Sie klemmt zwischen wogenden Menschen und atmet, ohne Luft zu kriegen. Dumpfe, schwere Wärme steht unter Deck, überall riecht es nach Fisch. Es gibt ein bisschen Licht, gerade so, dass man sieht, wer wo sitzt, und nicht über jemanden drüberfällt, falls man auf den Eimer muss. Sie verkneift sich das, ihr Bauch ist inzwischen prall geworden, es drückt und zieht. Schlimmer ist aber, dass ihr linker Arm ganz steif ist, Schmerz tuckert, wo jemandes Schulterspitze sie trifft, immer, wenn das Schiff auf eine Welle steigt. Die Schulter gehört einer zusammengesunkenen Gestalt, die schwere, eklige Süße absondert, aber da guckt sie nicht hin, nur nach rechts zu Hans. Sie muss Hans nah bei sich behalten, er darf nicht unter die schwankenden, rangelnden Leute geraten, zu Mühlsteinen können die werden, das hat sie selbst gesehen.
Das Schiff fällt in ein Wellental, der Mensch kippt zur anderen Seite. Sie denkt an Pillau, an das Pillau vom vorletzten Sommer, als die Luft klar war und das Land still, als eine schwere Hitze überm Hafen waberte und sich kaum Menschen drängten, so wie gestern, alle hin zu einem Schiff, das sie über die Ostsee bringt, weg, nur weg, weil der Russe kommt. Damals haben sie einen Bootsausflug gemacht, an ihrem Geburtstag. Mutti in ihrem einzigen rot geblümten Sommerkleid, mit weißem Hut und gestopften weißen Handschuhen. Hans, der an Deck seinen Drachen festhält. Sie, die über die Leine stolpert und weit ausschreiten muss, um sich abzufangen, sodass man ihre Unterhose sieht. Ihre Haut brannte vor Scham wegen des zu kurzen Kleides und ihrer runden Arme, die aus den zu engen Bündchen quollen. Wie schön das am Ende doch war!
Hans zittert, Margit legt den Kopf an seinen. Sie werden bald in Stralsund ankommen, dann wird sie sogar ein neues Häschen bekommen, hat Mama gesagt, und muss Ingrun nicht mehr so vermissen. Sie kann Ingruns schneeweißes Fell in den Händen fühlen, das tuckernde kleine Herz darunter, und beißt die Zähne aufeinander, um nicht loszuweinen.
Wieder ist die Schulter da, Übelkeit steigt in ihr auf, ihr Magen drückt nach oben. Gemurmel hebt an. Müssten längst da sein … können die doch nicht machen, uns hier unten verrecken lassen … ist doch nur wegen der Sicherheit, der Russe kann ja aus der Luft angreifen, der Engländer ist nicht besser … Hört auf zu zweifeln, ihr Vaterlandsverräter, der Führer holt unser Königsberg zurück, schneller, als ihr alle denkt … Sie möchte nur ein Schlückchen Luft haben, nur ein einziges.
Hans windet sich und jammert, er kriegt von irgendwem einen Klaps und ist augenblicklich still. »Lassen Sie meinen Bruder in Ruhe!«, ruft sie. Hans fängt an zu heulen.
»Willst du ein Bild sehen, hm?« Sie streicht ihm über den Kopf. »Natürlich willst du, das weiß ich doch.«
Margit zerrt den kleinen Turnbeutel vor, den sie unter der Jacke hat, damit er sicher ist. Ein paar Fotografien sind drin und Flugzeugbilder für Hans, ihr Sparbuch mit siebenundzwanzig Mark dreiundfünfzig, das Zeugnis der dritten
Klasse. Das sind wichtige Sachen, die muss man im Auge behalten.
Ein stumpfer Knall, wie hinter Tüchern. Sie legt Hans die Hände auf die Ohren. Stöhnen, Geschrei, spitzes Kindergeheul. Jemand jammert, dass er nicht sterben will, dass sie nur ein ziviles Schiff sind, dass es doch einen Anstand geben muss auf der Welt. Dass der Führer so was vergelten wird.
Margit zieht den Kopf tief zwischen die Schultern und drückt die Hände fest auf Hans’ Ohren. Das Prasseln setzt ein, wie Platzregen. Es kommt näher, noch näher, wird lauter.
