Oda

Licht kratzt auf ihrer Netzhaut.

An. Aus. An. Aus.

Oda liegt auf Holz und will schlafen, flackernde Helligkeit zieht an ihren schweren Lidern.

Auf. Zu. Auf. Zu.

Irgendwo in den Wänden bebt ein Pochen, es kommt und geht in einem Rhythmus, auf den sie sich nicht konzentrieren kann, gar nichts kann sie. Jürgen ist ein Gedanke, der immerfort wehtut, aber er zündet nicht. Nicht so, dass sie aufstehen und herumgehen kann, sehen, wo sie ist, um Hilfe rufen, nach ihm, und gegen etwas schlagen, das ist nicht zu schaffen. Sie ist zum Sterben müde.

Wieder ein Geräusch, ein furchtbares, sie hebt den Kopf. Draußen brüllt jemand wie ein Tier, es ist ein Mann. Jürgen? Sie hat ihn nie brüllen hören, vielleicht ist das nicht seine Stimme. Bitte nicht.

Dass sie neben dem Arztzimmer eingesperrt ist, hat sie begriffen, die Wärter bringen die dorthin, die schlimm verletzt sind, meist Männer, oder am Durchdrehen, auch da sind wenige Frauen dabei. Ihre Schreie ziehen über den Flur wie Stürme, fegen durch Wände, Türritzen, ihren Kopf, den Körper. Werden blasser, kaum, dass die Tür neben ihr zufällt. Was dahinter wohl passiert? Sie bleibt schweißgebadet zurück und lauscht, zitternd vor Angst.

Ein Schrei, grell wie das zirpende Neonlicht über ihr, mittendrin bricht er weg. Sie beginnt zu weinen, stoßweise, ohne Tränen. Jürgen, bist du das? Und darf sie sich das wünschen? Er wäre hier, im Gefängnis, wäre am Leben, nicht von Fischen angefressen, bleich, aufgebläht, für immer, immer weg. Und sie nicht so furchtbar, furchtbar allein. Der Schrei schießt noch einmal in die Höhe, dann stirbt er, ist wie abgeschnitten. Sie beißt in das weiche Fleisch ihrer Finger, jetzt denkt sie es doch. Jürgen. Wärst du nur hier.

Schlüsselrasseln, Tritte gegen die Tür.

Früher Morgen also, sie muss aufstehen. Dann herumstehen oder sitzen, den ganzen Tag. Nur wie? Sie betastet die Rillen im grauen Putz, die sie mit dem Fingernagel eingeritzt hat, eine für jedes Mal, dass jemand durch die kleine Klappe in der Tür eine Scheibe Brot, ein Stück Margarine, einen Wurstlappen reicht, in einer Plastikschale, und einen Becher Wasser, aus dem die Hälfte dabei rausschwappt. Es sind neun. Neun, von denen sie weiß. Neun Tage, in denen sie in der Zelle eines Untersuchungsgefängnisses eingesperrt ist, keinen Menschen gesehen, nicht gesprochen hat. Sie reibt sich die Schläfen, presst die Stirn gegen die kalte Wand.

Draußen dröhnen Stiefel durch den Gang, eine Tür wird aufgerissen, es ist nicht ihre, noch nicht.

Oda rollt sich von der Wand weg, steht auf Beinen, die irgendwem anders gehören. Legt Decke und Kissen einigermaßen zusammen. Stellt sich gerade noch vor die Tür, als es knallt.

Die Klappe fliegt auf.

Sie nimmt die Schüssel entgegen, den Becher, Muckefuck heute, dünn wie Pfützenwasser und genauso kalt. Schmiert ein wenig Margarine mit dem Finger auf die wellige Scheibe, den Rest auf ihre vertrockneten Lippen. Tunkt das Brot ein, kaut, spült den Geschmack von Staub die Kehle runter. Ein Schleier legt sich über ihre Gedanken, wie jedes Mal, wenn sie etwas getrunken hat. Ob da etwas drin ist? Ein Schlafmittel? Sie kippt den Rest ins Waschbecken.

