Mittwoch, 27. Juli

Schemenhafte Aufnahmen einer Überwachungskamera, schwarz-weiß. Ein Mann – recht groß, Anorak, Strickmütze, den Kopf gesenkt – läuft einen Gang entlang auf die Kamera zu. Es ist ein luxuriöser Korridor: Wände und Boden aus Marmorfliesen, drei große Fotografien von Stränden auf der rechten Seite. Links zwei Türen. Auf jeder die Apartmentnummer in Schwarz mit Schablone aufgemalt, fast die ganze Tür ausfüllend: 7, 8. Cooler Touch. Der Mann bleibt vor Nummer acht stehen, wendet der Kamera seinen Rücken zu. Sein Kopf ist nach vorne gebeugt, als würde er auf Geräusche in der Wohnung achten. Dem Zucken seiner Schultern nach ist er jedoch mit seinen Händen beschäftigt. Vierzig Sekunden vergehen. Die Tür springt auf. Der Mann rollt seine Strickmütze herunter, die zu einer Sturmhaube vor seinem Gesicht wird. Blickt zur Überwachungskamera hoch.

»Nette Geste«, sagte die Frau, die sich das Videomaterial auf ihrem Laptop ansah. Sie redete laut, obwohl sie allein war. Lächelte. Drückte mit einer behandschuhten Hand auf die Tastatur. Sah ihr eigenes Spiegelbild im Bildschirm: ihre hohen Wangenknochen, ihre nachgezeichneten Augenbrauen, die pflaumenfarbenen vollen Lippen. Ihr Latte-Gesicht über dem des Mannes mit der Sturmhaube. Sie schürzte die Lippen zu einem Kuss. Mmmh.

Er war gut, der Mann mit der Sturmhaube. Nur ein oder zwei weitere Leute, die sie kannte, wären in der Lage gewesen, das so schnell zu machen wie er. Sie lächelte. Hob die behandschuhte Hand, um sein Gesicht zu berühren. »Mace Bishop«, sagte sie. »Willkommen in meiner Welt.«

Sie drückte auf Wiedergabe. Der Mann war jetzt in der Wohnung. Die Aufnahmen der Überwachungskamera zeigten den leeren Gang, beide Türen waren geschlossen. Nach einer Minute schaltete sich der automatische Timer des Korridors ein, und die Lichter gingen aus. Sie wartete. Drei Minuten später gingen die Lichter wieder an. Nun war der Mann zu sehen, wie er die Wohnungstür schloss, ohne Eile, den Rücken der Kamera zugewandt. Lief den Gang entlang, am Lift vorbei zum Treppenhaus, fasste nach oben, um sich die Sturmhaube abzuziehen, und trat aus dem Sichtfeld der Kamera.

Er hatte sich genauso verhalten, wie es zu erwarten gewesen war. Hatte nicht widerstehen können, ihren Schlupfwinkel auszuspionieren.

Sie warf die DVD mit dem Videomaterial aus, die ihr die Sicherheitsfirma für den Apartmentblock als kleine Gefälligkeit überlassen hatte. Hatte den Leuten erklärt, dass es sich um einen Freund handelte, der ihr einen Streich spielen wollte.

»Toller Freund, muss schon sagen, toller Streich«, hatte der Boss der Sicherheitsfirma gemeint und sich keine große Mühe gegeben, seinen Blick von ihrem Dekolletee abzuwenden. »Sie kennen offenbar Leute mit interessanten Fähigkeiten, Miss February.«

»Da haben Sie recht«, hatte sie erwidert und war in ihrem langen Mantel hinausstolziert, wobei ihr die schwarzen Haare über den Kragen gefallen waren.

Sheemina February schob eine weitere DVD ein. Bilder ihres eigenen Überwachungssystems. Der vermummte Mann war in ihrer Wohnung zu sehen, aufgenommen von einer Infrarotkamera, die Farben gedämpfte Schwarz- und Blautöne. Die Sturmhaube dunkelblau, der Anorak schwarz, der Mann in Handschuhen, Jeans und Turnschuhen. Unauffällig. Regungslos lauschend.

Keine Pistole.

Was bedeutete, dass er nicht davon ausgegangen war, sie zu Hause anzutreffen. Er sondierte das Terrain. Vorsichtiger Mace. Berechenbarer Mace. Neugieriger Mace. Wie sie es vorausgesehen hatte. Ihn anlocken, um dann den Todesschuss abzugeben. Es war beinahe zu einfach.

Der Mann auf dem Bildschirm trat mit einer Taschenlampe in ihr weitläufiges Wohnzimmer. Strich mit den Fingern über die Rückenlehne ihres weißen Sofas, lief über die weißen Flokatiteppiche zu ihrem Schreibtisch, öffnete Schubladen, wühlte in ihren Papieren. Ging weiter. Ließ den Lichtstrahl zu hastig über die Bilder an den Wänden gleiten, um sie wahrzunehmen. Hielt aber an der kleinen Vitrine mit messerscharfen Rasierklingen inne, die über ihrem Schreibtisch angebracht war.