Wieder ein Knall. Sie riecht Kot. Hans. »Nicht schlimm«, flüstert sie, »das machen wir gleich sauber, du darfst nur nicht weinen, ja?«
Sie wendet sich um zu Mutti. Mutti nickt mit weit offenen Augen, sie sitzt kerzengerade. Stolz ist sie auf ihre Große, die sich um den kleinen Bruder kümmert, das weiß Margit genau. Neben Mutti hockt Annaliese, sie haben sie im Hafen getroffen, sie ist nett. Wenn sie bloß diesen dünnen, langen Jungen mit den stieren Glotzaugen nicht hätte, und dazu fast weiße Haare, wirklich komisch guckt der in die Welt!
Das Schiff fällt, dieses Mal tiefer, als hätte die Bombe ein Loch ins Wasser gegraben, wo es reinstürzt. Die Gestalt neben ihr kippt um, Margit stemmt sich mit den Füßen ab, um nicht draufzufallen, es stinkt entsetzlich. Sie schreit.
Männerhände greifen durch ein Gewirr aus Körpern, zwei Soldaten schleppen das Bündel zur Seite, über andere Menschen hinweg, langes graues Haar entrollt sich, streicht über Köpfe und Hände.
»Das ist ja unerträglich, schaffen Sie sie doch an die Seite!« Eine Frau im Pelzmantel schräg rechts von ihr hält sich ein weißes Tuch vor Mund und Nase, auf dem Schoß hat sie ein Kind, das bestimmt nicht mal laufen kann, es spielt mit einer Uhr, die an einer langen goldenen Kette um den Hals seiner Mutter hängt. Die beiden sitzen auf einer Kiste, die ihr jemand hingeschoben hat. Bitt’ schön, Frau Gräfin. Sie haben ja auch alles verloren … Und der Herr Gemahl ein Verbrecher, desertiert und erschossen, wie schrecklich.
Die Soldaten wanken zur Treppe und legen das Bündel neben das Geländer. Der nächste Knall. Die alte Frau, die danebenhockt, heult auf und drängt sich an einen Mann mit leeren, hochgesteckten Jackenärmeln, der brabbelnd vor- und zurückschaukelt. Vater unser im Himmel, Vater unser im Himmel … Eine andere Frau neben ihm blickt ins Nichts, ihre Lippen sind dicke rote Wülste, sie kaut und kaut.
Margit kann ein Stück nach links rutschen, streckt den steifen Rücken.
»Kannst dich gegen meine Knie lehnen.«
Der Junge von Annaliese, er heißt Ronald, hat eine raue Stimme, die manchmal unerwartet in die Höhe schnippt. Sie schüttelt den Kopf.
Er stupst sie an, sie drückt sich nach vorn, soweit sie kann. Lass mich bloß in Ruhe, du.
Da hört sie ihr Herz zwischen den Ohren. Es ist still draußen.
Es ist wieder still! Das Schiff gleitet durch die See, als wäre nichts gewesen, und sie möchte hoch und raus hier, in ihr breitet sich ein Drängen aus nach dem Himmel, nach Luft, dass sie fast platzt vor Wollen.
Wieder ein Stups in den Rücken. »Bald geht’s an Land, wirst sehen. Kann nicht mehr lange hin sein.«
Die Deckluke reißt schmatzend auf, die Soldaten, die auf den Treppenstufen darunter hocken, machen Platz. Eine Leiter wird heruntergelassen, ein Mann in Ölzeug steigt herunter, vier weitere Soldaten folgen. Sie drängen mit verschränkten Armen die Leute zurück, die aufstehen und ein Gerangel anfangen, eine Gasse entsteht, direkt vor der Luke.
»Na bitte«, sagt sie zu Hans und löst die Hände von seinem Kopf, »wir können bald raus, siehst du das?«
»Ruhe und hinsetzen!« Dem schimpfenden Mann in Ölzeug ist ein Schwall kalter Luft gefolgt, es riecht nach Salz und feuchtem Holz, Margit saugt den Geruch ein wie Parfüm.
»Sie sind abgezogen, es waren zwei Bomber, dem Klang nach Engländer, das hab ich genau gehört«, murmelt es in ihrem Rücken.
Die Leute rufen durcheinander. »Sind wir bald da? Kommen noch mehr Flieger? Wie lange noch?«
Einer der Soldaten hebt eine Hand, die in einem blutigen Lappen steckt, seine Hose ist vorn zwischen den Beinen dunkel, vielleicht hat er es nicht bemerkt. »In der Ferne sieht man Land, die Sonne geht in einer Stunde auf.«
»Kinder und Frauen gehen zuerst an die frische Luft, und die Luke muss frei bleiben!«, ruft der Mann in Ölzeug.
