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»Ich kriege dich«, flüsterte ich tonlos. »Egal, wer du bist und wo du bist. Und dann gnade dir Gott, wenn du meinem Hund etwas angetan hast.«
Aber was sollte ich jetzt tun? Meine Gedanken überschlugen sich.
Zunächst tat ich das Naheliegendste und drückte die Wahlwiederholung. Es dauerte nicht lange und es meldete sich erneut die Notrufzentrale.
»De Fries«, sagte ich hastig. »Ich hatte vorhin angerufen und den Toten an der Bahnschranke gemeldet.«
»Ich weiß«, lautete die wenig begeisterte Antwort des Beamten, mich schon wieder zu hören. »Wenn Sie wissen wollen, wann die Kollegen bei Ihnen eintreffen, kann …«
»Ihre Kollegen sollen sich gefälligst beeilen«, unterbrach ich ihn schroff. »Gerade ist vermutlich der Täter mit meinem Wagen abgehauen.«
»Haben Sie ihm Ihren Wagen gegeben?«, kam es verdutzt aus dem Hörer.
»Nein, natürlich nicht!«, fuhr ich ihn an, wütend über seine Begriffsstutzigkeit. »Ich war am Schrankenwärterhäuschen und habe dort gewartet.« Meine Suche nach etwas Essbarem
erwähnte ich nicht. »Dann hörte ich, dass jemand mit meinem Wagen wegfuhr.«
»Ihr Wagen stand unverschlossen an der Schranke«, erwiderte der Beamte jetzt erstaunlich findig. »Und der Schlüssel steckte im Zündschloss?«
»Wieso nicht? Außer mir ist doch hier kein Mensch«, wollte ich spontan erwidern, verschluckte aber meine Bemerkung, weil mir im selben Moment der Widersinn meiner Worte klar wurde. »Ja«, erwiderte ich stattdessen. »Und es lief auch noch der Motor.«
»Der Motor lief auch noch?« Ich konnte das Augenrollen des Polizeibeamten in der Notrufzentrale praktisch durchs Telefon hören.
»Motte lag im Auto.« Wie blöd sich meine eigenen Worte anhörten, war postwendend an der Reaktion des Beamten abzulesen.
»Motte«, sagte er gedehnt. »Die Motte?«
»Motte«, erwiderte ich mit betont ruhiger Stimme, denn es hätte mir noch gefehlt, wenn der Beamte meinen Anruf hinsichtlich des Toten als Fakeanruf eines Minderbemittelten eingestuft und ich daraufhin wahrscheinlich noch am Neujahrsmorgen hier gestanden hätte. »Mein Hund heißt Motte. Er lag auf dem Rücksitz. Den Motor habe ich laufen lassen, damit er in der Kälte nicht erfriert. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich hier draußen in der Dunkelheit noch jemand außer mir aufhielt.«
»Verstehe«, lautete die knappe Antwort des Beamten. »Wie lautet denn das Kennzeichen Ihres Wagens?«
»Tja, da hatte ich offenbar falsch gedacht«, fuhr ich bissig fort. »Wenn es sich bei dem Autodieb tatsächlich um den Täter handelt, hatte er sich gut versteckt und Ausdauer bewiesen.«
»Das Kennzeichen, bitte«, wiederholte die Stimme im Handy mit zunehmender Ungeduld.
Ich hätte nie gedacht, dass ich an einem Heiligabend das Kennzeichen meines Käfer der Polizei durchgeben musste, weil mir jemand im Schneesturm das Auto samt Motte geklaut hatte. Noch immer ungläubig, schüttelte ich den Kopf und gab das Kennzeichen meines Grauen durch.
»Warten Sie bitte«, erwiderte er kurz angebunden.
Mit einem unterdrückten Seufzer klemmte ich mir das Telefon zwischen Schulter und Kinn, um meine Taschen nach einer Zigarette abzuklopfen. Meine Suche blieb allerdings ergebnislos. Denn ich Vollidiot hatte meine Packung auf dem Beifahrersitz im Käfer liegen gelassen. Halblaut fluchte ich in mich hinein, wobei ich die schlimmsten Kraftausdrücke verwendete, die mir in den Sinn kamen. Wenn man sich wie ich innerhalb kürzester Zeit das Kettenrauchen angewöhnt hat und in einer solchen Situation plötzlich ohne einen Krümel Tabak dasteht, können die Kraftausdrücke gar nicht derb genug sein.
