Ich wache bei grellem Tageslicht auf. Ohne Vorhänge ist das Wohnzimmer so hell, dass ich mir die Augen zuhalten möchte. Außerdem ist es kalt, und meine Nasenspitze über dem Rand der Bettdecke ist eiskalt.
Die Matratze neben mir ist leer. Aber Adam muss gerade erst aufgestanden sein, denn ich habe ihn die ganze Nacht über gespürt. Dicht aneinandergeschmiegt auf seiner Matratze zu liegen war nicht gerade schlaffördernd, aber gemütlich und bequem, und es hat mir nicht das Geringste ausgemacht. Ihn hinter mir zu haben oder um mich herum, seinen Arm über mir, war das Erholsamste, was ich seit Wochen erlebt habe.
Etwas Kaltes, Feuchtes leckt mir über die Wange. Lachend schiebe ich Winston von mir. Unter seinen dichten Schnauzer-Augenbrauen blickt er mich mit seinen dunklen Hundeaugen an.
»Guten Morgen. Gut geschlafen?«
Er springt auf die Matratze und rollt sich dort zu einem Ball zusammen, wo Adam gelegen hat. Mit einem siegreichen Seufzer schließt er die Augen, zu süß für Worte. Ich lasse ihn gewähren und krame nach meinem Unterhemd und dem Höschen. Dann lege ich mir eine Decke um und mache mich auf die Suche nach Adam.
Ich finde ihn in der Küche. Sein Haar ist zerzaust, und er trägt denselben Pullover wie gestern. Am Ohr hat er sein Handy. Seine Augen leuchten auf, als er mich sieht. »Guten Morgen.«
»Morgen.«
»Gut geschlafen?«
Ich nicke. »Ja. Mir war schön warm.«
»Mir auch.« Er blickt hinunter auf meine nackten Beine, und sein Lächeln wird breiter. »Ich versuche, unsere Lage zu sondieren«, sagt er und wedelt leicht mit seinem Handy.
»Unsere Lage?«
»Wegen des Stromausfalls. Wenigstens sind die Schneepflüge auf dem Weg hierher. Bis Mittag solltest du es bis zu dir nach Hause schaffen.«
»Meine Eltern!« Ich greife nach meinem Telefon, das ich auf dem Küchentisch vergessen habe. Sie haben mir so einige Nachrichten hinterlassen. Ich antworte und sage ihnen, dass es mir gut geht und sie sich keine Sorgen machen sollen. Fahrt vorsichtig, schreibe ich, denn Gott weiß, wie viel Schnee auf den Straßen zwischen Fairhill und Loncaster liegt.
In einem seiner Schränke findet Adam einen Topf und füllt ihn mit Wasser. »Möchtest du Kaffee?«
»Klar. Aber wie willst du ihn warm machen?«
Er grinst. »Im Kamin.«
Dreißig Minuten später rührt er Instantkaffee in einem sehr aschigen Topf an. Ich sitze im Schneidersitz auf seiner Matratze vor dem Kamin und bewundere die Winterlandschaft vor den Fenstern. Der Garten ist mit einer Decke aus frischem, weißem Pulverschnee überzogen. Es ist ein Tag, um heißen Kakao zu trinken und Spiele zu spielen. Um einen Weihnachtsfilm zu gucken oder ein Lebkuchenhaus zu verzieren.
Adam setzt sich neben mich, und ich lehne mich an seine Schulter. Er wird still und legt eine Hand auf mein bloßes Knie.
»Danke für gestern«, sage ich.
Er drückt mein Knie. »Danke, dass du mir hier Gesellschaft geleistet hast.«
»Der Baum, das Essen, der … Whisky. All das zählt, glaube ich, als zweites Date, oder? Wenn der Weihnachtsmarkt unser erstes war.«
Er schweigt lange, und mein Herz und meine Kehle krampfen sich zusammen. Vielleicht war das anmaßend von mir. Dass er gestern von einer Verabredung gesprochen hat, könnte auch an zu viel Whisky gelegen haben.
»Okay«, murmelt er. »Du bist leicht zufriedenzustellen. Und das meine ich als Kompliment, Holly.«
»Äh, vielen Dank?«
Er neigt meinen Kopf nach hinten und drückt mir einen Kuss auf die Lippen. Ich bin mir bewusst, dass ich nicht geduscht habe und meine Haare wirr vom Schlafen sind, aber das scheint ihn nicht zu stören. Er schenkt mir ein kleines Lächeln und blickt wieder aus dem Fenster.
Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. »Bereust du es?«, frage ich.
»Ich kann dir wirklich nichts verheimlichen, oder?«, sagt er, und mir bleibt das Herz stehen. Aber dann schlingt er seine Arme um mich. »Nein, auf keinen Fall. Ich habe nur das Gefühl, die Situation ausgenutzt zu haben.«
»Hast du nicht.« Meine Wangen brennen. »Wenn überhaupt, war ich die Aufdringliche. Tut mir leid.«
Er lacht. »Ich war mehr als bereit. Du machst mich ziemlich scharf.«
»Wirklich?«
»Ich dachte, das wäre letzte Nacht offensichtlich gewesen«, erwidert er trocken. »Ich will dich weiter treffen. Darf ich dich irgendwann diese Woche zum Essen einladen?«
»Ja.«
»Und kommst du auch ab und zu rüber? Um deinen Baum zu sehen?« Er deutet mit dem Kopf in Richtung des majestätischen Gebildes in der Ecke. »Weißt du, ich habe keine Ahnung, wie man so was pflegt.«
Lächelnd beiße ich mir auf die Lippe. »Ja, ich komme vorbei. Ich kann dich doch nicht den Geist von Weihnachten umbringen lassen.«
»Gut.« Er nimmt meine Kaffeetasse und stellt sie ab, weit weg von der Matratze. Dann umfasst er mein Kinn und küsst mich langsam und vielversprechend. Die Decke fällt mir von den Schultern.
Er legt seine Stirn an meine. »Ich habe dich unheimlich gern, Holly.«
»Ich dich auch«, wispere ich.
»Der Strom wird erst in ein paar Stunden wieder angehen.«
»Und du hast immer noch kein Cluedo?«, frage ich neckend und lege meine Hände um seinen Nacken. »Wie sollen wir uns nur die Zeit vertreiben?«
Er gibt mir einen sanften Schubs. Ich falle auf die Matratze zurück und ziehe ihn dabei auf mich. »Keine Ahnung. Wie soll ich nur meinen Gast unterhalten?«
»Tja, ich weiß nicht.« Ich trete nach der Decke, bis sie ganz von mir abfällt. Heute ist es viel zu hell hier. Alle seine perfekten Muskeln werden zu sehen sein … und ich. Aber meine Nervosität wird mich nicht aufhalten. »Du könntest sie wieder ein braves Mädchen nennen.«
Sein Blick wird hitzig. »Das hat dir gefallen, oder?«
»Ja. Keine Ahnung, warum, aber ja.«
Er beugt sich über meinen Hals und ich blicke an die Decke. Meine Lider schließen sich flatternd. »Es ist so hell hier drin«, flüstere ich.
Er hält inne. Dunkles Haar fällt ihm über die Stirn und kitzelt meine Haut. »Du bist hinreißend, Holly. Verdammt unwirklich. Ich könnte versprechen, nicht hinzusehen, aber das würde ich brechen.«
»Oh. Tja, in dem Fall darfst du hinsehen.«
Er grinst. »So ein braves Mädchen.«
Ich ziehe ihn wieder auf mich.
Sich heimlich mit dem Nachbarn zu treffen, während man bei den Eltern wohnt, ist schwierig. Noch schwieriger ist es, wenn besagter Nachbar eine Berühmtheit der Stadt und nationale Ikone ist, Fairhill vom Weihnachtstourismus überrannt wird und die Maple Lane jede Nacht Dutzende Autos befahren, weil deren Insassen die Weihnachtsdekorationen bewundern wollen.
Aber das Letzte, was ich will, ist, dass meine Eltern sich ihre Nasen an unserem Wohnzimmerfenster plattdrücken, um mich dabei zu beobachten, wie ich zu Adams Haus hinübergehe.
»Zwei Städte weiter«, murmelt Adam neben mir. Seine Hand, mit der er mich durch das Restaurant führt, liegt warm und schwer auf meinem unteren Rücken. »Hier sollte uns wirklich niemand kennen.«
»Niemand sollte mich hier kennen«, korrigiere ich.
»Vertrau mir, so sehr interessieren sich die Leute gar nicht für die Tech-Welt. Ich werde kaum je erkannt.«
»Ich bin sicher, dass der Bart dabei hilft.« Wir haben einen Platz an einem der hinteren Tische, dem abgeschiedensten, genau wie Adam es für unser Date bestellt hatte.