Die Leute stehen gerade und gedulden sich, das Geschiebe hört auf. Die Frau mit den zerbissenen Lippen zieht sich am Treppengeländer hoch, sie hat schönes, blondes Haar, das in großen Locken liegt. Und einen sehr dicken Bauch.
Der Mann in Ölzeug will ihre Hand nehmen. »Kommen Sie als Erste, bitte.« Sie klammert sich kopfschüttelnd an den Mann ohne Arme, der das Gesicht vor Schmerz verzieht.
Schön dumm. Margit zieht Hans mit sich in die Lücke vor der Luke, dicht an der Frau im Pelz vorbei. Sie hat lange Silbergehänge an den Ohren, mit großen dunkelroten Steinen, die geformt sind wie Tränen.
Ein Soldat greift nach Hans, sagt: »Puh, das riecht ja«, und trägt ihn rauf. Oben packt sie Hans fest an der Hand und geht mit ihm zur Bordwand.
Das Schiff stampft auf und ab, die See rauscht und gurgelt und schäumt, und die Luft ist so rein, so klar, dass sie weinen möchte vor Glück.
Hans läuft mit breiten Beinen und zerrt an seiner Hose. »Wo ist Mutti? Mutti!«
»Sei schön brav, wir wollen doch jetzt nicht heulen, wo wir bald da sind, was denken denn da die Leute!« Mutti hätte das genauso gesagt, sogar ihre Stimme hat Margit fein nachgeahmt. »Und guck doch mal da links!« Schwarze Hügel schälen sich aus dem Dunkel, Land. Land!
Die Frau im Pelz wankt an ihr vorbei, das Gesicht wie Marmor, fein und weiß und hart.
Da, aus dem Nichts, leises Grollen. Margit legt die Arme um Hans, will mit ihm zurück unter Deck, doch das Deck ist voller Menschen, die wie erstarrt sind vor Schreck, nur nach vorn ist Platz. Sie sieht eine Kajüte, den Kapitän darin, über seinem Kopf baumelt eine Glühbirne. Wie klein das Schiff doch ist, nur ein Boot. Ein Fischerboot.
Das Grollen wird zu Donner. Ein Bomber zieht heran.
Alles schreit durcheinander, jemand ist dicht hinter ihr und schiebt, sie hat Hans sicher im Arm und schleift ihn mit, bis es nicht weitergeht, zieht ihn auf die Knie herunter, schlingt ihren Arm um seinen Kopf. Ihr Herz steht still.
Hagel platscht ins Wasser.
Ein gewaltiger Stoß kommt. Das Meer stöhnt. Das Schiff wird ein Stück weggeschoben, sie schlittern gegen die Schiffswand und bleiben schreiend liegen. Alles schreit. Wasser peitscht in die Höhe, fällt krachend zurück. Die Planken unter ihnen beben, das Schiff kippt ächzend nach vorn, weit nach vorn, irgendwas hält sie fest, andere schlittern schreiend an ihnen vorbei. Sie hält die Luft an. Dann, endlich, lehnt sich das Schiff nach hinten, steigt mit brüllendem Motor. Legt sich beim Fallen nach den Seiten, geht ein paarmal hin und her. Zieht sich gerade.
Margit pult in ihrem Ohr. Das Menschengebrüll ist verebbt, der Fliegerlärm zieht davon. In ihrem Kopf ist ein Druck, der von den Wangen hochzieht, es tut unglaublich weh. Sie zwängt Daumen und Zeigefinger zwischen die Zahnreihen, ihr Kiefer knackt auseinander, der Schmerz ist klar und scharf.
Hans ist ganz still, sie rüttelt ihn, bis er nach ihrer Hand schlägt, küsst ihn dafür mitten ins Gesicht, das hat sie noch nie gemacht.
Nicht weit weg rappelt sich die Frau im Pelz auf und jammert. Ihr Kind ist weg, gegen einen Haufen Taue gekullert. Margit robbt hin.
