Alles an ihr ist niedlich, so wie sie schon mit vierzehn war … Evans Schwester, die jedes Mal rot wurde, wenn ich mit ihr redete.

Aber jetzt wird sie nicht mehr rot.

»Also?«, fragt sie und dreht sich zu mir um. »Sollen wir?«

Die nächste Stunde ist eine Geduldsprobe für mich. Es gibt unzählige Kabel, und ich stelle schnell fest, dass Holly zwar ein kreatives Auge hat, aber nicht gut in Elektrotechnik ist.

»Ich sollte mir eine Schalttafel besorgen«, murmele ich im Flur. »Das kann man unmöglich alles nachts wieder ausstöpseln.«

»Musst du das denn?«

»Ja. Denk nur an die Stromrechnung. Oder die Lichtverschmutzung.«

Sie steht auf einer Leiter, die sie aus der Garage ihres Vaters ausgegraben hat, und hängt Lichterketten am Balkon der zweiten Etage auf. In ihrer Stimme liegt ein Lächeln. »Gott, ja. Die Lichtverschmutzung!«

»Das ist ein ernsthaftes Problem.«

»Klar.« Sie greift nach oben, und trotz ihrer dicken Jacke ist ein Stückchen Haut über dem Rand ihrer Jeans zu erkennen. »Gib mir mal die Rolle mit den Lichterketten.«

Ich reiche sie ihr hoch. Meine Hände werden langsam steif von der Kälte. »Danke für deine Hilfe, aber du musst es mir sagen, wenn ich dich von irgendwas Wichtigem abhalte. Vielleicht arbeitest du gerade schwer gegen irgendeine Abgabefrist an. Bei welcher Zeitung bist du?«

Sie schnaubt. »Ich glaube, es als Zeitung zu bezeichnen, wäre ein bisschen übertrieben.«

»Ach ja? Warte, wir müssen die Leiter umstellen. Komm runter.«

Holly rutscht herunter und landet mit einem leisen Knirschen im Schnee. Der obere Teil ihres Kopfs, einschließlich der Bommel an ihrer Mütze, reicht mir bis zum Kinn. Ich stelle die Leiter für sie um und halte sie fest.

»Also?«, frage ich. »Deine Zeitung ist nicht wirklich eine Zeitung?«

Sie klettert hoch. »Nein. Es ist eine Internetpublikation.«

»Eine Internetpublikation.«

»Eigentlich ist es nur eine Website. Ich schreibe und recherchiere über Blog-Beiträge.«

»Ach so.«

»Aber keine Sorge. Nur noch ein paar Beiträge über Pickel ausdrücken und Astrologie, und ich stehe kurz vor dem Pulitzer-Preis. Mehr Lichter?«

»Viele sind nicht mehr übrig.«

Sie heftet das Ende der Lichterkette an das Haus, direkt über den unteren Fenstern. »Vielleicht hätte ich mehr kaufen sollen.«

»Nein.«

Holly lacht. »Verstehe. Natürlich nicht. Aber keine Sorge, Mr. Scrooge, ich habe auch was für deinen Vorgarten besorgt.«

»Das habe ich gesehen.«

»Du klingst ja so begeistert.« Sie klettert die Leiter herunter und landet mit einem breiten Grinsen im Gesicht vor mir. »Ich habe eine Rentierfamilie gekauft.«

»Aha.«

»Einschließlich eines kleinen Kitzes.«

Ich stöhne auf und sie lacht wieder. »Das wird niedlich aussehen. Komm schon, packen wir sie aus.«

Ich folge ihr in meinen mit Kartons vollgestellten Flur. »Blödes Rentier.«

»War nicht ein Rentier das Logo vom Laden deines Dads?«, fragt sie, ohne mich anzusehen, und beugt sich vor, um das Kitz hochzuheben.

Ich mustere sie einen Moment lang. »Ja.«

Aber das Letzte, worüber ich sprechen möchte, ist mein Vater und sein Weihnachtsgeschäft. Die eine Sache, auf die er das ganze Jahr über hingearbeitet hat und der Grund dafür, dass er nie zu Hause war, wenn die Feiertage kamen. Er hat ein Vermögen an armen Schluckern verdient, die dachten, dass Weihnachten ohne glänzendes Geschenkpapier und aufblasbare Weihnachtsmänner auf ihren Dächern kein Weihnachten wäre.

Holly läuft an mir vorbei. »Adam?«

»Ja. Komme.« Ich hebe das große Rentier an und zerre es hinter ihr aus der Tür. Ein kurzer Blick in die Maple Lane zeigt mir, dass alles so ruhig ist wie immer. Niemand ist hier, um meine Schande zu bezeugen.