Er fährt sich übers Kinn. »Der ist neu. Wie findest du ihn?«
»Gefällt mir. Er lässt dich sehr … rau aussehen.«
»Rau?«
»Ja. Männlich … genauso wie dein … ach, egal.«
»Was wolltest du gerade sagen?«
»Unwichtig.«
»Doch, das kommt mir sehr wichtig vor.« Er schiebt die Speisekarte beiseite, die ich hochhalte, um meinen verlegenen Gesichtsausdruck zu verbergen. »Genau wie mein was?«
»Dein Brusthaar«, murmele ich. »Das mag ich.«
»Ach wirklich?«
»Ja. Ich weiß nicht, wieso, aber solche kleinen Unterschiede zwischen uns törnen mich an.«
Sein Lächeln wird breiter. »Erzähl mir mehr.«
Und, Himmel hilf, das tue ich. »Na ja, wenn du deinen Arm über meine Brust legst und er im Gegensatz zu meiner blassen Haut braungebrannt und die Haare auf deinem Arm dunkel aussehen? Das gefällt mir. Außerdem kann ich nicht glauben, dass ich das laut ausspreche.« Ich halte mir die Speisekarte wieder vors Gesicht. »Erde, tu dich unter mir auf.«
Adam lacht. Es klingt warm und erfreut. »Versteck dich nicht vor mir.«
»Das muss ich. Wahrscheinlich überlegst du’s dir gerade noch mal, dich weiter mit mir zu treffen. Du denkst bestimmt ›Wow, die ist ja seltsam‹ und fährst morgen wieder zurück nach Chicago.«
»Wird nicht passieren. Ich muss mich ja jetzt um einen Weihnachtsbaum kümmern.«
»Stimmt. Solche Pflichten darf man nicht vernachlässigen.« Ich linse über die Speisekarte hinweg und blicke in seine blitzenden Augen.
»Es gefällt mir, wenn du mir erzählst, was dich antörnt«, sagt er.
»Oh.«
»Ziemlich sogar.« Sein Blick fällt auf meinen Mund. »Ich würde das gern erwidern, aber ich fürchte, das könnte mich ablenken. Ich habe dich hierhergebracht, um mit dir zu Abend zu essen, weißt du. Nicht, um nach nur ein paar Drinks zu gehen und dich im Auto besinnungslos zu küssen.«
»Dein Auto ist groß genug. Da drin könnten wir mehr machen als uns nur küssen.«
»Holly«, sagt Adam stöhnend. »Ich versuche gerade, ein Gentleman zu sein.«
»Das weiß ich zu schätzen, aber das musst du nicht.«
»Doch, muss ich. Weil ich das Gefühl habe, dass das vielleicht … na ja. Ich möchte das mit dir richtig angehen. Das hier«, sagt er und deutend warnend mit dem Finger auf mich, »ist vielleicht nicht nur eine kleine Weihnachtsaffäre.«
Ich bohre die Zähne in meine Unterlippe. Wärme strömt durch meine Brust. »Ach nein?«
»Nein.«
Lächelnd blicke ich auf meine Speisekarte und suche nach den richtigen Worten. Ich finde keine. Es geht alles so schnell, es ist so schön, und das warme Gefühl in meiner Brust droht mir zu Kopf zu steigen. »Ich wollte dir übrigens was erzählen. Ich habe angefangen, einen Artikel über Fairhill zu schreiben. So wie wir uns neulich darüber lustig gemacht haben.«
Er legt seine Speisekarte weg. »Hast du? Erzähl mal.«
Also erzähle ich ihm die Geschichte. Wie es anfing, wohin es geht und welche Leute ich interviewen möchte. Er stellt Fragen, hört zu und der Blick aus seinen dunklen Augen zeugt von echtem Interesse. Im Gegenzug erzählt er mir von seiner Arbeit und davon, dass vieles davon kaum noch etwas mit dem zu tun hat, was er anfangs gemacht hat. Es stellt sich heraus, dass wir viele Dinge gemeinsam haben.
Und wir machen beide nicht das, was wir lieben.
Außer natürlich in diesem Moment. Denn nirgendwo wäre ich gerade lieber als in einem heruntergekommenen Diner in Nord-Michigan mit Adam Dunbar. Nach dem Essen fährt er uns nach Hause und parkt in seiner Einfahrt. »Wie machen wir das jetzt?«
Ich ziehe meine Mütze fest über die Ohren und blicke in den Rückspiegel. Das Haus meiner Eltern ist wie immer beleuchtet, so weihnachtlich und schön, dass ich lächeln muss. Und durch die Wohnzimmerfenster kann ich nichts erkennen. Sie haben die Jalousien heruntergelassen. Es gibt also kein Publikum.
