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Obwohl das Innere des Streifenwagens im Halbdunkel lag, konnte ich sehen, wie Mackensens Gesicht die Farbe wechselte und ihm vor Wut das Blut in die Wangen schoss.
»Wir machen keine Spielchen«, sagte er knapp, und seiner Stimme war anzuhören, dass er sich mühsam zusammenreißen musste, um nicht loszubrüllen.
Er zog am Hebel, um die Wagenverriegelung zu lösen, und drückte die Tür auf. Freud trat vorsichtshalber zwei Schritte zurück, er kannte mittlerweile seinen Chef und dessen impulsive Ausbrüche, wenn etwas so gar nicht nach dessen Vorstellung lief.
Ich erinnerte mich noch immer sehr gut daran, dass er mir vor geraumer Zeit – als ich aus seiner Sicht als Verdächtiger galt – bei einer Vernehmung den Stuhl unter meinem Hintern weggetreten hatte, sodass ich mir an der Tischkante des Vernehmungstisches die Lippen blutig geschlagen hatte.
Auch wenn sich Mackensen seither gewandelt hatte, traute ich ihm nach wie vor zu, dass er unberechenbar, rücksichtslos, arrogant und sogar brutal vorgehen würde, um seine Ziele zu erreichen.
Am Telefon hatte er sofort verstanden, weshalb ich mich mit seinem Namen bei ihm meldete, als ich ihn anrief, und mitgespielt. Doch nun war das Ziel erreicht, der Zugriff war erfolgt und der Hauptverdächtige zwar durch den Sturz in den Kanal angeschlagen, aber vernehmungsfähig. Jetzt wollte Mackensen Ergebnisse, jetzt wollte er von dem Verdächtigen erfahren, wo sich der Kopf der Entführer aufhielt und damit auch der Junge.
Im Moment traute ich ihm so einiges zu, was er tun würde, um dieses Ziel so schnell wie möglich zu erreichen.
»Sie bleiben hier sitzen!«, wies er mich beim Aussteigen mit einem kurzen Blick über die Schulter an.
Mit einer wütenden Handbewegung drückte er die Tür hinter sich ins Schloss.
Da er bei seinem schnellen Aufbruch vergessen hatte, das Fenster zu schließen, konnte ich das Gespräch zwischen den beiden Kommissaren mithören.
»Wir werden uns auf keine Spielchen mit dem Verdächtigen einlassen!«, wiederholte Mackensen unmissverständlich seinen Standpunkt. »Ist das klar?«
»Ja schon, Folkert«, beeilte sich Freud zu sagen, während er zustimmend nickte. »Er wird nur nichts sagen. Er will mit dem Kommissar sprechen, mit dem er auf dem Unimog unterwegs war. Warum auch immer.«
Mackensen erwiderte darauf nichts, sondern sah über Freuds Schulter hinweg zu der kleinen Gruppe am Kanalufer, wo der Verdächtige in seiner goldenen Wärmeschutzdecke darauf wartete, mit mir sprechen zu können.
Er dürfte auch mächtig frieren , dachte ich. Unwillkürlich zog ich die Decke enger um meine Schultern. Obwohl mir meine Sachen nass und kalt am Körper klebten, war es im Streifenwagen gut auszuhalten. Angenehm warm blies mir noch immer das Gebläse aufgeheizte Luft ins Gesicht und um die Beine, und ich bemerkte, dass mich die Wärme zunehmend schläfrig machte.
»Wir nehmen den Heli«, sagte Mackensen nach kurzer Überlegung. »Wir können nicht länger im Freien bleiben, der Mann erfriert uns unter den Händen, dann kriegen wir gar nichts mehr aus ihm raus.«
Toll, Mackensen , dachte ich voller Sarkasmus. Hier sitzen zwei, die triefend nass sind und gerade erfrieren. Danke für die Fürsorge, du Arsch!
»Okay.« Freud nickte erneut zustimmend. »Dann führen wir die Vernehmung in Emden durch.«
»Nein.« Mackensen schüttelte energisch den Kopf. »Wir müssen hierbleiben. Irgendwo in der Gegend haben die den Jungen versteckt. Wenn wir den Verdächtigen zum Reden bringen, haben wir den Jungen. Wir müssen hier in der Nähe bleiben!«
»Verstehe«, behauptete Freud, sah aber nicht so aus, als hätte er wirklich verstanden, was Mackensen meinte.