»So«, tönte es aus meinem Handy, als der Beamte sich wieder zuschaltete. »Ich habe den Kollegen Bescheid gegeben. Das Kennzeichen Ihres Wagens habe ich auch gleich zur Fahndung durchgegeben. Mehr können wir im Moment nicht tun.«
»Verstehe«, sagte ich diesmal knapp, da sich ohnehin jedes weitere Wort erübrigt hätte.
Der Beamte hatte recht. Mehr konnte er nicht tun.
Aber ich!
Die Erklärung des Polizeibeamten, dass man jetzt nichts anderes machen konnte, als auf das Eintreffen des Streifenwagens zu warten, quittierte ich mit einem ebenso knappen »Moin« und drückte das Gespräch weg.
Noch während ich das Handy einsteckte, stapfte ich mit schnellen Schritten zurück zum Bahnwärterhäuschen. Ohne die mittlerweile halb zugeschneite Leiche des Schrankenwärters zu beachten, eilte ich in das Dienstgebäude, achtete aber nach wie vor darauf, keine Spuren zu zertreten. Schnell beseitigte ich
meine Spuren: leerte den Wasserkocher, spülte die Teetasse aus – dann brauchte ich wenigstens den schrecklichen Kamillentee nicht zu trinken – und wischte mit einem Papiertuch aus dem Spender alles sauber und trocken. Das nasse Papiertuch steckte ich gemeinsam mit dem Teebeutel in die Jackentasche.
Mir war schon klar, dass ich mich verdächtig benahm und meine Putzaktion Risiken barg, da die Kriminaltechnik auch noch kleinste Mikrospuren nachweisen konnte und ich mich möglicherweise gerade selber belastete. Aber ich hatte in der Vergangenheit bereits einige Male Erfahrungen als Verdächtiger sammeln dürfen, auf die ich gern verzichtet hätte. Mal ganz abgesehen von den Stunden in Untersuchungshaft, aus der mich Traute Lenzen, die Oberstaatsanwältin, losgeeist hatte. Diesmal würde ich nicht auf Trautes Unterstützung zählen können. Deshalb verwischte ich lieber sorgsam meine Spuren.
Mit einem schnellen Blick vergewisserte ich mich, dass ich nichts vergessen hatte. Dann durchsuchte ich vorsichtig den kleinen Raum, fand aber nichts, was einen brutalen Mörder als Waffe beeindrucken würde.
»Es muss doch hier irgendetwas geben, das sich als Waffe eignet«, murmelte ich mir selber zu, um mich dann den Schubladen zuzuwenden.
Fehlanzeige.
»Dann muss es eben so gehen«, stellte ich pragmatisch fest und verließ das verwaiste Büro, das nach wie vor im Widerschein des Signallichtes rhythmisch aufleuchtete.
Als ich den Vorraum durchquerte, fiel mein Blick auf den Schneeschieber. Schnell nahm ich den Holzstiel in die Hand und wog ihn prüfend.
»Das sollte doch gehen«, stellte ich zufrieden fest und schraubte die Metallschaufel ab. Den schweren Holzstiel unter den Arm geklemmt, machte ich mich an die Verfolgung meines eigenen Wagens.
Mit großen Schritten stapfte ich durch den Schnee und stand kurz danach an der Stelle, wo ich meinen Käfer hatte stehen lassen. Ich musste mir keine Gedanken darüber machen, welche Richtung der Autodieb und, schlimmer noch, Mottes Entführer genommen hatte. Die Landstraße hatte nur zwei Hauptrichtungen: Leer oder Papenburg, von wo aus ich gekommen war, um an der unglückseligen Bahnschranke zu stranden.
Die Spuren auf der verschneiten Fahrbahn waren eindeutig.
Der Schnee war durch das Wendemanöver plattgefahren, und die frische zweite Spur, die durch meine kaum mehr sichtbare vorherige führte, bestätigte mir, dass sich der Unbekannte in die Richtung aufgemacht hatte, aus der ich gekommen war.