»Los geht’s«, sage ich. »Lauf, lauf, lauf!«
Adam lacht und geht voraus über den schneebedeckten Boden zu seiner Haustür. Ich ziehe meinen Schal fest übers Gesicht wie ein Bankräuber. Er sieht mich an und lacht wieder.
Wir betreten sein Haus. Es ist mollig warm, ganz anders als am letzten Wochenende, das wir gemeinsam vor seinem Kamin verbracht haben. Ich kann ihn nicht ansehen, ohne zu erröten.
Behutsam schält Adam mich aus den Kleiderschichten, die ich um meinen Kopf gewickelt habe. »Glaubst du, dass es ihnen so viel ausmachen würde?«
Ich hake meine Finger in die Gürtelschlaufen seiner Jeans. »Nein, gar nicht. Sie wären begeistert. Das ist das Problem.«
»Warum?«
»Mein Vater würde dir seinen Segen für einen Heiratsantrag geben. Unaufgefordert.«
Adam lacht glucksend. »Wie großzügig von ihm.«
»Und sie würden alle möglichen Anspielungen machen.«
»Sind sie so versessen darauf, dich verheiratet zu sehen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Vielleicht nicht verheiratet, aber auf jeden Fall sesshaft. Sie sind zusammen, seit sie neunzehn sind, und denken natürlich, dass alle anderen, die es ihnen nicht gleichtun, es falsch machen.«
»Tja, dann machen wir es eben gemeinsam falsch.« Er nimmt meine Hand und zieht mich weiter ins Haus. Obwohl immer noch Möbel und Kunstwerke fehlen, kommt mir das Haus jetzt nicht mehr so traurig vor. Nicht mit dem beleuchteten Weihnachtsbaum und dem Duft von Lebkuchen, der noch in der Luft hängt. Ich habe ihn gestern in unserer Mittagspause dazu gebracht, mit mir Plätzchen zu backen, als ich angeblich mit Winston spazieren war. Adam hat zwar protestiert, aber ich musste nur einen Hauch Mehl in seine Richtung stäuben, damit er nachgab.
Wir gehen die Treppe hoch und erreichen die offene Tür seines Schlafzimmers. Das Bett steht in der Mitte, unordentlich wie immer. Wir haben es nach dem Lebkuchenbacken gründlich genutzt.
»Wo bringst du mich hin?«, frage ich gespielt ängstlich.
»Ich will dir nur etwas zeigen.«
»Hier drin?«
»Ja. Du hast vorhin erwähnt, dass dir was gefallen würde.«
»Habe ich?«
Er lässt meine Hand los und fängt an, sein Hemd aufzuknöpfen. »Etwas, das dich antörnt.«
Lachend beobachte ich, wie langsam die dunklen Haare auf seiner Brust zum Vorschein kommen. Unter dem kühlen, ruhigen Äußeren, das er der Welt zeigt, verbirgt sich eine alberne Seite. Das erinnert mich an den Adam, den ich einst kannte … den Adam, der mir immer mehr ans Herz wächst.
»Wow. Du gibst wirklich alles, oder?«
Mit einem Lächeln im Gesicht breitet er die Arme aus. »Ja. Nimm mich, Holly.«
Wie soll ein Mädchen so ein Angebot ablehnen?
Danach liege ich in seinen Armen. Seine Haut ist warm und fest unter meinen wanderfreudigen Fingern, ein Beweis für das Training, das er täglich absolviert. Und mit täglich meint er auch täglich. Nicht meine täglichen Yogaübungen, die eher dreimal in der Woche stattfinden.
Wenn ich Zeit mit ihm verbringe und sehe, wie er sein Leben führt, dann nagt etwas an mir. Ich fühle mich von ihm inspiriert und angezogen, aber es erinnert mich auch daran, dass ich mein Potenzial nicht ausschöpfe. Und das gefällt mir nicht.
Adam hat die Augen geschlossen und atmet ruhig und tief. Er schläft nicht, aber er ist kurz davor. Seine Müdigkeit nach dem Orgasmus finde ich unglaublich liebenswert.
»Adam?«, wispere ich.
