Kurz vor drei stand er vor Gesas Wohnung, die Torte in einer Hand, unbeschädigt, trotz der Raserei durch den frühen Kreuzberger Feierabendverkehr. Hinter der Tür war es ruhig, vielleicht waren noch nicht alle Gäste eingetroffen, also konnte er rasch noch telefonieren, damit er den Kopf frei hatte für Connies Party.
Hastig, mit fliegendem Atem, wählte er Silvios Nummer. Eine Aufforderung war eingegangen, er sollte sich zu einer persönlichen Befragung bei der Polizei in Sassnitz einfinden, vor einer halben Stunde hatte er sie in seinem Mailpostfach entdeckt.
»Gut, dass du zurückrufst, Jan, ich bin gerade auf Arbeit raus und habe das Diensttelefon noch nicht ausgestellt.« Eine Feierabendstimme, leicht und schwingend.
»Ihr schickt mir eine Vorladung?« Am anderen Ende fiel eine Tür zu, ein Sausen war zu hören, Luft in heftigster Bewegung.
»Das ist das übliche Prozedere, keine Sorge. Am Vormittag wollte ich sie dir ankündigen, aber du warst nicht ans Telefon zu kriegen.«
Die Torte drohte ihm aus der Hand zu rutschen, er stellte sie auf das Schuhregal neben der Tür. »Ich habe bis eben in Besprechungen festgehangen.« Was für ein Glück, dass er Connie am Morgen in den Kindergarten hatte bringen können.
»Verstehe. Du wirst dennoch hier erscheinen müssen.«
»Sagst du mir, warum?« Er kroch mit einem Arm in die Jacke, die er unterm Arm hatte, ihm war kalt, seine Nase kribbelte. Ob er sich bei Connie angesteckt hatte? In der Nacht hatte er sich eng an ihn gekuschelt. Immerhin, er hatte ganz ruhig geschlafen, der kleine Mann.
»Warte, ich steige kurz ins Auto.«
Eine Tür schlug dumpf zu.
»Bei dir daheim läuft gerade alles aus dem Ruder, du müsstest dich um deinen Vater kümmern.«
Jans rechte Hand tat weh, daran merkte er, dass er das Telefon fast zerdrückte vor Anspannung. Der Tag, den er so gefürchtet hatte, war gekommen, ohne Vorwarnung. Er musste zurück nach Hause. Undenkbar. »Hat er was angestellt?«
»Er ist völlig neben der Spur. Außerdem steht eine Befragung an, bei der er nicht kooperiert. Wir brauchen eine Aussage von dir.«
»Eine Aussage? Wofür?«
»Ich bin nicht befugt, dir das telefonisch mitzuteilen. Aber es ist wichtig.«
Silvios Ton war nüchtern, aber das beruhigte ihn nicht, im Gegenteil.
»Kann ich mich weigern?«
»Ein Zeugnisverweigerungsrecht als Sohn hast du, theoretisch. Ich gehe aber davon aus, dass du ebenso an der Klärung des Sachverhalts interessiert bist wie wir.«
Als Sohn. Das Wort blähte sich in seinem Brustkorb. »Also hat er doch was ausgefressen.«
»Es geht nicht um ihn, Jan«, sagte Silvio ruhig.
Für den Moment vergaß er, wie man atmete. Schnappte nach Luft, als sich ein drückender Sog in seiner Brust aufgebaut hatte. »Mama?«
»Mehr kann ich nicht sagen.«
»Sie ist dreißig Jahre tot, Silvio. Dreißig. Was sollte da sein?«, hörte er sich sagen, wie durch einen Vorhang.
»Komm her, Jan.«
»Sie wird ja nicht plötzlich wieder aufgetaucht sein.«
Natürlich war sie das nicht, wie auch, seine Mutter war verbrannt, ein Häuflein Asche, das in einen Schuhkarton passte.
»Bis dahin.«
»Silvio, ich habe lange gebraucht …«
Die Tür schwang auf, Gesa stand dahinter. In einem dunkelroten Strickkleid. »… um darüber wegzukommen. Zählt das nicht?«
Gesa runzelte die Stirn. Connie drängelte sich an ihr vorbei, strahlend, mit roten Bäckchen, die Tränen vom Morgen schienen vergessen. Als sie auf dem Weg zum Kindergarten beim Fahrradladen vorbeigegangen waren, hatte das Fahrrad nicht mehr im Schaufenster gestanden. Jan hätte sich ohrfeigen können.