Mit jedem Schritt, den ich mühsam durch den Schnee stapfte, wich mein Schrecken über Mottes Verschwinden einer immer stärker werdenden Wut. Wenn ich den Typen, der Motte entführt hatte, in die Finger bekam, konnte er sich auf etwas gefasst machen. Ganz egal, ob er nur das Auto klauen wollte und nicht gesehen hatte, dass hinten auf dem Rücksitz ein ausgewachsener Berner Sennenhund seinen Schönheitsschlaf hielt.
Selber schuld
, dachte ich.
Hättest besser mal auf dem Rücksitz nachgeschaut, bevor du dir den Wagen unter den Nagel gerissen hast. Jetzt ist es zu spät, jetzt hast du mich im Nacken! Und ich kann sehr hartnäckig sein.
Auch wenn mit jedem Schritt, den ich in den knöcheltiefen Schnee setzte, meine Wut auf den Autodieb wuchs, war ich besonnen genug, davon auszugehen, dass ich keinem Klosterschüler, sondern einem kaltblütigen und brutalen Mörder auf den Fersen war.
Eigentlich wäre es sehr besinnlich gewesen, am Heiligen Abend durch die menschenleere verschneite Weite der stillen Nacht zu spazieren.
Eigentlich
, dachte ich spöttisch,
wenn man nicht gerade in einem Schneesturm einem mutmaßlichen Mörder hinterherstapft,
der einem den Hund und das Auto unterm Hintern weggeklaut hat
.
Fast hätte ich übersehen, dass die Reifenspuren in einen kleinen Seitenweg abbogen.
»Was soll das denn jetzt?«, murrte ich vernehmlich, als ich bei dem Versuch, der Reifenspur meines Käfer zu folgen, knietief im Neuschnee versank, weil die Fahrspur nach rechts abzweigte. Nachdenklich betrachtete ich den rußigen Fleck, der sich an der Stelle im Schnee abzeichnete, wo die Spur abbog. Was die Verfärbung zu bedeuten hatte, war mir klar.
Die rußige Stelle im Schnee stammte vom Auspuff meines Käfer. Der dunkle Fleck war ein deutliches Indiz dafür, dass der Käfer eine Zeit lang hier gestanden hatte.
Ich ging in die Hocke und fuhr mit dem ausgestreckten Zeigefinger einmal durch den Schnee. Vorsichtig schnupperte ich an dem dunkelgrauen Schneeklumpen auf meiner Fingerspitze.
Der Geruch war ebenso käfertypisch, wie es der knatternde Motor meines Grauen war.
»Sag ich doch.« Zufrieden nickte ich und wischte mir den Finger an meiner Jeans ab, als ich mich wieder erhob.
So typisch der Fleck im Schnee für meinen Käfer war, so klar war mir, warum der Unbekannte hier gehalten und damit dem Auspuff ausreichend Zeit verschafft hatte, seine Duftmarke zu setzen, indem er seine bleihaltigen Abgase in den Schnee pustete. Dem Unbekannten musste die Tanknadel aufgefallen sein, die anzeigte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis seine Spritztour ihr unerwartetes Ende fand.
Wahrscheinlich hatte er überlegt, wie weit er noch fahren konnte. Vielleicht aber hatte er auch nach einem Reservekanister gesucht. Aber Fehlanzeige, denn abgesehen davon, dass ich im Schnee keine Fußspuren fand, hätte ich ohnehin keinen Reservekanister im Kofferraum gehabt.
»Dumm gelaufen«, grinste ich schadenfroh. »Da hast du Blödmann wohl endlich gemerkt, dass du ein Auto mit fast leerem Tank geklaut hast. Höchste Zeit also für dich, die nächstgelegene Tankstelle anzufahren, um zu tanken.«
Dumm nur für den Dieb, dass es weit und breit keine Tankstelle gab.
Schlecht für dich, gut für mich
, dachte ich und erhob mich aus der Hocke, als mein Blick auf das verschneite Straßenschild fiel.
Ich ging nah an das Schild und wischte mit der Hand den Schnee vom Metall.
»Blinkstraße«, las ich und zuckte die Achseln, da es im Moment egal war, dass ich nun wusste, wie die Straße hieß.
Kann aber wichtig werden
, setzte ich hinterher und wandte mich der Reifenspur im Schnee zu.
Man weiß ja nie.
