Samstag, 23. Juli
2
»Mr Oosthuizen«, sagte die Stimme. »Ich glaube, Sie brauchen meine Hilfe.«
Magnus Oosthuizen warf einen Blick auf sein Handydisplay: Nummer unterdrückt.
»Wer spricht da?«, fragte er.
»Für den Moment ist es egal, wer ich bin«, erklärte die Stimme.
Eine weibliche Stimme, klar und direkt. Leichter Akzent auf den Vokalen, was sie zu voll, zu betont klingen ließ. Kapstadt. Wahrscheinlich coloured, vermutete er. Eine dieser gebildeten Frauen, die sich krampfhaft darum bemühten, die nasale Eintönigkeit ihrer Sippe hinter sich zu lassen.
»Wichtig ist, dass ich über Ihr Waffensystem Bescheid weiß und dass Sie da eine väterliche Hand brauchen. Oder sollte ich sagen, eine mütterliche? Im Ernst. Wie haben Sie es so lange ohne Hilfe mit der Regierung geschafft? Aber Ihnen ist ja sicher klar, dass es nicht mehr weitergeht.«
»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, sagte Oosthuizen. »Ich lege jetzt auf.«
»Wenn ich Sie wäre«, meinte die Anruferin, »wäre ich zumindest neugierig. Ich würde wissen wollen, wer diese geheimnisvolle Person ist, die meine Handynummer hat. Und woher sie von dem Waffensystem weiß. Woher sie weiß, dass ich früher einmal das Vertrauen der richtigen Regierungsleute besessen habe. Und ich würde wissen wollen, was sie mit der Formulierung meint, dass ›es nicht mehr weitergeht‹. Bei so viel Geld, das auf dem Spiel steht, wäre ich nervös. Ich würde zwar ein kleines Theater machen und mich aufregen, aber ich würde diese unerwartete Unterhaltung nicht … sagen wir mal … ergebnislos abbrechen.«
Magnus Oosthuizen schloss die Augen. Massierte sich das Nasenbein. Ihm lief ein kalter Schauder über den Rücken, und er drehte die Heizung höher. Diese feuchten Kapstadt-Winter krochen einem in die Knochen.
»Wer sind Sie?«
»Eines sollten Sie gleich über mich wissen, Mr Oosthuizen. Ich wiederhole mich nicht gerne.«
Oosthuizen stand von der Couch auf und stellte sich ans Fenster, blickte in den Garten hinaus. Ein langer heller Rasen, umrahmt von Lavendelbüschen. Am anderen Ende der Gärtner, der gerade Laub aus dem Pool fischte. Er sah so aus, als könnte er genauso gut eine Gondel durch venezianische Kanäle steuern. John, der Malawier. Die Bewegung hatte er sich wahrscheinlich in seiner Kindheit am See angewöhnt. Oosthuizen machte sich mit Vorliebe über seine Untergebenen lustig.
»Soll ich Ihnen behilflich sein, Mr Oosthuizen? Soll ich einige dieser nagenden Fragen für Sie beantworten?«
Nagend. Offenbar wirklich eine Frau, die sich nach oben gearbeitet hatte.
»Ja«, sagte er. »Von mir aus.« Er ließ sich wieder nieder. Chin-Chin, sein Chihuahua in einem karierten Jäckchen, kratzte mit der Pfote an seinem Hosenbein, um hochgehoben zu werden. Sah ihn aus riesigen Augen an. Wimmerte. »Ag, nein, Kleiner«, flüsterte er dem Hund zu und schob ihn weg. Chin-Chin kam zurück und schnappte nach seinen Fingern.
»Lassen Sie mich als Erstes einmal den Namen Mo Siq nennen.«
»Was soll mit ihm sein?«
Der Hund japste schrill und aufdringlich. Oosthuizen beugte sich herab, um ihn hochzuheben und auf seinen Schoß zu setzen.
»Ist das ein Chihuahua?«, wollte die Frau wissen.