»Ich werde jetzt nicht mit dem Verdächtigen reden. Und de Fries auch nicht!« Mackensen deutete mit dem Kopf in meine Richtung. »Wir fliegen rüber zu diesem Gasthof. Dort richten wir unser Lagezentrum ein. Wir nehmen den Verdächtigen mit.« Erneut ruckte sein Kopf in meine Richtung. »De Fries auch. Dann können beide miteinander sprechen, vielleicht kommt ja etwas dabei raus. Wenn nicht, wovon ich ausgehe, nehmen wir uns den Mann vor. Sobald wir wissen, wo der Junge steckt, schlägt das SEK zu.«
»Quartieren wir die auch in diesem Gasthof ein?«
»Ja, klar«, sagte Mackensen gereizt. »Wo denn sonst? Das SEK bleibt vor Ort, jederzeit bereit zum Zugriff.«
Es war, wie ich mir gedacht hatte. Kommissar Mackensen stand mächtig unter Druck. Ob der nun von seinem Vorgesetzten oder der politischen Seite her ausgeübt wurde oder das Schicksal des achtjährigen Jungen ihn gepackt hatte, wusste ich natürlich nicht. Aber es war mehrmals deutlich geworden, dass er alles in seiner Macht Stehende tun würde, um den Verdächtigen zum Sprechen zu bringen.
Dass ich seit gestern in dieser Schneewüste auf der Pirsch war, hatte natürlich in erster Linie den Grund, dass ich meinen besten Kumpel wiederhaben wollte – Motte! Dazu kam jedoch, dass mich das Schicksal des kleinen Jungen, der zu Weihnachten durch die eisige Nacht gezerrt wurde, sehr berührte. Wenn ich auch nur den Hauch einer Chance sah, würde ich es Mackensen gleichtun und alles dafür geben, dass der Junge wohlbehalten nach Hause käme.
»Alles klar?« Mackensen sah seinen Kollegen Freud kurz an, der ihm zustimmend zunickte.
»Ja, alles klar. Soll ich …?«
»Ich mach schon«, schnitt Mackensen Freud das Wort ab und machte zwei Schritte Richtung Kanal, wo er den Arm über den Kopf hob und brüllte: »Einsatzleiter zu mir!«
Sofort setzte sich eine schwarz vermummte Gestalt mit Sturmgewehr im Anschlag in Bewegung, kam im Laufschritt auf Mackensen zu und stoppte Sekunden später vor ihm, um seine Befehle entgegenzunehmen.
Vom Rücksitz des Streifenwagens aus konnte ich nicht hören, was Mackensen dem SEK-Einsatzleiter auftrug. Ich sah nur, dass der Beamte mehrmals nickte und dann auf dem Absatz kehrtmachte, um seine Leute zu instruieren.
Auch Mackensen wandte sich um und stapfte durch den Schnee zurück zu Freud. »Du sagst jetzt den Besatzungen der Streifenwagen Bescheid«, befahl er seinem Kollegen knapp. »Ich hole de Fries. Wir treffen uns am Heli.«
Noch bevor ich mir ein Argument zurechtlegen konnte, um Mackensen davon abzuhalten, mich in diesen Hubschrauber zu verfrachten, riss er schon die Seitentür auf.
»Kommen Sie, die Arbeit ruft«, forderte er mich auf und machte eine einladende Handbewegung wie der Wagenmeister des Varietétheaters Berliner Wintergarten, nur dass er mich nicht so freundlich anlächelte. »Sie haben Glück, Sie haben Ihren Beifahrer nicht umgebracht. Er will reden, allerdings im Moment nur mit Ihnen.«
Ich blickte ihn schweigend an, machte aber keine Anstalten, seiner Aufforderung Folge zu leisten.
»De Fries …« Beschwörend sah er mich an. »Sie wollen den Jungen ebenso wie ich finden, bevor er in einem eisigen Erdloch erfriert.«
Ich nickte schweigend.
»Ganz abgesehen von Ihrem Hund, den wir finden, wenn wir den Jungen gefunden haben.«
Was hätte ich seiner zutreffenden Analyse auch entgegenzusetzen gehabt? Nichts.