Jetzt ging er auf die Knie. »Hallo, Geburtstagskind, mein Großer!«
»Ich weiß das, Jan«, sagte Silvio. »Ich kündige dich für morgen bei den Kollegen an.«
»Was sagst du da?«
Aber Silvio antwortete nicht, er hatte aufgelegt.
Connie sah ihn fragend an. Jan lächelte, legte den freien Arm um seinen Jungen, der sich warm anfühlte. Zu warm. Jans Herz schlug so hart gegen seine Rippen, als wollte es sich einen Weg nach draußen bahnen. Nach Hause fahren. Morgen schon. Nach fast dreißig Jahren.
Connie löste sich von ihm und zog die Schultern zusammen, seine Augen glänzten wie nasse Steine.
Jan schob ihm den Tortenkarton zu, befühlte seine Stirn. Heiß, die Schläfen feucht. Oje. »Guck mal hier rein.«
Connie befühlte die dunkelbraune Pappe mit den rosa Streifen. »Ist da mein Kuchen drin? Was für einer ist das?«
Er hob den Karton in die ausgestreckten Arme seines Sohnes. »Hast du ihn?«
Gesa stützte das Paket mit der flachen Hand, lächelnd, streichelnd. Connie hatte den Karton seiner Mama überlassen und war dabei, an ihm hochzuklettern.
Jan wollte das Bein, auf dem er hockte, unterm Hintern vorziehen, um aufzustehen, verlor das Gleichgewicht und kippte mit seinem Sohn um. Sie rissen Gesa den Karton aus den Händen, die Hälfte der Torte landete auf dem Boden. Gesa sah auf ihre ausgestreckten leeren Hände, die ein wenig zu zittern schienen. Connie hatte zu weinen begonnen. Jan schloss beide Arme fest um ihn und stand auf. »Ich hab dich, alles gut. Die Torte kaufen wir neu, wenn du magst. Und nun lass uns reingehen, mir wird schon was einfallen.«
In der Wohnung war es still, es gab nicht einmal Musik, Kinderlieder oder wenigstens ein Hörspiel. Jan sang: »Hoch soll er leben!«, hob seinen Sohn so hoch, dass er die Decke berühren konnte. Tat, als würde er ihn fallen lassen. Connie gluckste vor Übermut. Als er ihn absetzte, schlug er die Hände vors Gesicht. »Es sind keine Kinder da, Papa, ich durfte nicht, ich bin krank.«
»Das tut mir leid.«
»Dafür durfte ich mir was wünschen.«
Gesa leckte sich einen Finger ab, der in die Torte geraten war, und sah ihren Jungen an, wie man von einer Mutter angesehen werden musste. Unfassbar, wie schön sie war. »Und das wäre?«
»Dass du morgen mit mir in den Zoo gehst.«
Er schluckte. Dann würde er Connie enttäuschen müssen, ausgerechnet heute.
»Besser nächste Woche, wenn du kein Fieber mehr hast«, sagte Gesa.
»Mama hat recht. Und jetzt hole ich einen neuen Kuchen, mein Schatz, ja? Oder wir essen Kekse. Und Gummibärchen.«
»Darf ich dir vorher mein Geschenk zeigen, oder bist du dann traurig?«
»Aber sicher darfst du, warum fragst du das?«
Cornelius schlich mit ernstem Gesicht davon und kehrte blitzschnell und strahlend aus dem Nebenzimmer zurück. Vor sich her schob er das dunkelblaue Fahrrad mit dem großen Lenker. In Jan stürzte etwas ein. »Es war vereinbart, dass ich es ihm kaufe.« Er sah Gesa an. »Deine Eltern?«
Seine Frau hob bittend die dunklen Brauen. »Sie sind eben wieder gegangen, damit Connie sich schonen kann. Liebe Grüße an dich, du sollst nicht böse sein.«
»Du hättest fragen können, ob ich einverstanden bin.«
»Ich wusste nichts von den Plänen meiner Eltern. Er ist doch ihr einziger Enkel, Jan.«
Connie stand reglos da, die Augen weit geöffnet, es tat Jan in der Seele weh. »Es ist ein tolles Fahrrad, mein Schatz, Glückwunsch. Gehst du schon mal ins Wohnzimmer? Ich komme gleich, dann toben wir. Kissenschlacht?«
Sein Sohn nickte und ließ das Fahrrad los, im Fallen schabte es ein Stück Tapete ab. Gesa sah nicht einmal hin, sondern ging in die Küche am linken Ende des großen Flurs gleich neben dem Eingang. Das ist es, Jan , hatte sie damals bei der Besichtigung gesagt, kaum, dass sie eingetreten waren. Hier werden wir zwei zusammen alt.