»Ja.«
»Schreckliche Hunde«, meinte sie. »Typisch nördlicher Vorort.«
»Mrs«, sagte Oosthuizen, »ich …«
»Ms. Wir kommen später noch zu meinem Namen. Jetzt zu Mo Siq. Spitzenmann der Regierung bei Waffengeschäften, ehe er einem Attentat zum Opfer fiel. Davor Ihr Berater. Der Ihnen Vorschläge unterbreitete. Aufpasste. Als Insider tätig war. Keine Ahnung, wie es Ihnen gelungen ist, in den letzten Jahren ohne ihn zurechtzukommen, aber ich gratuliere noch im Nachhinein, Mr Oosthuizen. Sie haben das Schlangennest überlebt. Das war sicher schwer. Und verlangte geschicktes Jonglieren. Vielleicht sind Sie ja ein Jongleur. Bisher irgendwelche Fragen?«
»Woher haben Sie meine Nummer?«
Die Frau lachte. Ein leichtes, sanftes Lachen. »Das war kein Problem. Sie befindet sich auf Mos Laptop. Lassen Sie es mich so formulieren: Mos Laptop war eines der Dinge, die ich nach seinem Tod geerbt habe.«
»Sie haben es gestohlen.«
»Geerbt, Mr Oosthuizen. Sie sind sich offenbar bestimmter Verhältnisse nicht bewusst. Also …« Sie hielt inne, und er hörte, wie Flüssigkeit in ein Glas gegossen wurde. »Prost, Mr Oosthuizen …« Er hörte sie einen Schluck trinken. »Nichts geht über einen guten Sauvignon Blanc.« Noch ein Schluck. Oosthuizen warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Wein um elf Uhr vierzig an einem Dienstagvormittag. »Also, Mr Oosthuizen, was Sie von mir wissen wollen sollten …« Ihre Stimme wurde nun geschmeidiger, öliger. »… ist, was ich weiß und was Sie nicht wissen.«
»Hören Sie, Ms …«
»Nein, jetzt hören Sie mir zu, Mr Oosthuizen. Es wird sich für Sie lohnen. Ich weiß, dass die Europäer ein Budget auf einem Unterkonto als Teil ihrer Ausschreibung für das Waffensystem haben.«
»Das ist kein Geheimnis.«
»Mit Unterkonto meine ich Gelder, die nicht zimperlich erworben wurden. Bestechungsgelder. Ohne Gegenleistungen in Form von Edelstahl. Auch keine Aluminiumhütten. Keine Kondomfabriken. Geld in den Hosentaschen der Regierungsleute. Ich meine Konten auf den Caymans. Oder auf den Kanalinseln. Island, Barbados – wo auch immer sie ihre Hosentaschen haben. Die Art von Hosentaschen, die Sie nicht füllen können, Mr Oosthuizen. Weshalb Sie mich brauchen.«
»Und was können Sie tun?«, schnaubte Oosthuizen verächtlich und wand sich, um den Hund von seinem Gemächt zu schieben. Chin-Chin beschwerte sich lautstark.
»Eine ganze Menge«, erwiderte die Stimme. »Glauben Sie mir. Zum Beispiel Ihren Wissenschaftler Max Roland am Leben halten. Ihn gegen einen anderen austauschen. Ihnen sogar helfen, ihn nach Hause zu bekommen.«
»Wo sind Sie?«, fragte Oosthuizen.
»In der gleichen Stadt wie Sie. Wie wäre es mit einem Drink heute Nachmittag? An der Waterfront? Im Den Anker? Wir haben viel zu besprechen. Kommen Sie vorbei.«
»Wie soll ich Sie erkennen? Ich weiß nicht einmal Ihren Namen.«
»Sie werden mich nicht erkennen. Und meinen Namen wissen Sie tatsächlich nicht. Das ist natürlich alles sehr geheimnisvoll, aber so bin ich nun mal, Mr Oosthuizen. Das ist mein Stil. Sagen wir siebzehn Uhr? Ich bin die Blondine mit der Rose. Keine Sorge, ich erkenne Sie.«
3
Sheemina February legte auf.
Mr Magnus Oosthuizen. Einer jener Menschen, die alles überlebten. Wie sie selbst. Wie sie war auch er jemand, der das System zu nutzen verstand. Allerdings hatte er keine Ahnung, dass ihn das System bald in die Mangel nehmen würde. Und den attraktiven Max Roland obendrein. Den Frauenschwarm.
Sie legte das Telefon beiseite und trat mit ihrem Glas Wein auf den Balkon hinaus. Legte ihre steife linke Hand auf das Chromgeländer. Blickte über das Meer, das vom letzten Sturm noch immer aufgepeitscht war, von braunem Schaum durchzogen, und gegen die Felsen drei Stockwerke unter ihr schlug. Sie hätte die unterste, tiefste Wohnung auch kaufen können. Hatte diese an einem ruhigen Tag mit einem leisen Plätschern besichtigt. Bezaubernd. Verführerisch. So nahe neben dem Meer zu sein. Der Balkon dort gab einem das Gefühl, auf einem Boot zu sein. Aber sie kannte das Meer bei Kapstadt, wusste, wie es ansteigen und mit welcher Wucht es zerstören konnte. Noch war nichts passiert, doch höchstwahrscheinlich würde es das eines Tages tun.