Also folgte ich seiner Einladung, die ich nicht ablehnen konnte, was mich an die geflügelten Worte des Paten Don Vito Corleone denken ließ.
Trotz der warmen Luft aus dem Gebläse, die mich halbwegs wiederaufgetaut hatte, quälte ich mich mühsam aus dem Streifenwagen. Meine Gelenke fühlten sich so steif an, als hätte ich gerade meinen 102. Geburtstag gefeiert.
»Kommen Sie jetzt.« Mackensen packte ungeduldig meinen Arm. »Der Entführer will nur mit Ihnen sprechen.«
Mit einer kurzen Bewegung schüttelte ich seine Hand ab und warf ihm einen abweisenden Blick zu. Er hatte es offensichtlich noch immer nicht verinnerlicht, dass ich mich nicht gern von ihm abführen ließ – ganz so wie in alten Tagen, als wir uns bei meinen Recherchen zu einem Mordfall kennengelernt hatten.
Offenbar hatte er mein Missfallen bemerkt, denn er machte keine weiteren Anstalten, mich am Arm zu packen oder vor sich herzuschieben, sondern ließ den einen Arm locker herabhängen und deutete mit dem anderen in Richtung des SEK-Survivor, hinter dem der Polizeihelikopter gelandet war.
»Wir fliegen jetzt mit Ihnen und dem Verdächtigen zu diesem Gasthof, von dem aus Sie mich angerufen haben«, erklärte er mir, während wir nebeneinander Richtung Hubschrauber gingen. »Dort richten wir unsere Einsatzzentrale ein, und ich möchte Sie bitten, mit dem Mann zu sprechen, so wie er es verlangt hat. Ich lasse mich zwar auf kein Katz-und-Maus-Spiel mit ihm ein, möchte mir aber zumindest anhören, was er Ihnen zu sagen hat. Vielleicht bringt uns das weiter.«
Mittlerweile waren wir am Hubschrauber angekommen, dessen Seitentür bereits für uns offen stand. Pilot und Co-Pilot befanden sich in der Pilotenkanzel, deren Türen geschlossen waren. Uns empfing das dritte Crewmitglied, der Maschinenoperator, dessen Aufgabe es war, im hinteren Teil des Hubschraubers die Wärmebildkamera, Nachtsicht- und Infrarotsysteme sowie die außen angebrachte elektrische Seilwinde zu bedienen. In unserem Fall war der Operator eine junge Frau mit Schutzhelm, die uns unsere Plätze zuwies. Ich kletterte über die Kufe des Hubschraubers in die Kabine und setzte mich ans Fenster, das sich gegenüber der Seitentür befand. Mackensen ließ sich neben mich in den schmalen Sitz fallen und schnallte sich an. Ich tat es ihm gleich, wobei sich wieder das bandagierte Handgelenk als hinderlich erwies.
»Setzen Sie bitte auch gleich die Kopfhörer auf«, bat die Polizistin und zeigte auf die Kopfhörer mit dem kleinen Schwenkarm und einem Mikrofon an dessen Ende, die ich nur allzu gut kannte.
Kaum dass ich mich angeschnallt und mir die Kopfhörer übergestülpt hatte, tauchte Kommissar Freud in Begleitung des Paramedic auf, der sich um den Verdächtigen gekümmert hatte. Beide verfrachteten den Mann, der ein schmales, blasses Gesicht hatte, das bartlos und nichtssagend war, in den Helikopter. Mit der dämlichen Clownmaske hatte er beängstigender ausgesehen.
Nur die Augen , dachte ich, als Kommissar Freud ihn anschnallte, weil er das mit vor dem Bauch gefesselten Händen nicht selbst konnte, kalt und ausdruckslos wie die Glasaugen eines Stofftiers.
In diesem Moment hob der Gefesselte den Kopf und sah mich an.
Manche Menschen gewinnen, wenn sie eine Maske tragen , dachte ich humorlos und erwiderte seinen Blick, ohne in seinen Augen eine Regung zu erkennen.
Die Operatorin setzte dem Gefangenen ebenfalls Kopfhörer auf und ließ sich dann auf ihren schmalen Sitz vor ihren Armaturen und Monitoren nieder.