Klingen, die einmal berühmte Männer rasiert hatten. Klingen, die sie aufgetrieben und für die sie viel bezahlt hatte. Eine Klinge hatte Cecil Rhodes gehört. Eine andere einem Mörder namens Joe Silver. Hatte seinen Namen eingraviert. Ein Historiker vermutete, dass es sich bei diesem Mann um Jack the Ripper handelte. Das gefiel ihr – der posthume Ruhm des Goldgräber-Zuhälters und Schiebers Joe Silver.

Jede der sechs Klingen ihrer Sammlung besaß eine Geschichte. Allerdings gab es jetzt nur noch fünf. Die fehlende Klinge, die ihres Großvaters, war dazu benutzt worden, um den Hals von Mace Bishops Frau durchzutrennen. Zuvor – ein Vierteljahrhundert zuvor – hatte ihr Großvater die Klinge benutzt, um sich damit die Pulsadern aufzuschneiden. Lieber sterben als aus seinem Haus geworfen werden. In gewisser Weise, glaubte Sheemina, war dieser spezielle Schlitzer ein Instrument der Geschichte – eine Manifestation des Schicksals. Schade, ein solches Familienerbstück zu verlieren, aber das ließ sich nicht vermeiden. Die Rasierklinge lag vermutlich in irgendeiner Kiste mit Beweisen und wartete auf einen Obduktionsbericht. Keine Sorge. Es gab sicher Möglichkeiten, die Klinge wieder zurückzubekommen.

Sie richtete den Blick erneut auf Mace Bishop. Wie er auf den leeren Fleck ihrer Halsdurchtrenner-Sammlung starrte. Wie ihm klar wurde, dass die Klinge, mit der seine Frau umgebracht worden war, einmal als Ornament an ihrer Wand gehangen hatte. Welche Gefühle löste das wohl in ihm aus? Zorn? Ließ es ihn rot sehen? Was dachte er, dieser Mann? Mace Bishop in ihrer weißen Festung, umgeben von ihren Dingen. Dieser Mann, der sie töten wollte. Getrieben von Rache. Hatte er auch nur die leiseste Ahnung, warum sie ihm wehtun wollte? Warum sie ihn in den Ruin zu treiben gedachte? Plante, sein Leben zu zerstören? Das würde er bald. Wenn sie ihr Ziel erreicht hatte, würde er wissen, warum.

Sie beobachtete ihn, wie sie das schon oft getan hatte, seit er bei ihr eingebrochen war. Beobachtete, wie er ihr Wohnzimmer verließ, ihr Schlafzimmer betrat. Das war der Moment, der sie angespannt werden ließ, aufgeregt. Der ihr Herz zum Rasen brachte. Der ein Kribbeln durch die Finger ihrer zerschmetterten Hand jagte. Die Hand, die er mit einem Holzhammer zertrümmert hatte. Damals.

Sie schlug die Beine übereinander.

Da war er, in ihrem Schlafzimmer. Der Lichtstrahl wanderte über ihr Bett. Über das Nachttischchen mit dem Digitalwecker. 04:20. Über das Telefon auf der Ladestation, das Foto in einem Silberrahmen. Das einzige Foto in der ganzen Wohnung. Es zeigte Mace Bishop in seiner Speedo nach einer Schwimmsession im Pool des Sportstudios. Eine von mehreren Aufnahmen, die sie heimlich von ihm gemacht hatte. Sie hatte das Foto dort in der Hoffnung platziert, dass es ihm den letzten Verstand rauben würde.

Aber er schaute gar nicht genau hin, sondern ließ den Strahl zu ihren Einbauschränken weiterwandern. Das Licht brach sich in ihrem Spiegel und löschte für einen Moment das Bild der Kamera. Dann sah sie ihn wieder, wie er die Türen zu ihren Kleidern, Hosen und Jacken öffnete. Wie er einen Blick auf die Schuhregale im unteren Teil des Schranks warf. Er strich über eines ihrer Abendkleider. Sie stellte sich vor, wie sie es trug. Wie seine Hand über ihren Rücken glitt. Manchmal dachte sie so an ihn: seine Hände fest auf ihren Brüsten, fest auf ihren Pobacken, sie entschlossen an sich ziehend. Sie schüttelte den Kopf, um das Bild zu verscheuchen. Vor Erregung leicht erhitzt.

Da war der Mann, den sie töten wollte, und er hatte die Hände in ihrer Unterwäsche. Zog einen ihrer Tangaslips hervor. Satin, rot. Hielt ihn hoch, zerknüllte ihn in seiner Faust. Er warf ihn wieder in die Schublade. Setzte sich auf den Rand des Bettes, hüpfte auf und ab, als ob er testen wollte, wie bequem es war. Fiel auf die Kissen zurück, ließ die Hand unter sie gleiten, fand ihr seidenweiches schwarzes Negligee. Hielt es hoch. Sein Lichtstrahl glitt von dem Kleidungsstück zur Fotografie auf ihrem Nachttischchen. Schade, dass sie seine Miene nicht erkennen konnte.