Sie trank einen Schluck Wein. Behielt ihn einen Moment lang im Mund, um den Geschmack voll auszukosten.
Das Traurige an der Sache war, dass sie ihr Nest verlassen musste. Ihre weiße Festung, diese Felsenhöhle. Eine luxuriöse Höhle in einem Kliff voll teurer anderer Höhlen, die Filmstars, reichen Geschäftsleuten, Kartelltussen und erfolgreichen Models mit zu viel Geld, das sie viel zu schnell verdient hatten, gehörten.
Aber damit ihr Plan aufging, musste sie die Wohnung verlassen und untertauchen. Wie die Schwarze Witwe, die sich versteckte und auf ihr Opfer wartete. Auf ihr Opfer Mace Bishop.
Sie liebte die Wohnung seit vielen Jahren. Gestattete niemandem, sie zu betreten. Nicht einmal ihren jeweiligen Liebhabern. Sie betrachtete sie als Festung und als Zufluchtsort. All das hatte sich jedoch verändert, seit sie zu einem Spinnennetz geworden war.
Sie drehte sich zum Wohnzimmer hin. Zu den weißen Sofas zwischen den weißen Flokatiteppichen auf dem Eschenparkett. Auf den meisten Oberflächen standen weiße Votivkerzen, die sie abends anzündete. Ein weiß getünchter Esstisch und ebensolche Stühle. Ihr Nest. Ihr großes Reich aus Weiß.
Sie hingegen trug Schwarz: Stiefel, Hose, Rollkragenpulli. Einen schwarzen Lederhandschuh an ihrer gequälten Hand, wenn sie ausging. Ein langer schwarzer Mantel gegen die Kälte. Manchmal ein Paschmina-Schal, der lose herabhing. Um des Flairs willen. Für ihre Eleganz. Schwarz, um das Eisblau ihrer Augen zu verstärken. Schwarz in dieser hellen, weißen Welt. Außer ihren kurzen blonden Haaren. Doch die waren nur vorübergehend blond, eine Art Verkleidung. Weder ihre Farbe noch ihr Stil. Nur eine Zwischenlösung. Wenn sich die Zeiten wieder geändert hatten, würde sie zu ihrem schwarzen Bob zurückkehren.
Sie trank einen weiteren Schluck Wein. Was für ein Wunder das Leben doch war.
Sheemina February lächelte ihrem Spiegelbild in den Scheiben des Panoramafensters zu. Strich sich ihre blonden Haare aus dem Gesicht. Manchmal spielte einem das Leben in die Hände … in die Hand. Magnus Oosthuizen und Max Roland waren Topkandidaten für die Dienste von Mace Bishop. Wie praktisch. Und das zu einer Zeit, in der Mr Bishop vor Trauer kaum aufrecht stehen konnte, vor Trauer um seine hinreißende Frau Oumou. Und zugleich langsam seine Tochter verlor. Den armen Mann hätte es zu keinem ungeeigneteren Moment treffen können. Vorausgesetzt, es gelang ihr, ihm das Ganze zuzuschieben – was ihr sicher gelingen würde. Magnus Oosthuizen würde formbar sein wie Ton. Wie der Ton, den die entzückende Oumou für ihre kleinen, niedlichen Töpfereien verwendet hatte.
»Du bist eine perfekte Vermittlerin, Sheemina«, sagte sie laut. »Du solltest Provision verlangen.«
Sie ging in die Wohnung zurück und schloss die Schiebetür. Auf ihrem Laptop waren Bilder zu sehen, die Mart Velaze von Max Roland geschossen hatte. Fotos von einem nackten Max Roland. Der Hintergrund war weiß gefliest. Die Hände hielt Max Roland über den Kopf, die Handgelenke waren mit Plastikriemen an einen Duschkopf gefesselt. Die Haltung brachte seinen Körperbau wunderbar zur Geltung: die Linien seiner Arme, seiner Brust, seines flachen Bauchs, seiner kräftigen Oberschenkel. Allerdings waren seine Waden zu dünn. Ein reizender Körper, dessen Waden verbessert werden konnten. Ein Läufer, wie man ihr gesagt hatte. Manchmal hatten Läufer überraschend schmale Waden. Auch Schwimmer. Mace Bishop etwa. Für einen Langstreckenschwimmer hatte er schmale Waden. Je länger sie den Körper von Max Roland betrachtete, desto stärker erinnerte er sie an Mace Bishop. Vielleicht lag daran seine Anziehungskraft.
Sie beugte sich näher über den Laptop.