»Hm?«
Ich lasse meine Finger über seine Brust und die Haare gleiten, die ich vorhin noch bewundert habe. »Ist dein Vater der Grund, wieso du Weihnachten hasst?«
Seine Augen bleiben zu. »Super Taktik, Holly. Mach einen Mann müde, bevor du ihn mit persönlichen Fragen bombardierst.«
»Danke. Ziemlich clever, oder?«
»M-hm. Ziemlich.«
Ich drücke ihm einen Kuss auf die Brust, und sie hebt sich mit einem tiefen Atemzug. »Ja«, sagt er. »Das ist die kurze Antwort.«
»Der Sohn von Mr. Christmas zu sein war bestimmt nicht leicht. Ich glaube, das war den Leuten in der Stadt nicht bewusst, als sie ihn in den höchsten Tönen gelobt haben. Bevor die Cops kamen, meine ich.«
»War es nicht.« Er ergreift meine Hand und dreht sie über seiner Brust herum. Meine Nägel sind tiefrot lackiert, passend zu dem Kleid, das ich am ersten Weihnachtstag tragen will. »Weihnachten war nie eine friedliche Zeit für mich. Im Geschäft war es die hektischste des Jahres.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Jedes Jahr wollte er die Verkaufszahlen vom Vorjahr übertreffen. Meine Mutter hat ihm immer geholfen, wie du weißt. Die meisten Jahre haben wir zu Hause nicht gefeiert.«
»Gar nicht?«
Adam lächelt ironisch. »Wir haben den Weihnachtsmorgen gefeiert, bis ich zehn war, glaube ich. Aber danach beschlossen sie, dass ich alt genug wäre, um das ganze Theater sein zu lassen. Mein Vater arbeitete den ganzen Tag.«
»Er war eine interessante Persönlichkeit.«
»Interessant«, murmelt Adam. »Ja. Er war ein Narzisst und Betrüger, und meine Mutter hat Selbstsüchtigkeit zu einer Kunstform gemacht. Sie waren wahrscheinlich die denkbar ungünstigste Kombination füreinander.«
»Tut mir leid. Auf diese Weise aufzuwachsen kann nicht schön gewesen sein.«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich hatte viel Zeit und viele Freiheiten, das zu tun, was ich wollte. Es war nicht alles schlecht. Aber Weihnachten? Definitiv schlecht.«
»Ich verstehe, warum du findest, es ginge nur um Kommerz.«
»Größer, besser, bunter«, murmelt Adam. Es ist einer von Dunbars alten Slogans. »Was wäre die Weihnachtszeit schon ohne einen riesigen ausgestopften Weihnachtsmann? Ohne Schneekugeln, Lichterketten und zehn verschiedene Sorten Geschenkpapier? Die Menschen verschulden sich für die Feiertage, nur um den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Unternehmen produzieren Weihnachtsfilme mit abgehalfterten Schauspielern aus der C-Riege. Ab November kann man auf jedes Produkt eine Zuckerstange kleben und es mit einem Aufschlag von zwanzig Prozent verkaufen. Es ist absurd.«
Sein Ton wird schärfer, jedes Wort ist ihm offensichtlich ernst. Die Wurzeln dafür reichen tief.
»Mit all diesen Punkten hast du recht«, sage ich vorsichtig. »Aber er ist auch Weihnachten verschwunden, oder?«
Adam liegt regungslos unter mir. Drei lange Atemzüge lang spricht keiner von uns beiden, aber dann seufzt er. »Ja, ist er. Heiligabend, um genau zu sein.«
»Einfach so?« Ich war damals noch jung, aber nicht zu jung, um das ganze Gerede darüber mitzubekommen. In Fairhill kursierten damals jede Menge Spekulationen, und es gab keinen Ort in der Stadt, an dem man sich davor hätte verstecken können. Die Maple Lane hat damals mehr als genug Passanten kommen und gehen sehen.
Ich erinnere mich, dass die Leute zu ihrem Haus kamen, von Richard Dunbar Erklärungen verlangten und stattdessen seine aschfahle Frau und den versteinerten Sohn antrafen.