Dann marschiert sie los wie ein Soldat, um wacher zu werden, es ist unendlich mühsam. Zählt die Schritte, laut. Vier in der Breite, sechs in der Länge. Überlegt, was sie denen sagen wird, falls die Tür jemals aufgeht und sie zum Verhör geholt wird. Muss jeden Gedanken anschieben wie eine volle Kohlelore. Wieder der Klang von schwerem Schuhwerk, die Schritte sind schnell, entschlossen, Oda wird straff wie ein Stahlseil. Sie hofft, endlich reden zu können, sich zu behaupten, nie ist ihr das schwergefallen, Papa hat sie durch eine harte Schule getrieben. Sie sieht sein schmales Gesicht, die kohlrabenschwarzen Augen, und muss sich kurz anlehnen. Wenn dir fünf sehr gute Gründe einfallen, warum du dieses rote Rennrad brauchst, kriegst du es. Wie Jürgen sie beneidet hat. Wenn ich so einen Vater hätte, ich wäre längst nicht mehr hier. Jürgen. Der nie einen Vater hatte, sich mit leuchtenden Augen nach ihrem erkundigte. Was er im Westen macht, ob er sie an seinem Leben, seinen Gedanken teilhaben lässt. Das war an einem verträumten Sonntagnachmittag Ende April auf dem Weimarer Marktplatz, vor einem Eisbecher. Pfirsich Melba. Weißt du was , hat sie gesagt, wenn ich könnte, würde ich ihn mit dir teilen. Danach hat er gesagt Ich liebe dich .

Oda schlägt die flache Hand gegen die Wand. Beißt in ihre Armbeuge. Jürgen, wo bist du nur?

Mit einem Krachen schwingt die Zellentür auf, ein Mann tritt ein, ein zweiter, beide etwa gleich groß, einer hat helle Haare und ein spitzes Gesicht, einer braune und eine kräftige Gestalt. Oda starrt sie an. Menschen!

»Aufstellen! Meldung machen!«, blafft der Dunkelhaarige. Der mit dem Vogelgesicht drängt sich an ihm vorbei, glotzt an ihr herunter und wieder hoch. Macht eine Miene, als glaubte er nicht, was er sieht.

Sie wankt in die Mitte der Zelle, hebt die rechte Hand. »Oda Scheurich meldet sich.« Ich bin allein geschwommen, ganz allein , hallt es in ihrem Kopf. Wenn nur einer geschnappt wird, verrät er den anderen nicht, haben sie einander geschworen. Zeit, das einzulösen.

Die beiden lachen, der Braunhaarige mit dem Fleischergesicht aus vollem Hals. »Die Nummer! Du bist die Vier!«

Oda wiederholt die Meldung vollständig. Ihre Stimme wird fester, schärfer in den Konturen.

»Nummer vier mitkommen zum Verhör, dalli, dalli!«

Im Flur ist es dunkler, kein Neonlicht, das ständig an- und ausgeht, das ist angenehm, aber kalt ist es, entsetzlich kalt. Sie gehen durch den langen Schlauch, an anderen Zellen vorbei, eine Tür an der nächsten. Dumme Gedanken kommen. Niemand weiß, dass sie hier ist. Die können mit ihr machen, was sie wollen, ohne dass jemand Alarm schlägt.

»Jürgen!«, ruft sie, so laut sie kann.

»Maul halten!«

»Jürgen Schubert aus Schwerin!«

Einer der Bewacher boxt sie in die Seite, es ist der Gedrungene, sie ist zu geschockt, um sich zu beschweren. Die schlagen eine Frau!

Schon muss sie sich auf anderes konzentrieren. Treppenstufen. Ein Absatz. Oda ist nicht so schnell wie die Männer. Sie stolpert, wird an der Kleidung gepackt, bekommt noch einen Knuff, wieder von demselben. Der andere zischt ihm etwas zu. Oda windet sich, kommt nicht frei, sein Griff wird fester. Die beiden tuscheln, Oda versteht die Sätze nur halb, irgendwas mit besondere Behandlung , dann wird sie losgelassen.

Wieder Treppen, die Luft riecht nach feuchtem Putz, Schimmel und etwas Scharfem, Schweiß. Bringen die sie in einen Raum ohne Fenster, in dem niemand sie schreien hört? Gibt es dort ein Loch in der Wand, so groß wie ein Pistolenlauf?

Mitten im Gang geht eine Tür auf, weißes Licht fällt heraus. Oda stemmt die Füße in den Boden. Sie wird vorwärtsgeschoben und in ein Zimmer gestoßen. Blinzelt gegen das helle Lampenlicht. Das Zimmer hat ein vergittertes Fenster. Es gibt einen Schreibtisch mit Telefon, Aschenbecher, einer Lampe, Schreibgeräten. Stühle. Einen gelbbraunen flachen Holzschrank. Daneben steht ein großer Mann in dunklen Farben: das Hemd, sein Haar. Er hat einen Schnauzbart und sieht aus wie ein Filmschauspieler.