Eine Serie von vier Fotografien, die innerhalb einiger Stunden gemacht worden waren. Auf dem ersten Bild steckte noch Kraft in Max Rolands Körper. Sein Gesicht spiegelte Resignation wider, die Füße standen fest auf dem Boden. Auf dem zweiten: Sein rechtes Knie war angewinkelt, um eine Stütze an der Wand zu finden. Etwas begann in seinem Gesicht – eine Anspannung um die Augen, ein leichtes Öffnen der Lippen. Das nächste Bild zeigte, wie er sich mit einer Hand an den Duschkopf klammerte, als ob er versuchte, sich aufrecht zu halten. Der Mund stand leicht offen. Sie vermutete, dass er keuchte. Sheemina February zoomte auf seine Nasenlöcher, die sich mehr und mehr weiteten. Seine Lippen waren außerdem trocken. Auf dem dritten Bild konnte sie seine Zungenspitze sehen. Und seine Augen wirkten jetzt wild – schwarze kleine Pupillen, die nach links starrten. Auf dem vierten Foto war er nass, die blonden Haare klebten auf seiner Kopfhaut, Tropfen hingen in seinen Brusthaaren. Die Augen geschlossen, der Mund offen. Man hatte das Wasser aufgedreht, um ihn wiederzubeleben, doch es hatte nichts genutzt. Er baumelte an dem Duschkopf, sein ganzes Gewicht zerrte an seinen Handgelenken, sein Körper wölbte sich nach vorne. Seine Füße unter ihm zuckten. Er musste große Schmerzen haben. Sheemina February nahm an, dass es maximal vierundzwanzig Stunden gedauert hatte, um ihn in diese Verfassung zu bringen. Wahrscheinlich mit Hilfe von etwas, was man auf den Bildern nicht sah. Ein paar Schläge mit einem Elektroschocker wirkten oft wahre Wunder.
Sie stellte sich Mace Bishop in diesem Zustand vor. In dieser Position?
Sie zoomte auf Max Rolands Genitalien. Bild eins: Hier war der Hodensack noch fest und der Penis zurückgezogen. Erinnerte sie an eine Muräne. Nummer zwei dann: Der Sack war eingefallen, das Glied durch die Haltung nach vorne gedrückt. Auf dem dritten Bild: herabhängend, dünn und nutzlos. Schließlich wie eine verschrumpelte Frucht, die zu lange am Baum gehangen hatte – violett angelaufen, von Wespen und Fliegen zerstochen.
Sheemina February schloss die Datei und öffnete das Dokument mit den Informationen über Max Roland. Eine Stunde lang las sie darin und war so absorbiert davon, dass sie sogar vergaß, sich Wein nachzuschenken.
Danach machte sie sich zu Mittag einen Salat und trank noch ein Glas Sauvignon Blanc. Max Roland und Magnus Oosthuizen würden zweifellos perfekte Klienten für Mace Bishop sein. Wie seltsam die Welt doch funktionierte. Und wie angenehm es manchmal sein konnte.
Sie holte die Fotografie von Mace Bishop aus ihrer Handtasche, die sie dort in einer Plastikhülle aufbewahrte. Mace in einer schwarzen Speedo, wie er gerade dabei war, in den Pool zu springen, in dem er dreimal die Woche seine Bahnen zog. Wo sie hinging, um ihn zu beobachten, wenn sie das Bedürfnis danach verspürte. Um ihn zu beobachten, ohne dass er etwas merkte. So wie auch das Foto heimlich entstanden war. Er hatte insgesamt eine gute Figur. Vielleicht schon ein wenig zu kräftig um die Taille, aber ansonsten fit. Sie hielt das Bild mit den Fingern ihrer rechten Hand hoch.
Um sechzehn Uhr fünfzehn verließ Sheemina February ihre Wohnung. Durch eine Fernbedienung aktivierte sie vom marmorgefliesten Flur aus die Alarmanlage. Fuhr mit dem Lift zwei Etagen hinauf und lief dann die Treppe zur Dachgarage hoch. Drei Autos in den Buchten für Besucher. Außerdem der Mercedes ihres Nachbarn und der BMW der Witwe unter ihr. Daneben ihr großer BMW X5. Der Wind zerrte an ihrem Mantel, und die Kälte der Seeluft ließ sie zittern. Mit der behandschuhten Hand zog sie den Mantel fester um sich. Atmete tief ein, nahm den kräftigen Geruch des Meeres in sich auf.
Fünfundzwanzig Minuten später setzte sich Sheemina February an einen Restauranttisch, der sich der Eingangstür gegenüber befand. Auf die Tischdecke legte sie eine Rosenknospe. Sie hatte noch viel Zeit. Bestimmt würde auch Magnus Oosthuizen frühzeitig eintreffen. Er war diese Sorte Mensch. Vorsichtig. Misstrauisch.