»Ich war vom College über Weihnachten nach Hause gekommen. Keine Ahnung, ob du dich noch daran erinnerst«, sagt Adam. »Er ist gegangen, kurz bevor die Polizei aufgetaucht ist.«
»Tolles Timing.«
»Ein bisschen zu toll vielleicht. Den Rest kennst du.« Er streicht mein Haar in langen Bewegungen über meinem Rücken glatt. »Das Dunbar’s wurde eine Woche später geschlossen. Der gesamte Restbestand wurde im Januar verkauft, also in der Nachsaison. Sie bekamen nur Centbeträge für Dinge, die er zehn Monate später für viel mehr hätte verkaufen können. Aber das reichte nicht, um seine Schulden zu begleichen. Nicht mal annähernd.«
»Er hat Gelder veruntreut, oder?«
»Ja, er hat alles auf seine Privatkonten überwiesen. Nicht mal seine Lieferanten hat er pünktlich bezahlt, sondern einfach mit größeren Aufträgen und mehr Umsatz gerechnet. Er brauchte immer die nächste Saison, um seine Veruntreuungen zu verbergen, aber schließlich ist das ganze System in sich zusammengebrochen.«
»Ich kann nicht glauben, dass er dich und deine Mutter einfach so verlassen konnte. Und dass er sogar jetzt noch wegbleibt.«
»Er würde verhaftet werden, wenn er zurückkäme.«
»Ja, aber dann wäre er hier. Bei dir.«
»Im Gefängnis«, sagt Adam sanft.
»Ja, aber trotzdem hier. Du könntest ihn besuchen.«
»Er hat seine Entscheidung getroffen und sich aus meinem Leben verabschiedet. Außerdem war er nie ein wirklich guter Vater.«
Ich stütze mich auf einen Ellbogen und sehe in Adams dunkle Augen. Sein Haar ist herrlich zerzaust und fällt ihm über die Stirn. »Er ist in irgendein warmes Land gezogen, oder? In ein mittelamerikanisches Land ohne Auslieferungsabkommen?«
»Ja, ich glaube schon. Er hat sich nur einmal bei mir gemeldet und dabei nicht verraten, wo er ist. Hat mir aber ein Bild von einem Strand geschickt.«
»Wie aufmerksam.«
Adam schnaubt. »Total.«
»Da fühle ich mich doch gleich besser. Stell dir vor, ein Mann, der sein Leben damit verbracht hat, ein Weihnachtsgeschäft aufzubauen, befindet sich jetzt an einem Ort, an dem es nie und nimmer schneien wird.«
Ein Lächeln breitet sich auf Adams Zügen aus. Er zieht mich an sich, bis mein Körper auf seinem liegt. Haut auf herrlicher Haut. »Tolles Argument.«
»Ja, oder? Erinnerst du dich noch an das letzte Mal, als du ihn gesehen hast?«
»Ja. Er ist gerade ins Auto gestiegen, als ich von einem Freund nach Hause kam. Im Kofferraum lag ein Koffer.«
»Hat er dir die Wahrheit gesagt? Über das, was er getan hat?«
»Er sagte nur, dass er einige kreative buchhalterische Entscheidungen getroffen habe und sich für eine Weile zurückziehen müsse. Das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.«
»Nur ein bisschen.«
Er küsst mich lange und genüsslich, bevor er sich wieder auf das Kissen legt und einen Arm unter den Kopf schiebt. »Erzählst du mir, wieso du es so sehr liebst?«
»Weihnachten?«
»Ja. Erklär’s mir.«
Ich mache es mir an seiner Brust gemütlich. »Es ist schwierig, das in Worte zu fassen. All die Gründe, die du genannt hast, sind gute Argumente dagegen. Aber ich liebe das Gefühl, das Weihnachten einem gibt. Dieses warme, kuschelige Gefühl. Es ist, als ob man einmal im Jahr einen Freibrief bekommt. Man muss nicht an irgendwelche Schwierigkeiten denken. Keine Arbeit, keine Probleme. Man kann die Wäsche und die Rechnungen vernachlässigen. Ein paar Tage lang darf man im Pyjama drinnen bleiben und heiße Schokolade trinken. Man darf sich Filme ansehen, die nicht zum Nachdenken anregen, sondern dir einfach nur ein gutes Gefühl vermitteln. Es ist eine Zeit, in der man sich einfach mal ausruhen kann.«
Adam gibt ein leises Brummen von sich. Sein Gesichtsausdruck ist immer noch skeptisch, aber er hört mir zu. Ich stütze mich wieder auf meinen Ellbogen.
»Weihnachten ist ein Versprechen, weißt du. Ein Versprechen, dass du deine Freunde wiedersehen und Zeit mit deiner Familie an einem Ort verbringen kannst, an dem deine Macken keine Rolle spielen. Die ganze Weihnachtsdeko und die Geschenke sind nur Augenwischerei. Sie helfen, dieses Versprechen zu verstärken, aber sie machen es nicht wahr. Ergibt das Sinn? Lebkuchen sind zwar lecker, aber sie machen Weihnachten nicht aus. Ich liebe Weihnachtsbäume, Eierlikör und Truthahn, aber das ist auch nicht der Geist von Weihnachten. Es geht um Tradition, Gemütlichkeit und Entspannung.«
»Entspannung, bevor das neue Jahr beginnt?«
»Ja. Das Essen, die Weihnachtsbeleuchtung, das alles sind Mittel, um in Stimmung zu kommen. Man ist gestresst, aber dann riecht man den Lebkuchen im Ofen und denkt sich ›Wenigstens gibt es Weihnachten‹.«
»Wenigstens gibt es Weihnachten«, murmelt er.