»Guten Tag«, sagt er.

Sein Blick ist der eines Bekannten, den man nach langer Zeit wiedertrifft. Sie sagt ihren Namen, voll grenzenloser Scham, fast hätte sie ihn angelächelt für diesen Blick. »Ich will nicht, dass mich jemand anfasst.«

»Natürlich.« Der Mann hebt den Zeigefinger, die Wachhabenden verlassen den Raum. Ist das gut? Er deutet auf einen Stuhl, Oda setzt sich, richtet sich so gerade auf, wie sie kann. Sie macht Meldung, kurz und straff.

Er hebt eine dichte Augenbraue. »Oda. Wie schön.« Lächelt, lässt den Blick kurz auf ihrem Oberkörper ruhen. Seine Unterlippe zuckt. »Gut, fangen wir an. Geboren?«

»Fünfzehnter Siebter Einundfünfzig in Berlin.«

»Wo?«

»Berlin.«

»Welches Berlin?« Seine Stimme bekommt Kanten.

»Berlin, Hauptstadt der DDR.«

Er schlägt eine Mappe auf, blättert darin. »Wie geht es Ihnen?«

»Ich bin müde.« Sofort ärgert sie sich über ihre schnelle Antwort, geseufzt hat sie auch. Sie muss wachsam sein, der Mann ist ein Fuchs, sonst wäre er nicht hier.

Er steht auf, holt eine Tasse aus dem Schrank, eine Thermoskanne aus seiner Aktentasche, gießt ein. »Bitte schön.«

Der Geruch zieht ihr den Magen in den Mund. Richtiger Kaffee! Sie schüttelt den Kopf.

»Sicher?«

Sie nickt.

Mit einer blitzschnellen Bewegung wischt er die Tasse vom Schreibtisch, die klirrend zerbirst. So voller Zorn! »Dann lese ich Ihnen jetzt Ihren Tatvorwurf vor.« Er nimmt ein Blatt aus der Akte und leiert die Sätze herunter. Berichtet von ihrer Flucht, dem Aquascooter »aus dem Westen«, den Jürgen in Wahrheit mit einem Freund gebaut hat, dem Boot, das sie aufgegriffen hat. Daten, Koordinaten, Beobachtungen der Grenzer lässt sie an sich vorbeiziehen. Die Worte verachtenswert und Feind der DDR, Verletzung, Missachtung kommen mehrfach vor, Jürgen wird mit keinem Wort erwähnt. Aber warum? Oda schnappt nach Luft.

Der Mann sieht auf, sein Blick ist eine Sekunde lang ganz kalt. »Können Sie folgen? Soll ich langsamer sprechen?«

»Nein.«

Schon ist sein Ausdruck wieder weich, und Oda ist wütend auf sich selbst. Sie darf nicht vor ihm heulen, sie ist schließlich kein Baby! Sie sieht an ihm vorbei zum Fenster, richtet ihre Aufmerksamkeit nach innen.

Er fährt fort. Spricht von ihrer Kindheit in Leipzig, der Schulzeit, ihren Erfolgen als Leistungsschwimmerin, im Kinder- und Jugendorchester. Dem Tod der Mutter, als sie in der dritten Klasse ist, ihrer vorausgehenden langen Krankheit, den Begleitumständen. Langsam, als trage er eine Zahlenkolonne vor, bei der es auf jede Ziffer ankommt. Oda will nicht, aber sie muss an Mamas volltönendes Lachen denken. Wird kleiner und kleiner auf ihrem Stuhl, schmilzt zusammen vor Traurigkeit. Wie hinter Glas hört sie von Papas Flucht vor zwei Jahren, als er zu einem Ärztekongress nach Westberlin durfte und dort blieb. Den das Land ausgebildet hat, der seine Patienten im Stich lässt für Geld und falschen Luxus. Die Stimme des Vernehmers bebt vor Entsetzen und Ekel.

Sie beißt die Kiefer aufeinander, taucht tief in ihre Erinnerungen. Sie und Papa im Zirkus, da ist sie sechs oder sieben. Wie sie hinterher auf seinen Schultern nach Hause reitet, hoch über allen Köpfen und mit Gesang. Mamas duftendes Blondhaar, das beim Gutenachtkuss in ihrem Nasenloch kitzelt. Das Knirschen von Schnee unter den Skiern, ein zartvioletter Himmel über weißen Tannen, Mama und Papa hinter ihr. Nicht so schnell, Sportskanone! Die Dezembernacht vom letzten Jahr, in der sie Punkt Mitternacht aus dem Studentenklub auf die Straße tritt, in eine neue Welt. Frischer Schnee liegt auf dem grauen Weimar, Jürgen steht neben ihr, sie haben sich eben bekannt gemacht und können nicht aufhören, einander anzusehen. Schönen dritten Advent, Schneewittchen, sagt er und lächelt auf sie herunter, als wäre sie Wer-weiß-wer. Es gibt so viel, das sie ausmacht, niemand kann ihr das nehmen!