Er ließ das Negligee fallen und nahm das Foto, um es sich genauer anzusehen. Richtete die Taschenlampe auf das Glas. Starrte sich selbst an – diesen kraftvollen, triefendnassen Körper, diese knappe Badehose. Stellte das Foto vorsichtig auf den Nachttisch zurück. Sprang rasch vom Bett auf, schloss die Schubladen im Schrank, machte die Türen wieder zu. Stopfte das Negligee in die Tasche seines Anoraks und verließ eilig ihre Wohnung. Der Bildschirm wurde dunkel. Die Kamera schaltete sich aus.

Sheemina February holte einen Weißwein aus dem Kühlschrank. Nahm sich Zeit, ihn zu entkorken. Dachte darüber nach, wie es sie erregte, dass er ihre Unterwäsche genommen hatte. Es hatte etwas Heimliches. Aufregendes. Etwas Lustvolles.

Sex und Tod.

Sie schenkte sich ein Glas ein. De Grendel Sauvignon Blanc. Probierte. Ließ den Wein einen Moment lang in ihrem Mund, ehe sie ihn schluckte. Dann machte sie es sich bequem. Die Sache war die: Warum hatte er so auf das Foto reagiert, als ob es kaum etwas bedeutete? Sie hatte einen Wutausbruch erwartet, zerschmettertes Glas, ein herausgerissenes Bild. Deshalb hatte sie es dort aufgestellt. Stattdessen wurde er zu Mr Ice. Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und spielte die Aufnahmen noch einmal ab.

Nachdem sie etwa bei der Hälfte angekommen war, klingelte ihr Handy.

»Mart«, sagte sie, als sie abhob.

»Wollte mich nur melden«, erwiderte Mart Velaze. Im Hintergrund hörte man Musik und Stimmen. Mart, der Behördenmann. Geheimdienst. Er hatte sie eines Tages überraschend angerufen, um sie zu informieren, dass ein gewisser Deal noch besser abgelaufen war, als sie das erwartet hatte. Ein Deal, bei dem es um Mace Bishop gegangen war. Mart, der in den letzten Tagen die Dinge auf geradezu vollkommene Weise erledigt hatte, der effiziente Mart, der sich um ihre Angelegenheiten kümmerte. Der Mann mit dem strahlend weißen Lächeln. Wobei man nie wusste, ob das Lächeln freundlich oder tödlich gemeint war. Der einzige Schwarze, dem Sheemina February begegnet war, der nie versucht hatte, sie auszutricksen. Was sie stutzig machte. Warum nicht? »Ich halte die Augen offen«, fügte er hinzu.

»Nicht nötig.«

»Gehört zum Service.«

»Nicht in diesem Fall.« Sie bedeutete ihm, es gut sein zu lassen, und bemühte sich um einen leichten Tonfall. »Wo sind Sie?«

»Nicht weit weg. In einem Café dem Strand gegenüber. Ich könnte vorbeikommen.«

»Besser nicht.«

»Falls was schiefläuft.«

»Es wird nichts schieflaufen.«

»In einer solchen Situation weiß man das nicht.«

»Man weiß das nie, Mart. Aber Sie können schon mal mit dem Zinken beginnen.«

»Er wird aufpassen. In der Todeszone.«

»Denken Sie etwa, ich nicht?«

Sheemina February wartete auf eine Antwort. Hörte die Musik im Hintergrund. Tina Turner mit der einzigen Tina Turner, die noch gespielt wurde: Simply the Best.

»Ich rufe Sie dann also an«, sagte sie. »Wie wir das vereinbart haben.«

»Okay«, erwiderte er. »Hauptsache, Sie sind die Erste. Geben Sie ihm keine Chance.«

»Ich bin ein großes Mädchen, Mart. Ich habe seit langem darauf gewartet. Jetzt werde ich die Nerven bestimmt nicht verlieren.«

Pause, in der Tina Turner zu Wort kam.

»Bis dann.«

Mart sagte: »In Ordnung.«

Sie legte auf. Brauchbarer Bursche, dieser Mart.

Er hatte ihr die Waffe besorgt. Der .38er Smith & Wesson neben ihrem Laptop. Der Revolver, der in den nächsten sechs, sieben oder acht Stunden immer in ihrer Reichweite sein würde – wie lange es auch dauern mochte, bis Mace Bishop auftauchte.

Sheemina February nahm den Wein mit auf den Balkon hinaus. Blickte über den Ozean – ein glasig wirkendes Meer, das donnernd gegen die Felsen unter ihr schlug. Die Sonne war fast untergegangen und ihre Wärme verschwunden. Morgen, wenn sie wieder aufging, würde alles anders sein.

Zwischen dann und jetzt musste sie nur noch auf ihn warten. Auf Mace Bishop. Warten machte ihr nichts aus, darin war sie geübt.