Die Spur folgte dem Verlauf der Nebenstraße, stellte ich fest. Zumindest die paar Meter, auf denen ich die Reifenspuren erkennen konnte. Warum zum Teufel war Mottes unfreiwilliger Kidnapper hier abgebogen, als er feststellte, dass ihm gleich der Sprit ausgehen würde? Wo wollte er hin?
Weil er für etwaige Verfolger eine falsche Spur legen wollte?
Ich schüttelte den Kopf.
Nee, ergibt keinen Sinn.
»Weil du abhauen und zuvor den Wagen verschwinden lassen willst«, sagte ich grimmig, während meine Hand den Holzstiel so fest packte, dass sich meine Knöchel weiß unter der Haut abzeichneten.
Gleichzeitig krampfte sich in mir alles zusammen, als mir im selben Moment einfiel, dass er mit dem Wagen auch Motte verschwinden lassen würde.
Automatisch beschleunigte ich meine Schritte. Nach wenigen Metern riss mich der Klingelton meines Handys in die kalte Wirklichkeit des Heiligabends zurück.
»Thyra?«
Über Anrufe meiner Tochter freue ich mich immer sehr. Doch jetzt hatte sie sich den denkbar schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht. Aber egal, was gerade passiert war, ich wollte meine Tochter nicht in Sorge versetzen. Wenn sie gewusst hätte, dass mit mir oder Motte etwas nicht stimmte, hätte sie sich sofort auf den Weg gemacht, um mir zu helfen, ganz egal, wo sie sich gerade befand. Und genau das wollte ich nicht! Ich wollte ihr weder den Heiligen Abend versauen, indem ich sie in Sorge versetzte, geschweige denn, dass sie sich aus Nordosteuropa auf den Weg machte, um mir bei der Suche nach Motte beizustehen.
Geht gar nicht.
Energisch schüttelte ich den Kopf.
»Hallo, Paps«, ertönte Thyras Stimme sofort, als ich auf das hellgrün leuchtende Telefonsymbol tippte. »Ich wollte dich so spät nicht stören, aber ich denke gerade an dich und möchte dir einen entspannten Abend wünschen. Egal, ob heilig oder nicht.«
Sie lachte leise. »Hauptsache, es geht dir gut.«
Ich war so verdutzt über ihren nächtlichen Anruf, der nicht unpassender hätte sein können, dass ich mich auf ein Brummen zur Begrüßung beschränkte.
»Alles okay mit dir?«, fragte Thyra nach ein paar Sekunden des Schweigens, in denen ich keine Anstalten machte, etwas zu sagen.
Ich räusperte mich umständlich, um Zeit zu gewinnen.
»Du weißt, wie leid es mir tut, dass ich Heiligabend nicht bei dir sein kann.« Thyra wartete meine Antwort nicht ab, da sie mein Schweigen auf meinen derzeitigen Gefühlszustand bezog.
Dabei wollte ich es auch belassen. Thyra war in den letzten beiden Jahren beruflich durchgestartet und hatte sich als investigative Journalistin einen respektablen Namen gemacht. Das Job-geht-vor-Gen hatte sie von mir geerbt, sodass es zwar schade, aber trotzdem für mich absolut in Ordnung war, dass sie sich gerade im Baltikum befand und Hintergründe zum Tod
eines russischen Journalisten ermittelte, der für seine spektakulären Enthüllungsreportagen bekannt war und Opfer eines Unfalls geworden sein sollte – so lautete jedenfalls die offizielle Version, die nicht nur Thyra infrage stellte.
»Ach, Thyra«, erwiderte ich. »Das Thema haben wir doch ausgiebig besprochen. Ich bin wahnsinnig stolz auf dich, dass du als Journalistin so erfolgreich bist. Und dein Job geht natürlich vor. Ich komme alleine klar.«
»Danke«, sagte Thyra leise. »Du bist der beste Papa der Welt.« Dann wurde ihre Stimme lauter, eindringlicher. Ihr journalistisches Jagdfieber war deutlich zu spüren. »Wenn ich die Geschichte bringe, dann ist das für mich der Durchbruch.«
»Ist die Story so heiß?«, fragte ich im Plauderton, obwohl mir die Suche nach Motte auf den Nägeln brannte. Aber ich wollte meine Tochter auf keinen Fall beunruhigen, sie sollte den Kopf freibehalten für ihren Job im Baltikum, der nicht ungefährlich war.