Er rang die Erinnerung nieder und ging ihr nach. Sah zu, wie sie einen bereitstehenden Teller nahm, ein Stück Kuchen darauflegte. Zitronenrührkuchen mit Puderzucker von seiner Schwiegermutter. Dann war das Malheur mit der Schokotorte wenigstens keine Riesenkatastrophe. Sie reichte es ihm, er biss hinein.
Gesa lehnte sich gegen das Fensterbrett, das er eigenhändig abgeschliffen und neu lackiert hatte. »Was ist eigentlich mit morgen? Ich dachte, es ist dein Wochenende.«
Er kaute mit hektischen Bewegungen. »Es tut mir sehr leid, aber ich muss nach Sassnitz fahren, am Abend bin ich wieder da. Hast du Pläne für morgen?«
»Was willst du denn in Sassnitz?«
»Ich hab eine Vorladung bei der Polizei. Es geht um meine Mutter.«
»Ich weiß kaum etwas über deine Mutter, eigentlich nur, dass sie tot ist. Ich weiß nicht mal genau, seit wann.«
Ihm schwindelte. »April 1991. Sie hatte einen Autounfall.«
Gesa nickte ernst. »Wie tragisch. Und was kann die Polizei jetzt noch dazu ermitteln?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Sie war zu dem Zeitpunkt im Ausland, deshalb vielleicht.« Hinter Gesas Rücken stritten zwei Krähen um etwas, das eine von ihnen im Schnabel hatte. »Im Februar, während ich im Skiurlaub war, ist sie mit ihrem Bruder Hals über Kopf nach Südamerika verschwunden, als ich heimkam, war sie weg. Ich habe nie verstanden, warum.« Er biss erneut von seinem Kuchen ab, mahlte das Stückchen mit den Zähnen klein.
»Das ist es, worüber du so lange nicht hinweggekommen bist.«
Ihre Stimme war fast nicht zu hören gewesen. Er verschluckte sich, hustete.
»So was in der Art dachte ich mir schon. Was ist da passiert? Mit dir, meine ich.«
»Na ja. Es ging mir nicht gut, wie auch. Aber es ist dreißig Jahre her, ich denke nicht mehr daran. Ich bin drüber weg.«
»Dann kannst du es mir ja sagen. Jetzt, wo wir kein Paar mehr sind.«
Er neigte sich vornüber, der Satz hatte ihm einen Schlag versetzt.
»Ich muss wissen, ob das Auswirkungen auf meinen Sohn haben wird, das steht mir zu.« Gesa stellte ihren Teller zur Seite. Sie öffnete das Fenster, frische Winterluft flutete herein, eine Wohltat.
Er sah in das dunkelnde Grau des Himmels, auf die Tropfen, die daraus auf den Asphalt platschten. »Connie ist sicher bei mir. Immer.«
»Warum fällt dir das Atmen dann so schwer?«
Ihre Hand lag plötzlich auf seinem Brustkorb, ein Gefühl goldener Wärme breitete sich darin aus. »Ist schon wieder vorbei. Es geht mir gut.«
Sie zog ihre Hand zurück. »Früher hätte ich gebettelt, dass du es erzählst. Jetzt möchte ich nur, dass du aufisst, ein bisschen mit Connie spielst und dich dann verabschiedest, er braucht ohnehin Ruhe. Für morgen fällt mir schon was ein, so wie jedes Mal, wenn du anderweitig beschäftigt bist.«
»Ich will da nicht hin, das darfst du mir glauben.« Er folgte ihr in den Flur, lauschte ins Wohnzimmer herüber. Kinderstimmen piepsten, Musik hämmerte, der Fernseher lief.
»Das tue ich. Oh, das tue ich«, flüsterte Gesa.
»Gesa, ich …«
Ihre Hand schnellte zwischen ihnen beiden hoch. »Ich weiß verdammt noch mal nicht, wer du bist, Jan. Und jetzt leiste deinem Sohn Gesellschaft, und dann verabschiede dich.«
Der Boden riss aus seiner Verankerung, er kam sich grenzenlos allein vor. Ein Gefühl, das er doch eigentlich vergessen hatte. »Lass mich bleiben, er braucht uns beide, Gesa. Heute und an jedem anderen Tag.«
Sie drehte sich wortlos um und ließ ihn stehen.
Er schlich zum Wohnzimmer, tastend, wie auf einem Seil.
»Ich will nicht, dass es vorbei ist«, flüsterte er.
Sie verschwand hinter der Tür zum Badezimmer.
»Ist es nicht, oder? Gesa, das kann nicht sein.«
Aber das hörte sie nicht mehr, die Tür war zu.