Der Motorenlärm der Turbine schwoll an, wurde aber durch die Kopfhörer gedämpft.
Zum ersten Mal nach den Geschehnissen auf Juist im Sommer flog ich wieder, diesmal aber verspürte ich weder Flugangst, noch war mir mulmig. Ich begann, Annas Tod zu akzeptieren, der Schmerz war da und würde nicht vergehen, nur würde ich nach und nach anders mit ihm umgehen. Vielleicht war das Ausbleiben meiner Flugangst einer der Schritte, meinen Verlust zu verarbeiten.
Ich wandte den Kopf ab und blickte in die Dunkelheit hinaus, die von den gleißenden Scheinwerfern des Polizeihubschraubers zerschnitten wurde.
Wir hoben ab.
Unter mir sah ich die SEK-Beamten zu ihren Fahrzeugen gehen. Außer ihnen war auf der Straße noch immer keine Menschenseele zu sehen. Warum sich kein einziger Schaulustiger auf der Straße sehen ließ, wusste ich nicht. War mir aber schlussendlich auch egal. Mich interessierte im Moment in erster Linie, aus den nassen Sachen rauszukommen und zu erfahren, wie es meinen Freunden ging. Alles Weitere würde sich ergeben. Ob ich auf eigene Faust nach Motte weitersuchen würde, hing davon ab, was Mackensens Vernehmung des Verdächtigen ergeben würde.
»Du wolltest wissen, wo der Junge ist?«, vernahm ich plötzlich die Stimme, die ich bislang nur gedämpft durch das Maskentuch gehört hatte, in meinem Kopfhörer.
Mein Kopf ruckte herum.
Mit stumpfen Augen starrte mich der gefesselte Mann an, der mir schräg gegenübersaß.
Ich nickte. »Ja, das will ich immer noch.«
»Dann …«, er verzog seine schmalen Lippen zu einem hämischen Grinsen, das dem seiner vorherigen Gesichtsmaske an Gemeinheit in nichts nachstand, »… wünsche ich dir viel Glück bei deiner Suche – Herr Kommissarrrr!«
Er warf den Kopf in den Nacken und ließ das R laut rollen, als würde er mit einem besonders übel schmeckenden Mundwasser gurgeln.
Schon in dem Moment, als er mich mit seinem Glasaugenblick fixiert hatte, hatte ich vermutet, dass sich Mackensens und auch meine Hoffnung auf einen Hinweis, wo sich der entführte Junge aufhielt, nicht erfüllen würde.
Seine Häme bestätigte mein schlechtes Gefühl.
»Und um mir das zu sagen, wolltest du mich sprechen?«, fragte ich und spürte die Bestätigung wie bittere Galle in mir hochsteigen.
Abrupt hörte der Mann mit seiner Gurgelparodie auf. Sein Kopf fuhr nach vorne und in seinen Augen sah ich plötzlich zum ersten Mal eine Emotion aufblitzen – Hass!
»Nein«, flüsterte er leise ins Mikrofon, sodass ich das unappetitliche Gefühl hatte, seine Stimme würde wie ein parasitärer Wurm direkt durch die Kopfhörer in meine Gehörgänge kriechen, um sich dort einzunisten. »Ich wollte mir nur noch einmal deine Visage anschauen, um sie mir einzuprägen.«
»Wieso?«, entgegnete ich mit beißendem Spott. »Stehst du etwa auf gut aussehende Männer mit Glatze? Keine Sorge, im Knast wirst du viele neue Freunde kennenlernen, die sich um dich kümmern werden.«
»Und um dich wird sich der Leichenbestatter kümmern müssen«, zischte er mich so heftig an, dass ihm Speicheltropfen aus dem hasserfüllten Mund spritzten. »Wenn er dein Gehirn vom Boden kratzt, weil ich dir die Birne weggesch…«
»Das reicht jetzt!«, peitschte Mackensens Stimme durch die Sprechanlage, dass wir alle zusammenfuhren. »Er wird uns nichts zu dem Jungen sagen.«
»Darauf kannst du dir deinen Finger in den Arsch schieben«, johlte der Gefesselte so laut, dass ich mir den Kopfhörer herunterzog, ihn aber gleich wieder über meine Ohren stülpte, sonst hätte mich der Rotorenlärm ertauben lassen.