»Ja. Weißt du, Evan und ich leben nicht mehr bei unseren Eltern und natürlich auch nicht mehr zusammen. Und die Arbeit ist nicht immer toll. Das Jahr kann schwierig gewesen sein. Aber man weiß, dass man sich immer auf die Weihnachtstraditionen verlassen kann, auf die, die man sich selbst oder gemeinsam mit Familie und Freunden aufgebaut hat. Sie werden sich nie ändern. Wenn sich das Leben um dich herum verändert und alles unsicher wirkt, kommt man nach Hause und hört dasselbe Lied, das man sein ganzes Leben lang gehört hat, und für eine kleine Weile erscheint alles auf der Welt richtig.«
»Weihnachten ist dir also ein Trost.«
»Ja. Früher zumindest.«
»Früher?«
Ich blicke auf seinen Adamsapfel hinunter. Adams Apfel, denke ich und muss lächeln. Ich fahre mit einem Finger darüber und seufze.
»Versuchst du gerade, mich von meiner Frage abzulenken?«
»Funktioniert es?«
»Nein.«
»Die Dinge haben sich verändert, das ist alles«, sage ich. »Ich will mich nicht wehleidig anhören.«
»Nachdem ich dir gerade von meinem Vater vorgejammert habe? Und das ist schon ein Jahrzehnt her. Ich denke, du hast das Recht, über etwas zu reden, das dich belastet.«
»Du hast nicht gejammert.« Es ist mir peinlich, es ihm zu erzählen, also rede ich jetzt mit Adams Brust statt mit ihm. »Fairhill war mein sicherer Hafen. Ich konnte immer in die Vergangenheit flüchten, wenn es in meinem Leben nicht gut lief. Mit meinem Job oder meinem Ex. Aber die Lage hat sich geändert.«
»Inwiefern?«
»Evan hat die Liebe seines Lebens gefunden. Er wird sie heiraten und nicht mehr mir gehören.« Ich schüttele den Kopf. »Gott, ich weiß, wie das klingt. So meine ich es auch nicht. Es ist nur … Wir waren uns in den letzten zehn Jahren so nahe. Näher, als wir uns jemals als Kinder waren. Aber wenn sie dabei ist, ist er ein anderer. Jetzt gehört er in erster Linie ihr und dann erst seiner Familie.«
»Aber sie ist nett?«
»Oh, Sarah ist die Beste. Ja, wirklich. Aber sie ist für den jetzigen Evan perfekt, weißt du? Nicht für den Evan in der Vergangenheit. Und deshalb kann Evan in ihrer Nähe nicht der Evan der Vergangenheit sein.« Seufzend drehe ich mich auf den Rücken. »Und dann ist da noch ihre Tannenallergie.«
»Richtig. Was für ein Miststück.«
Ich stoße ihn mit dem Knie an, und er lacht.
»Ich mache nur Spaß. Was sonst noch?«
»Na ja, Winston stirbt. Ich meine, nicht in diesem Moment, aber es ist absehbar. Er wird alt, und ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll, wenn er geht.«
Adam gibt ein tiefes, brummendes Geräusch aus seiner Kehle von sich. Bei dem Gedanken an Winston zittert mir die Stimme. »Ich weiß, dass ich gesagt habe, ich würde in meinem Job feststecken, aber die Wahrheit ist, dass ich ihn hasse.«
»Ach.«
»Mein Chef ist ein Arschloch, das keine Rücksicht auf Wochenenden nimmt. Meine Kollegen verbiegen sich, um befördert zu werden, und helfen sich nur ungern gegenseitig, weil sie jeden als Konkurrenz betrachten.«
»Klar, dass du so ein Umfeld hassen musst.« In Adams Stimme liegt ein Lächeln.