Holly ist effektiv und redet gern. Ich höre ihrem fröhlichen, nervenaufreibenden Geplapper zu, während wir die Tierfamilie in meinem Vorgarten aufstellen. Sie bestehen aus Plastik, Metall und Lichtern und wirken völlig leblos.

»Na also!«, sagt sie. »Das wird beleuchtet toll aussehen.«

»Ich nehme dich beim Wort.« Ich zupfe an meinem Hemdkragen herum. »Es ist eiskalt hier draußen. Komm, lass uns reingehen. Ich habe dir Essen versprochen.«

Sie schenkt mir ein schiefes, halbseitiges Lächeln. »Stimmt, hast du.«

»Ich kann Evans kleine Schwester doch nicht verhungern lassen.«

Ich schließe die Haustür hinter ihr und ziehe meine Jacke aus. Ich bin schon halb in der Küche, als ich merke, dass sie ihre Jacke noch nicht ausgezogen hat. Sie steht im Flur und hat die Hände verschränkt.

»Holly?«

»Ja. Hör mal, du musst mich nicht zum Essen einladen. Falls du das vorhin nur gesagt hast, um höflich zu sein. Ich bin sicher, du hast wahnsinnig viel zu tun.«

Ich schüttele den Kopf. »Sei nicht albern. Komm schon. Magst du Chinesisch?«

Sie nickt und beginnt langsam, ihre riesigen Schneestiefel aufzuschnüren. »Ja.«

»Gut. Es gibt hier einen Laden mit Lieferdienst.«

»Den einzigen in Fairhill«, erwidert sie. »Dennis wird uns das Essen bringen.«

Ich schnappe mir die Speisekarte. »Ja. Wahrscheinlich bin ich sein bester Kunde.«

Sie tritt hinter mir in die Küche. Enge Jeans schmiegen sich unter dem riesigen roten Pullover um ihre Beine. Ihre Wangen sind von der Kälte gerötet. »Wow.«

»Wow?«

»Du hast dich wirklich noch nicht eingerichtet.«

Ich sehe mich in meiner Küche um. Sie hat das Nötigste, aber sie ist kein Zuhause. Ein kurzer Anflug von Verlegenheit durchzuckt mich, als ich es mit ihren Augen sehe. Die kleine Holly Michaelson, die immer große Träume und die Augen einer Romantikerin hatte. »Nein, wohl nicht.«

Sie lehnt sich an die Arbeitsplatte. »Ich nehme das Moo Shu mit Schwein.«

Ich nicke und sehe mir die Speisekarte an. »Ich bestelle uns auch ein paar Krabbenchips und als Beilage ein Wokgericht.«

»Danke.«

»Das Wenigste, was ich tun kann. Du hast mich wahrscheinlich davor bewahrt, dass die Damen des Maple Lane Buchclubs mit Heugabeln vor meiner Haustür auftauchen.«

Holly sieht mir lächelnd in die Augen. »Du kommst mir nicht vor wie jemand, dem das was ausmachen würde.«

»Nicht? Tja, dann wollte ich wohl deine Gesellschaft.«

Meine Worte sind gewagt. Sie hängen zwischen uns in der Luft wie ein unerwartetes Angebot. Ich nehme nichts zurück. Es stimmt ja.

Sie lächelt. »Tja, in dem Fall will ich auch noch eine Pepsi Max.«

»Kommt sofort.«

Zwanzig Minuten später verabschiedet sich Dennis mit einem ansehnlichen Trinkgeld, und ich trage eine himmlisch duftende Tüte in die Küche. Holly sitzt mit einer Zeitung im Schneidersitz neben meiner Couch.

Über ihren Kopf hinweg kann ich sehen, welche Seite sie gerade liest.

Verdammt.

»Das Essen ist da«, sage ich.

Sie dreht den Kopf. Ein Lächeln erhellt ihr Gesicht. »Der Chicago Tribune hat einen Artikel über dich geschrieben?«

»Ja, scheint so.«

»Wie hast du die Zeitung hier bekommen?«

»Mein Assistent hat sie mir geschickt.« Ich packe das Essen auf dem Tresen aus. Der Artikel, den sie liest, ist nicht schlecht. Er wurde vor dem Druck geprüft und doppelt kontrolliert. Aber es ist schon seltsam, diesen Teil meines Lebens in ihren Händen zu sehen, in dem die Vergangenheit auf die Gegenwart trifft.