»… schneller draußen, als ihr euch einen runterholen könnt …«, hörte ich mein Gegenüber schmierig lachen.
»Pilot«, sagte Mackensen knapp. »Wo sind wir?«
»Drei Minuten vor dem Ziel«, lautete die prompte Antwort des Gefragten aus der Kanzel vor uns, wobei ich an der Stimme erkannte, dass es sich bei der Person ebenfalls um eine Frau handeln musste.
»Wie hoch sind wir?«, erklang erneut Mackensens Stimme.
»5900 Fuß. Wir befinden uns bereits im Landeanflug«, antwortete die Pilotin sofort.
»Das heißt?«
»1800 Meter, sinkend.«
»Also momentan 1,8 Kilometer?«, vergewisserte Mackensen sich mit knochentrockener Stimme.
»Positiv«, kam die Antwort.
»Operator.«
Noch bevor Mackensen sein Kommando gab, wusste ich, was er vorhatte.
Nein! , schoss es mir durch den Kopf. Nicht so!
»Öffnen Sie die Seitentür!«, befahl Mackensen im knappen Kommandoton.
Einen Moment blieb es still in meinem Kopfhörer, nur das gedämpfte Knattern der Rotoren war zu hören.
»Wie meinen Sie das?« Die Operatorin, die uns auf unsere Plätze gewiesen hatte, drehte sich auf ihrem Stuhl zu Mackensen um, der sie mit maskenhaft starrem Gesichtsausdruck ansah. Es war ihm anzusehen, dass er zu allem entschlossen war.
»So, wie ich es sage«, erwiderte er knapp. »Öffnen Sie die Tür!«
»Pilot«, kam seine nächste Ansage. »Verringern Sie die Geschwindigkeit und halten Sie Position und Höhe.«
»Folkert …«, erklang jetzt die Stimme des jungen Kommissars Freud, die sich dünn und höher als sonst anhörte. »Was hast du …«
»Wiederholen Sie bitte«, forderte die Pilotin Mackensen auf; offenbar war ihr jetzt ebenso klar wie mir, was Mackensen vorhatte.
»Verlangsamen Sie die Geschwindigkeit und halten Sie Position und Höhe!«
Aus den Kopfhörern drang nur das dumpfe Geräusch der Turbine. Die Pilotin bestätigte Mackensens Befehl nicht.
Gott sei Dank , dachte ich und sah angestrengt nach vorne, konnte aber nur jeweils die Schulterpartie der Pilotin und des Co-Piloten erkennen.
»Ich bin Ihr Einsatzleiter!« Scharf, wie ein Glasschneider auf einer Glasscheibe einen Schnitt zieht, klang nun Mackensens Stimme. »Ist das klar?«
»Jawohl«, erwiderte die Pilotin automatisch und militärisch gedrillt.
»Und als Ihr Einsatzleiter gebe ich Ihnen den Befehl, sich hier und jetzt auf Position auf 5’11’’ zu begeben und zu halten. Ich wiederhole: 5 Feet 11 Inches. Bestätigen Sie!«
Es dauerte zwei Sekunden, bis die Stimme der Pilotin im Kopfhörer erklang. »Bestätige: Geschwindigkeit senken, Position auf 5 Feet 11 Inches halten.«
Mein Blick flog zu Mackensen, dessen Gesichtsausdruck unverändert entschlossen wirkte.
Nur Kommissar Freud schien vollkommen irritiert zu sein und immer noch nicht zu kapieren, was sein Chef vorhatte. Er starrte Mackensen entgeistert an.
Er würde doch nicht tatsächlich … und was redete er da von 5 Fuß 11? Ich hatte logischerweise keine Umrechnungstabelle von Zentimeter in Feet im Kopf, wieso auch? Aber die Pilotin hatte unsere Höhe doch mit über 5000 Fuß angegeben, also weit über eineinhalb Kilometer … ich kam nicht mehr dazu, die Ungereimtheiten von Mackensens Anordnungen weiter zu durchdenken, denn die Ereignisse überschlugen sich.