»Tue ich auch. Total. Früher habe ich es geliebt, zu schreiben, aber jetzt kann ich es nicht mehr ertragen, auch nur noch einen einzigen Artikel über schiefgegangene Botox-Injektionen schreiben zu müssen.«
»Faszinierendes Thema.«
»Nein, ist es nicht.«
»Die Dinge um dich herum ändern sich also«, sagt er, »aber nicht für dich.« Er stützt sich auf einen Arm ab und blickt auf mich herab. Die Bettdecke ist ihm bis zur Taille gerutscht und enthüllt seine kräftigen Brustmuskeln. »Das verstehe ich. Ich habe Wireout so verdammt satt. Ich weiß, dass ich das nicht sagen oder überhaupt denken sollte. Es hört sich so undankbar an. Aber es stimmt.«
»Bist du deshalb hergekommen?«
»Ja. Ich wollte zwar zu meinen eigenen Bedingungen in dieses Haus zurückkehren, aber ich musste auch von da weg, wo ich war.«
Ich drehe mich auf die Seite und blicke zu ihm hoch. Er wirkt nachdenklich, zurückhaltend und offen, alles auf einmal. »Was ist in Chicago passiert?«
Seine Lippen verziehen sich amüsiert. »Du bist gut, weißt du das? Hast du jemals überlegt, Journalistin zu werden? Und für deinen Lebensunterhalt Leute zu interviewen?«
Ich lache auf. »Nein, was für eine tolle Idee!«
»Davon habe ich jede Menge.« Er beugt den Kopf und küsst mich lange. Ich lasse meine Finger in sein Haar gleiten.
»Gute Taktik«, murmele ich. »Aber meine Frage vergesse ich trotzdem nicht.«
Er gibt ein gespieltes Stöhnen von sich und vergräbt seinen Kopf an meinem Hals. »Du bekommst ja den Knüller, egal, was es kostet.«
»Extrablatt, Extrablatt, lesen Sie jetzt!«
Adam lächelt. Ich kann es auf meiner Haut spüren. »In Ordnung. Eine Beziehung ist zu Ende gegangen.«
»Oh.« Sein Geständnis nimmt mir den Wind aus den Segeln. Er war in einer so ernsten Beziehung, dass er die Stadt verlassen musste. Um etwas Zeit für sich selbst zu haben.
Eifersucht brennt in meiner Brust. Klar, es ist irrational, aber trotzdem nicht zu leugnen.
»Nichts, was ich im Bett mit dir gern erzählen will«, sagt er.
»Nein, nein, ich habe ja gefragt.«
»Und du wolltest kein Nein akzeptieren«, sagt er neckend und mit einer Wärme, die das Gefühl der Zerrissenheit in mir lindert. Aber dann spricht er weiter. »Wir waren ziemlich lange zusammen, aber letzten Endes hat es keinem von uns etwas gebracht. Ich hatte es dir gegenüber schon erwähnt. Es war letztlich oberflächlich.«
»Wie lange?«, murmele ich.
»Zwei Jahre, glaube ich.« Adam schiebt ein Knie zwischen meine Beine und bringt unsere Körper zusammen. Er trägt sein eigenes Gewicht, legt aber gerade so viel auf mich ab, dass ich mich wunderbar bedeckt fühle. Gestern habe ich ihm gesagt, dass ich das mag. Ich habe es ihm nach dem Sex zugeflüstert, als er genau das getan hat.
Jetzt verwendet er es gegen mich.
»Was ist mit dir, Holly?« Mit seiner großen Hand streicht er mir das Haar aus der Stirn. »Du bist lieb und witzig. Clever. Und umwerfend schön. Wartet in Chicago jemand auf dich?«
»Nein, nicht wirklich.«
»Nicht wirklich oder gar nicht?«
Ich stupse ihn mit dem Knie an, und er küsst mich. Es ist eine Entschuldigung und eine Frage.
»Nein«, sage ich. »Ich war kurz mit jemandem zusammen, aber das war im Sommer schon wieder vorbei.«
Seine Lippen wandern zu meinem Ohr. »Wie interessant.«
»Interessant? Wolltest du das wirklich sagen?«
Adam lacht. Es ist ein Rumpeln in seiner Brust, das sich in mir fortsetzt. Ich fühle mich von ihm umgeben und eingehüllt und bin so vernarrt in ihn wie nie zuvor. »Ja. Ich glaube nämlich nicht, dass ich mich noch lange in Fairhill verkriechen kann. Zum Jahreswechsel bin ich wieder in Chicago.«
Mein Herz hämmert wie ein Trommelwirbel in meiner Brust. »Wie komisch. Bin ich auch.«
»Ich verlasse mich darauf«, murmelt er. »Wieso, glaubst du, will ich zurück?«