»Und, was sagen Sie zu Ihrem Tatvorwurf?«, fragt er, als er fertig ist, die Augen weit wie ein Kind vorm Weihnachtsbaum.

Oda reckt das Kinn, dehnt den Rücken. »Das Datum stimmt natürlich, der Vorgang an sich auch, aber nicht meine Motivation. Ich bin kein Feind der DDR und wollte niemandem Schaden zufügen.«

Er schmeißt den Stift hin. »Glauben Sie mir, ich kann Sie hier noch Monate festhalten, wenn Sie anfangen, mit mir zu diskutieren. Ich dachte, Sie wollten endlich Ihren Prozess?«

Sie zuckt zusammen, er hat eine wirklich laute Stimme. »Nach dem Weggang meines Vaters bin ich von der Staatssicherheit observiert worden, ich habe das nicht mehr ausgehalten, das war der Grund für die Flucht. Es geschah weder aus Bosheit noch aus Egoismus.« Wenn du bleiben willst, bleiben wir, aber ich gehe an diesem Land zugrunde, Liebste, willst du dir das ansehen? Willst du nicht lieber sehen, wie ich in der ersten Reihe im Wiener Musikverein sitze, während du spielst? Jürgen hat tatsächlich geweint, als er das sagte. Ihr großer, sanfter Jürgen.

»Die Stasi, natürlich! Hat nicht mal jemand eine andere Idee!«

Ihre Hände zittern, sie schiebt sie unter ihren Po. »Ich bin hier, um Ihnen die Wahrheit zu sagen. Und es war nicht mehr auszuhalten, dass man mich behandelt hat wie eine …«

Seine Faust saust auf die Tischplatte. »Hören Sie endlich auf, dieses Land schlechtzumachen, sonst lernen Sie mich kennen.«

Sie nickt und sagt sogar Entschuldigung. Das machen die hier mit einem. Man will sich selbst anspucken.

Er klappt die Akte zu, rutscht mit seinem Stuhl vom Tisch weg, schlägt ein Bein über das andere. »Gut. Dann kürzen wir das Ganze ein bisschen ab, ich bin ohnehin lieber direkt.«

Er weiß etwas von Jürgen, bestimmt, das fühlt sie! Odas Herz schlägt überall.

Die große, gepflegte Hand des Vernehmers beschreibt einen Bogen über ihrer Akte, seine Stirn ist faltig vor falschem Mitgefühl. »Das alles hier gibt eine saftige Gefängnisstrafe.«

Wieder der Blick eines Mannes, der am liebsten vor ihr auf die Knie gehen möchte. Wo hat er nur gelernt, auszusehen, als würde er mit dem ganzen Körper einatmen vor Verlangen?

»Wenn Ihr Prozess durch ist, steht der Winter vor der Tür. Es ist kalt in Hoheneck. Sehr kalt. Sie sitzen dort mit KZ-Aufseherinnen, Kindsmörderinnen, Räuberinnen in einer Zelle. Zwanzig, dreißig Frauen, möglicherweise mehr. Personen, die Sie nicht kennen möchten, nicht mal ich will das. Die Politischen rangieren an der untersten Stelle in ihrer Hackordnung. Freiwild, sozusagen.« Er schiebt die dichten Brauen zusammen, lässt den Blick über ihren Hals wandern. »Zweieinhalb Jahre werden das, nicht weniger. Auf keinen Fall weniger. Danach kennen Sie sich selbst nicht mehr.«

Oda kann nicht verbergen, was für ein Schock diese Zahl ist, das sieht sie an seinem Lächeln. »Es werden Menschen freigekauft.«

»Erst nach mindestens einem Jahr Haftzeit, schneller geht das nicht. Bis dahin kann viel passieren.«

Er hat nicht gebrüllt, sie nicht gepackt und durchgeschüttelt für diese Frechheit. Prompt fällt ihr ein, was sie im Treppenhaus aufgeschnappt hat. Sonderbehandlung. Oda gestattet sich einen tiefen Atemzug. »Mein Vater wird die Westmedien einschalten, er wird sich drüben an Politiker wenden, wenn er erfährt, dass ich hier bin. Deshalb war man bislang so … milde zu mir. Richtig?« Sie kann sehen, wie er zu Eis wird. Sie begreift. »Er soll zurückkommen.«

