Prolog

Sie erwacht aus ihrem Fieberschlaf. In dem Moment zwischen Traum und Tag hält sie ihr Kind weiter in den Armen, steht über das vollkommene kleine Wesen gebeugt an einem Fenster, durch das Abendsonne glimmt, und küsst seine Stirn. Besteht aus nichts als Glück.

Dann fällt die Wirklichkeit über sie her wie ein Tier. Ihr Sohn ist nicht bei ihr, ihr lieber kleiner Junge! Sie hat ihn geboren und gerade so überlebt, wie grausam Menschen doch sein können. Zorn mischt sich in ihren Kummer, sie setzt ihn ein gegen ihre Mattigkeit, das Gefühl, an einem einzigen Fädchen Leben zu hängen. Stemmt sich ein Stück hoch, öffnet die Augen.

Völlige Dunkelheit. Nicht der kleinste Umriss, kein Stück Bettkante, nicht die Lehne eines Stuhls, die Biegung eines Waschbeckens an einer Wand sind zu erkennen. Die es doch geben muss in einem Krankenzimmer! Sie lauscht nach draußen, auf Schritte, die sich nähern, Stimmenklang. Hofft auf einen Menschen, der ein Herz hat, fühlen kann, was sie fühlt. Sie zu ihrem Kind bringt.

Kein Laut.

Sie wischt sich über die glühende Stirn, reibt sich die Augen, tastet um sich. Begreift. Ihr Bett ist eine Pritsche, der Raum ohne Fenster, eine Zelle? Ein winziges Licht ist auszumachen. Leuchtet es durch ein Schlüsselloch?

Sie wischt ihre Decke weg, die dünn ist, nur ein Laken. Muss viel Kraft zusammenkratzen, um die Beine aus dem Bett zu kriegen. Steht auf, alles dreht sich. Aber sie schlingert auf das Licht zu. Ein paar Schritte, und wirklich, da ist eine Tür. Sie sinkt gegen das kühle, glatte Holz, atmet in Stößen. Von draußen nimmt sie ein paar Geräusche wahr. Feines, hohes Greinen, Wimmern, zartes Protestgebrüll. Sie ist doch im Krankenhaus, auf einer Säuglingsstation, so ein Glück!

Ihre Finger finden die Klinke, drücken sie herunter, ihr Puls schießt in die Höhe. Sie fasst es nicht, aber, ja, die Tür ist nicht abgeschlossen!

Sie schiebt sich durch den Türspalt, kneift die brennenden Augen zu. Drückt sich an der Wand entlang, tappt dem Weinen hinterher, das sie ruft, an ihr zieht. Eines muss von ihrem Jungen kommen, ihrem Kleinen, sie kennt das Stimmchen doch. Schnell gewöhnen sich ihre Augen an das Licht, sie sieht ein Glasfenster an der anderen Seite der Wand, dahinter in Reih und Glied kleine Bettchen. Ein paar Kissen bewegen sich, darunter ist Gestrampel. Unmut. Holt mich raus, tragt mich herum! Sie beginnt augenblicklich zu weinen. Oh, wie gern sie das tun möchte, wie gern sie sich ganze Nächte lang immer wieder wecken und auf Spaziergänge schicken lassen möchte!

Ohne jede Furcht tritt sie durch die Tür in das Säuglingszimmer. Sollen die doch sonst was mit ihr machen, sie muss ihr Kind sehen, wissen, dass es ihm gut geht, ihm zeigen, dass sie da ist, dass sie es sich nicht wegnehmen lässt, niemals!

Aber welches der kleinen Bettchen ist seins?

Ihr Blick fliegt umher. Fällt auf ein Glasfenster zu einem Nebenraum, dahinter sitzt eine Krankenschwester in weißer Tracht an einem Tisch und tut, als ginge sie der Aufruhr im Zimmer nichts an. Sie hört noch die Stimme der Sanitäterin in ihrem Kopf. Er ist sehr klein, vielleicht muss er in den Brutkasten.

Und da, in der Mitte des Zimmers stehen vier Glaskisten mit verchromten Röhren am oberen Ende und Bullaugenklappen an den Seiten. Sie schleicht drum herum, lugt durch die Scheiben, erkennt keinen der Winzlinge wieder, wird ganz matt vor Kummer. Steht schließlich vor einer Kiste mit einer blauen Decke.

Sie schlägt die Hand auf den Mund. Hier ist er, ihr Liebling, ihr Ein und Alles! Sie legt die Hände an die Scheibe, voller Sehnsucht, die hohe Stirn zu berühren, die gekrümmte kleine Nase, die langen Fingerchen, das ganze kleine Wunder. Ein Zucken geht durch seinen Körper, er legt die Stirn in Falten, verzieht das Gesichtchen, und sie spürt, dass sie ihn rausholen muss aus der Maschine, ihm zuflüstern, dass alles gut wird, dass sie da ist. Aber geht dann ein Alarm los? Bringt sie ihn in Gefahr? Sie ist hin- und hergerissen.

Schließlich findet sie sich damit ab, ihn nur anzusehen. Sie schiebt eines der Glasfensterchen ein Stück auf. Öffnet die Lippen und summt das Liedchen, das sie für ihn erfunden hat. Da glättet sich die kleine Stirn, er öffnet das Mündchen, gähnt, blinzelt ein paarmal. Er erkennt es, er erkennt sie!

Ein Räuspern stört ihre Zweisamkeit. Hinter dem Glasfenster steht die Schwester und deutet mit dem Kopf in Richtung Flur. Ihre Lippen formen zwei Worte. Morgen wieder.

Sie nickt zurück, möchte die Schwester umarmen für ihre Güte. Schwankt aus dem Zimmer. Hinterm Fenster des Säuglingszimmers kriecht die Nacht in den Himmel, bald geht die Sonne auf. Sie muss ihr Kind behalten, die dürfen es ihr nicht wegnehmen. Wie sonst soll sie weiterleben?