Ich wollte nicht noch einen geliebten Menschen verlieren.
»Was machst du heute Abend?«, wollte Thyra wissen.
Wortlos verdrehte ich die Augen. Es war total schön, dass meine Tochter mit mir plaudern wollte. Das taten wir oft und nicht nur an Heiligabend, aber abgesehen davon, dass mir langsam eiskalt wurde, wuchs mit jeder Sekunde meine Sorge um Motte.
»Ich bin noch auf der Rückfahrt von Papenburg«, antwortete ich.
»Ach, stimmt«, warf Thyra ein. »Du warst ja bei …«, sie zögerte kurz, bevor sie Annas Namen aussprach, als würde sie befürchten, dass ich die Erwähnung nicht ertragen konnte, »… Annas Bruder …« Thyra brach ab, weil sie Bens Namen nicht parat hatte, was auch nicht weiter schlimm war, da sie ihm nur einmal, und zwar auf Annas Beerdigung, begegnet war.
»Ben«, sagte ich deshalb. »Annas Bruder heißt Ben.«
»Sorry. Ich kam nicht drauf.«
»Macht nichts«, erwiderte ich. »Du hast Ben ja auch nur einmal gesehen.«
Thyra erwiderte darauf nichts.
Ich wusste, dass sie es vermeiden wollte, am Heiligen Abend, den ich alleine verbrachte, mit mir über Anna oder ihre Beerdigung zu sprechen. Sie wusste ja, dass ich mich heute mit Ben vor seiner Nachtschicht auf der Meyer Werft getroffen hatte und wir gemeinsam Anna auf dem Friedhof besucht und ihr ein Weihnachtslicht aufs Grab gestellt hatten.
»Und du bist noch auf dem Heimweg von Papenburg?«, wollte Anna wissen.
Ungeduldig nickte ich, was Thyra nicht sehen konnte, während ich weiter durch den Schnee stapfte. Hoffentlich schneite die Spur nicht noch stärker zu, während ich hier mit meiner Tochter plauderte, als würde ich zu Hause im Ohrensessel vor dem Kamin sitzen.
»Paps?«, klang es aus dem Handy.
»Ja«, antwortete ich schnell. »Ja, ja. Ich bin noch unterwegs. Die blöde Bahnschranke ist unten und mir wird langsam kalt.«
»Dann lass uns jetzt mal Schluss machen«, schlug Thyra vor. »Steck dir lieber die Hände in die Jackentaschen. Wie ich deinen Käfer kenne, funktioniert die Heizung mal wieder nicht.«
Ich lachte kurz auf. Wie gut Thyra mich kannte.
Wir wechselten noch ein paar Worte zum Abschied, und glücklicherweise hatte Thyra es auch nicht so sehr mit der Heiligabendmelancholie, die viele Menschen an diesem Abend befällt.
»Pass auf dich auf«, bat ich sie zum Abschied.
»Du kennst mich doch«, gab sie auflachend zurück.
»Ja, genau deshalb«, erwiderte ich trocken. »Eben weil ich dich kenne.«
»Mach dir keine Sorgen, Paps, ich pass auf«, versprach sie. »Und du grüß bitte Motte von mir.«
Ich murmelte etwas Unverständliches und verabschiedete mich schnell.
Erleichtert atmete ich auf, als ich mein Handy wieder einsteckte.
Die ganze Zeit hatte ich wie auf heißen Kohlen gesessen. Kein zutreffender Vergleich angesichts meiner kalten Füße und vor Kälte tauben Hände.
»Jetzt aber nichts wie los«, feuerte ich mich selber an, da mich das Herumgestapfe im Schnee stärker erschöpft hatte, als ich mir eingestehen wollte.
Kräftig schlug ich meine Hände gegeneinander, um sie wieder zum Leben zu erwecken. Ich setzte mich in Bewegung. Händeklopfend stapfte ich eine ganze Weile durch den Schnee und setzte, sofern es möglich war, meine Füße in eine der Fahrrinnen, die mein Wagen in die Schneedecke gespurt hatte.
Mittlerweile hatte der Schneefall nachgelassen, nur noch vereinzelte Flocken schwebten geräuschlos im Licht meiner Taschenlampe nieder.