In dem wer ich war und wer ich bin aufeinander prallen.

»Fairhills Goldkind«, sagt sie. »Jeder hier ist so stolz auf dich. Aber ich bin sicher, das weißt du.«

»Kam mir nicht so vor, als ich hier wegmusste«, murmele ich.

Holly wirft mir einen Blick zu. »Oh. Tut mir leid.«

Ich schüttele den Kopf. »Egal. Komm schon, das Essen wird kalt.«

Sie legt die Zeitung weg und setzt sich zu mir an den Küchentisch. Die Ärmel ihres riesigen Pullovers verdecken die Hälfte ihrer Hände, und sie muss sie vor dem Essen hochkrempeln.

»Was mich angeht«, sagt sie, »ich wollte nie, dass du und deine Familie wegziehen. Damals. Als das alles passiert ist, meine ich.«

Ich blicke auf meinen Nudelmix. »Tja. Danke, Holly.«

Eine Minute lang essen wir schweigend. Sie durchbricht die Stille mit aufmunternder Stimme. »Ich habe gelesen, dass du die Hälfte deiner Firma verkauft hast. Wie kommt’s?«

Damit kenne ich mich aus. Ich kann Börsengänge und Investitionen erklären und das Gefühl, gefangen zu sein, obwohl ich der Einzige bin, der das Sagen hat. »Wireout ist seit über einem Jahrzehnt mein Leben. Ich habe dafür mein Studium abgebrochen. Jetzt will ich mehr Freiheit. Und eine gesündere Beziehung zu meiner Firma.«

Holly stützt den Kopf in die Hand und sieht mich mit ihren blauen Augen nachdenklich an. »Das ergibt Sinn für mich.«

»Ach wirklich?«

Sie nickt. »In dem Artikel, den ich gerade gelesen habe, sagtest du, du hättest früher neunzig Stunden pro Woche gearbeitet. Ich glaube, das ist für niemanden gesund.«

Ich zucke mit den Schultern. »Damals war es unumgänglich.«

»Wo bist du jetzt angekommen? Bei sechzig?« Sie lächelt und ihre Augen blitzen. »Fünfzig?«

»Ich verweigere die Aussage. Aber ja, ich bin jetzt bei einem vernünftigeren Pensum.«

»Hast du vorhin wirklich gearbeitet? Als du … äh.« Ihr Blick fällt auf meine Brust.

Mein Lächeln wird breiter. »Ja. Ich nehme oft an Besprechungen teil, wenn ich auf dem Heimtrainer bin. Wieso nicht?«

»Verstehe. Na ja, ich schreibe oft im Pyjama. Ist fast genauso beeindruckend.«

Ich stelle mir Holly vor, wie sie mit offenen Haaren und nur in einem Hemdchen vor ihrem Computer sitzt. »Klar. Auf jeden Fall.«

»Du magst also Weihnachten nicht«, sagt sie und blickt auf ihre fast leere Schachtel. »Adam, wieso hast du dann dieses Haus gekauft? Du weißt doch, wie es in dieser Stadt zugehen kann.«

Ich stöhne auf. »Ein taktischer Fehler meinerseits.«

»Du weißt schon, dass es nur noch schlimmer wird. In zwei Wochen ist Weihnachten.«

»Ich weiß.«

»Der Weihnachtsmarkt ist in vollem Gange. Die Pferdekutschen fahren schon, meine Mutter und ich waren gestern bei der Zeremonie, als der Weihnachtsbaum eingeschaltet wurde, und es gibt …«

»Ich weiß. Ich muss noch herausfinden, wie ich dem Ganzen entgehen kann.«

Hollys Lächeln wird schief. »Es ist die beste Zeit des Jahres.«

»Es ist die stressigste, chaotischste und kommerziellste Zeit des Jahres.«

»Oh, Adam. Nicht.«

Ich zucke wieder mit den Schultern. »Tut mir nicht leid.«

»Aber es ist auch die beste, gemütlichste und herzerwärmendste Zeit.«

Ihr Blick ist ernst, verschmitzt und warm. Als würde sie mich wirklich sehen und nicht versuchen, mich einzuschätzen oder ihre Worte sorgfältig abzuwägen. In ihrem Blick ist keine verhaltene Strategie zu erkennen.

»Dann musst du mir das zeigen«, höre ich mich selbst sagen.

»Das schaffe ich.«

»Freitagabend. Hast du schon Pläne?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein.«

»Wir gehen auf den Weihnachtsmarkt. Sehen wir mal, ob du mich umstimmen kannst.«