Es liegt auf dem Rücken, seine Augen stehen weit offen, es hat ganz blaue Augen, wie Wasser. Eine hohe Stirn, weißblondes Flaumhaar dahinter. Margit erkennt eine kleine steile Falte zwischen seinen hellen Augenbrauen. Sie blickt zum Himmel. Wirklich, es ist beinahe richtig hell. Bald ist es Morgen.
Sie hebt das Kleine auf, das nicht aufhört, sie anzusehen, sein Mündchen steht offen.
Die Frau im Pelz nimmt ihr das Kind ab. Blickt nach oben, jault auf, ihr Kind stimmt ein.
Margit folgt ihrem Blick. Ein schwarzer Punkt. Noch einer.
Wieder das Geräusch. Langsam nahendes Grollen. Margits Herz versackt in ihren Beinen, mit einer Hand zieht sie Hans zu sich heran, der sich das gefallen lässt ohne ein Widerwort.
Die Frau im Pelz schüttelt den Kopf. »Nein. Nicht so. Nicht heute. Das halte ich nicht aus.«
Dieses Mal ist es ein Geschwader, eine Fliegerstaffel wie in den Wochenschauen. »Was ist heute?«
»Heute habe ich Geburtstag, und ich …«
Der Rest geht unter im Dröhnen des Himmels, unglaublich, wie schnell es näher kommt. Die Gräfin setzt das Kind ab und richtet sich auf, steht kerzengerade. Zieht einen Lippenstift aus der Tasche und schraubt ihn mit zittrigen Händen auf. Malt sich die Lippen an bis über die Ränder. Hebt das Kind auf.
»Wie heißt das Kind?«, brüllt Margit, warum, weiß sie nicht, sie kann den Blick nicht lösen von der Frau, die auf das zusammengerollte Tau steigt, ein Bein über die niedrige Bordwand schiebt, das andere nachzieht, während das Kind in ihrer Umklammerung zappelt. Sie drückt ihm fast die Luft ab, warum tut sie das!
Margit kann sich nicht rühren.
Die Frau bleibt mit dem linken Schuhabsatz in dem Seil hängen. Steigt zurück, streift die Schuhe ab.
»Mama«, brüllt Margit. »Mama!« Der Himmel über ihren Köpfen donnert wie von tausend Gewittern.
Die Gräfin hängt das rechte Bein über die Bordwand.
Das Kind gleitet zu Boden, greift mit den Händchen nach seiner Mutter, Margit krabbelt hin. Die Frau beugt sich runter, packt es am Mäntelchen, ihre Lippen beben. Betet sie? Margit kriegt Stoff zu fassen und zieht das Bündel zu sich heran, hält es fest, hält und hält, sie kneift die Augen zu. Wird derb beiseitegeschoben.
»Das sind unsere, die Wehrmacht ist das, sie drehen ab!« Der Soldat sieht an ihr vorbei, sein Gesicht fällt in sich zusammen.
Margit weiß es, ehe sie zur Bordwand sieht. Die Frau hört es nicht mehr. Sie ist verschwunden.
Hans kommt zu ihr und klammert sich heulend an ihr Bein, sie achtet nicht darauf. Wie lange es dauert, bis Mutti endlich, endlich da ist und ihr über den Kopf streicht, was sie nie macht, kann sie nicht sagen.
»Margit, Kind, lass den Kleinen los, du drückst ihn zu fest«, sagt Mutti.
Sie blickt an sich herunter. Ein paar blaue Augen gucken sie an, kleine Kornblumenblüten. Jetzt erkennt sie es, es sieht aus wie ein Junge. Er wackelt mit den Ärmchen, in einer Hand hat er die goldene Kette mit der Uhr seiner Mutter, sie ist zerrissen.
»Gib ihn her, Mädchen.« Der Mann in Ölzeug. »Den muss ich im Hafenamt abgeben.«
Sie lockert den Griff. Ein Händchen legt sich an ihre Wange. Sie sagt Nein.
Mutti kneift sie in den Oberarm. »Margit, hör auf den Herrn!«
Ihre Arme bleiben, wo sie sind, sie fängt an zu weinen.
»An Land«, sagt Mutti an den Mann gewandt, »dann hat sie sich wieder gefangen.«
Doch nur die See wird ruhiger, je näher sie dem Hafen kommen, und sanfter der Wind, das spürt Margit in Armen und Beinen, im ganzen Körper, auch ohne hinzugucken. Augen hat sie nur für den Kleinen, der sein Köpfchen gegen ihre Brust lehnt und einschläft.