Die kleine Straße machte einen leichten Linksbogen und mit ihr die Reifenspuren meines Grauen. Schwerfällig, aber unbeirrbar setzte ich in der dunklen, eisigen Kälte einen Fuß vor den anderen. Meine Stiefel hinterließen eine deutlich sichtbare Spur im Neuschnee, die allerdings in leichten Schlangenlinien verlief.
Schwer atmend blieb ich stehen.
Der nächtliche Marsch durch den hohen Neuschnee hatte mich sichtlich erschöpft. Während ich nach Luft schnappte und versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen, brummte mein Handy in der Innentasche meiner Jacke.
Meine Finger waren von den Minusgraden hier draußen ausgekühlt und gehorchten mir nur noch halbherzig. Bis ich
endlich umständlich das Gerät aus meiner Tasche herausgefummelt hatte, war das Telefon verstummt. Als ich die Anrufliste aufrief, zeigte mir das Display als letzten Anrufer eine unbekannte Nummer an. Es musste sich um die Nummer der Polizei handeln, bei der ich den Leichenfund gemeldet hatte.
»Na, denn«, dachte ich und tippte die Nummer an. Der Freiton ertönte unwirklich laut in dieser Einöde, bis sich der Beamte meldete, mit dem ich bereits ausgiebig gesprochen hatte.
»Wo sind Sie, Herr de Fries?«, fragte er ohne Umschweife im amtlichen Ton, als ich mich meldete.
»Auf der Suche nach meinem Hund«, entgegnete ich knapp.
»Begeben Sie sich unverzüglich zurück an den Ort, wo Sie den Leichenfund gemacht haben.«
Ich hatte überhaupt keine Lust auf Fragen oder Diskussionen und antwortete entsprechend einsilbig.
»Jo«, sagte ich deshalb nur und drückte das Gespräch weg, dann stellte ich mein Handy auf lautlos.
Ich hatte keinerlei Interesse daran, heute noch mit irgendjemandem zu telefonieren. Und schon gar nicht mit der Notrufzentrale der Polizei.
Die Aufforderung der Polizei ignorierend, setzte ich meinen Weg durch die Schneelandschaft fort. Als wenige Minuten später die Reifenspuren in einen weiteren Abzweiger nach rechts abbogen, verschnaufte ich aufs Neue. Ich war ziemlich außer Form, musste ich feststellen.
Was nun?
, überlegte ich.
Wenn ich auch dieser Straße folgte, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis ich im Schnee zusammenbrechen würde. Dort würde ich dann aller Wahrscheinlichkeit nach bis zur nächsten Schneeschmelze liegen bleiben. Motte würde mein heroischer Einsatz überhaupt nicht helfen.
Auch wenn sich in mir alles dagegen sträubte, musste ich umdrehen und zurück zum Bahnübergang gehen.
»Wenn ich den Rückweg überhaupt noch schaffe«, stellte ich schwer atmend fest.
Egal wie, ich musste die Polizei so schnell wie möglich darüber informieren, dass sich vermutlich der Mörder des Schrankenwärters mit meinem Wagen aus dem Staub gemacht hatte. Denn wenn die Polizei nach meinem Käfer fahndete, würden sie ihn in absehbarer Zeit finden – und mit ihm auch Motte.
Grund genug also, mich auf dem schnellsten Weg zurück zum Bahnübergang zu machen, wo der im Freien liegende Tote mittlerweile wahrscheinlich komplett eingeschneit war. Der Gedanke an eine Suchaktion der Polizei nach Motte spornte mich an, und ich beschleunigte meine Schritte, um so schnell wie möglich mit Polizei und Kripo vor Ort sprechen zu können, sofern diese bereits eingetrudelt waren.
Das war meine Chance, eine polizeiliche Suchaktion nach Motte zu starten.
»Ich finde dich, Dicker, das verspreche ich dir.« Meine Stimme klang spröde, als ich meinem Hund gelobte, ihn zu finden, wobei ich überhaupt keine Ahnung hatte, wo ich suchen sollte.
Ganz überzeugt war ich nicht von dem, was ich gerade sagte, denn wenn ich die Polizei nicht dazu bringen konnte, eine Fahndung nach Motte rauszugeben, rechnete ich mir wenig Chancen aus auf einen glücklichen Ausgang der Heiligen Nacht, die sich für mich gerade zur regelrechten Horrornacht entwickelte.