»Und Sie, Operator …«, fuhr er mit unvermindert scharfem Befehlston fort, »Sie öffnen jetzt die Tür.«
Einen Moment lang hörte ich nur wieder das Donnern der Turbine in meinen Kopfhörern, bis ich spürte, dass der Helikopter seine Geschwindigkeit immer weiter drosselte und schließlich in der Luft stehen blieb. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass der Hubschrauber sich im Sinkflug befand, aber das konnte nicht sein, denn hatte Mackensen nicht befohlen, dass …
War ich der Einzige, der merkte, dass wir uns im Sinkflug befanden?
Freud saß noch immer regungslos auf seinem Sitz und schien hin und her gerissen zu sein, ob er sich in Mackensens Befehle einmischen sollte.
Rasch sah ich zu der Operatorin hin, deren Blick angestrengt an ihren Instrumenten zu kleben schien. Mit zusammengepressten Lippen beobachtete sie eine Skala mit Zahlen, die abwärts zu zählen schien.
War das der Höhenmesser?
Wenn ja, was ging hier vor sich?
Plötzlich nahm ich aus den Augenwinkeln schneebedeckte Baumwipfel wahr.
In eineinhalb Kilometer Höhe?
Noch während ich versuchte, die Dinge, die alle gleichzeitig geschahen, zu ordnen und zu sortieren, löste Mackensen seinen Gurt und war mit einem Satz bei seinem Gegenüber, dem gefesselten Verdächtigen, dessen kalte Augen uns noch immer hasserfüllt anstarrten.
»Was willst du, Schwuchtel?«, kreischte der Gefesselte erschrocken auf, als Mackensen ihm an den Bauch griff und den Sicherheitsgurt löste. »Hau ab!«
»Operator!«, erklang Mackensens Stimme erneut. »Öffnen Sie die Tür. Das ist ein Befehl!«
Einen Moment war wieder nur das Geräusch der Turbine zu hören, bis sich die junge Frau, die als Operatorin eingesetzt war, aus ihrer Erstarrung löste und sich vorbeugte, um mit zwei routinierten Handbewegungen einen Sicherungshebel umzulegen und die Tür zu entriegeln.
Mit beiden Händen schob sie die Seitentür auf.
Der eisige Wind, der durch die dunkle Öffnung in die Kabine fuhr, nahm mir fast den Atem. Ein Wirbelsturm kalter, nasser Schneeflocken wirbelte durch die Kabine, als hätte Frau Holle einen manischen Anfall.
»Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass ich von unserem Manöver Meldung machen muss und die Notwendigkeit Ihrer Anordnung in keiner Weise anerkenne. Mit anderen Worten: Ich erhebe scharfen Widerspruch Ihrer Anordnung gegenüber«, teilte die Pilotin über Kopfhörer Mackensen mit klarer und deutlicher Stimme mit. »Wir haben die befohlene Höhe 5 Feet 11 Inches erreicht.«
»Ich habe Ihren Vorbehalt zur Kenntnis genommen«, stieß Mackensen zwischen zwei Hieben hervor, die er dem Gefesselten gerade verpasste, als der mit seinen gefesselten Beinen nach Mackensen trat. »Tun Sie einfach, was ich Ihnen befohlen habe. Während eines Einsatzes haben Sie Ihrem Einsatzleiter nicht zu widersprechen. Ist das klar?«
»Positiv«, erklang die Stimme der Pilotin im Kopfhörer, die sich gleichzeitig zu uns umwandte, was ich aber nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, da ich gebannt auf das Geschehen vor mir blickte. Ich konnte nicht glauben, was ich gerade sah.
Mit beiden Händen packte Mackensen den gefesselten Mann und wuchtete ihn mit einer kraftvollen Bewegung aus seinem Sitz hoch. Mit hartem Gesichtsausdruck und einer wilden Entschlossenheit zog er den mutmaßlichen Entführer quer durch die Kabine zur offenen Tür, durch deren Öffnung die Schneeflocken wie ein aufgescheuchter Wespenschwarm ins Innere stürmte.
»Du sagst mir jetzt, wo der Junge ist!«, fuhr Mackensen den Gefesselten an, während er ihn zu dem dunklen Abgrund schleifte, der sich vor der Seitentür des Helikopters auftat.
»Weiß nicht«, kreischte der Mann mit den gefesselten Händen voller Panik.
Auch wenn Mackensens Alleingang, der ihn seinen Job kosten konnte, gegen alle mir bekannten Verhörpraktiken verstieß, wünschte ich mir nichts mehr, als dass dieser schmierige Typ endlich damit rausrückte, wo sich der entführte Junge befand. Jetzt war die beste Gelegenheit für ihn.
»Wo ist der Junge?« Mackensen kniete neben der offenen Tür und hielt den auf dem Rücken liegenden Mann im Würgegriff.
»Hören Sie auf!«, kreischte dieser und strampelte wild mit den Füßen, was ihm aber nicht weiterhalf, weil sie mit Fußfesseln zusammengebunden waren. »Das dürfen Sie nicht machen!«
»Weiß ich«, entgegnete Mackensen kalt. »Aber ich und jeder hier im Hubschrauber will, dass der Junge nicht in einem Erdloch erfriert. Und du Mistkerl bist im Moment der Einzige, der mir sagen kann, wo sich der Junge befindet. Keiner meiner Leute wird einem Kindesmörder eine Träne nachweinen, wenn ich dich jetzt rauswerfe.«
»Das darfst du nicht!«, schrie der Mann und versuchte, von Mackensen wegzurollen.
Der aber packte den heftig Zappelnden am Hosenbund und schob ihn ein Stück über die Kante hinaus, sodass dessen Kopf und Schultern ins Freie ragten.
»NEIN!«, kreischte der Mann mit sich überschlagender Stimme. »Bitte tun Sie das nicht. Bitte, bitte!«
»Wo ist der Junge?« Mackensen schob den Mann, der jetzt panisch seinen Oberkörper aufbäumte, um sich in die Kabine zu retten, bis zur Hüfte aus der Hubschrauberöffnung und kniete sich auf die Unterschenkel des Mannes.
»Ich weiß es nicht!«, schrie der Mann hysterisch. »Ich weiß es wirklich nicht. Sonja ist mit ihm abgehauen.«
»Sonja?« Mackensen nahm seine Knie von den Beinen des Mannes und hielt ihn jetzt nur noch mit der einen Hand am Hosenbund und mit der anderen an einem Bein. »Wer ist Sonja?«
»Meine Schwester«, kreischte er. »Holen Sie mich wieder rein!«
»Und wer ist der Dritte im Bund?«, fragte Mackensen ungerührt.
»Nicht!« Der Mann wand sich unter seinem Griff.
»Wer ist der Dritte?«
»Arne.« Die Stimme des Mannes drohte sich vor Panik zu überschlagen. »Mein Kumpel Arne, Sonjas Freund.«
»Und du, wie heißt du?« Mackensen ließ den Hosenbund des Mannes los, der sich stocksteif machte, als er spürte, dass er von Mackensen nur noch am Bein gehalten wurde.
»Mario … Mario Kuhn«, kreischte der Mann jetzt vollkommen hysterisch. »Hol mich rein – BITTE!«
»Wusste ich doch, dass dir frische Luft guttut«, sagte Mackensen spöttisch und erhob sich.
Das Bein des Mannes ließ er los.
Einen Moment lang lag der Mann waagerecht, dann kippte sein Oberkörper in Zeitlupe nach unten weg, während sich die gestreckten Beine in die Luft hoben.
Lässig schob Mackensen seinen Fuß unter den Oberschenkel des Mannes und hob mit seiner Stiefelspitze dessen Beine an, sodass sich das Gleichgewicht des wie am Spieß brüllenden Mannes verschob.
Kopfüber stürzte der Mann ins Nichts.
Abgesehen vom Rotorenlärm war es totenstill in der Kabine.
Fassungslos starrte ich Mackensen an. Ich konnte nicht glauben, was sich gerade vor unseren Augen abgespielt hatte.
Das konnte doch nicht sein, dass Mackensen vor Augenzeugen einen kaltblütigen Mord beging und einen der Täter, unsere einzige heiße Spur, die zu dem Jungen führen konnte, einfach aus dem Hubschrauber warf.
»Und jetzt wird er uns auch noch den Rest erzählen, nämlich wo wir seine Schwester finden!«, sagte Mackensen mit zufriedenem Gesichtsausdruck und drehte sich zur offenen Tür, aus der noch immer Schnee hereinwirbelte. »Bis später.«
Mit einem Satz sprang Mackensen ins Dunkle hinaus.