»Nein. Nein, das stimmt nicht. Wir haben ihn abgeschrieben.«

Sie glaubt ihm nicht, Papa ist einer der besten Onkologen, die sie je hatten. In ihrem Kopf rattert ein Gedankenkarussell, an einer Stelle bleibt es stehen. Sie haben ihm bestimmt längst mitgeteilt, dass sie im Gefängnis ist, und ihm ihre Freiheit angeboten, für seine Rückkehr. Ihr Inneres zieht sich zusammen. Ein Mensch muss für sich selbst sorgen , hat Papa ihr nach seinem Wegbleiben geschrieben. Achten, dass er nicht kaputtgeht, sich nicht verliert, sonst hat er auch nichts mehr zu geben. Deshalb weiß ich, dass du mir irgendwann verzeihst. Er wird alles tun, um ihr zu helfen, aber er wird nicht zurückkehren. Wie einen Stein spürt sie diese Gewissheit in ihrem Bauch. Dass sie allein kämpfen muss, für sich.

»Kann ich ein Strafgesetzbuch haben und einen … einen Anwalt, steht der mir nicht zu?«

Er lacht. Mittendrin bricht er so abrupt ab, wie es nur jemand kann, der das geübt hat. Faltet die Hände, sieht sie sehr fest an. »Sie sind doch schlau.«

Was kommt jetzt? Die Staatssicherheit braucht jemanden wie Sie?

»Wir wollen Leute wie Sie hierbehalten, kluge Leute, die ihre Sinne am Puls der Zeit haben und das Land voranbringen. Auf unserer Seite, der besseren Seite von Deutschland. Wenn Sie das Ganze bereuen und das unter Beweis stellen, kann ich mich für Sie verwenden.«

Dann wollen sie wenigstens das: eine feine, perfide Rache, vielleicht soll sie Papa sogar bespitzeln. »Wenn Sie wissen wollen, wie die Menschen denken, fragen Sie sie doch einfach.«

Der Vernehmer springt auf, sein Stuhl knallt auf die Lehne. Er dreht eine Runde um seinen Tisch, dann stützt er den mächtigen Oberkörper mit den Fäusten auf die Tischplatte und lehnt sich zu ihr herunter. »Es kann sein, dass die Westmedien Lügengeschichten verbreiten, das tun sie immer. Aber es wird Ihnen nicht helfen, nicht im Geringsten. Sie werden einsitzen und kaputtgehen, das verspreche ich Ihnen, dafür reicht auch ein halbes Jahr.« Er spricht leise, ohne den geringsten Anflug von Schadenfreude, aber auch das dürfte gespielt sein. Er ist ein Schuft.

»Stellen Sie sich vor: Sie würden einfach hier rausmarschieren. Es ist herrlich, die Sonne scheint auf die bunten Blätter, ein goldener Herbst, wie die Dichter sagen.«

Oda starrt den gelblichen Schrank an, stellt sich vor, eine der Türen rauszureißen und damit um sich zu schlagen, es hilft nicht. Eine verlorene Welt bricht über sie herein, in all ihren Farben. Wie wunderbar ihr Leben war! Die Finger unter ihrem Hintern recken und dehnen sich, die ersten Takte der Pastorale rasen durch sie hindurch, erwecken jede Zelle zum Leben. Das Konzert im Juni, Jürgen auf einem Klappstuhl in der ersten Reihe im Park an der Ilm, was für ein Sonntagnachmittag!

»Sie steigen in den Zug. Fahren zurück nach Weimar, mit einer Krankschreibung, Sie hatten sich ja das Bein gebrochen. Das Semester müssen Sie natürlich nicht wiederholen, weil Sie so begabt sind, Ihr Name ist ja schon weit oben im Gespräch. Wie klingt das? Gut?«

Und wie Jürgen an jenem Sonntag das Kinn in die Hand stützte, die Augen schloss und lauschte, so aufgespannt für Töne! Sie könnte sich auf die Suche nach ihm machen, er hat doch Eltern, die müssen etwas wissen. Weidwund vor Kummer schluckt sie und schluckt. Nicht heulen, bloß nicht. Wehe! Es klappt nicht, ihre Schultern hüpfen wie Tennisbälle.

Blättergeraschel. »Violine war das, nicht wahr? Sie haben ein gutes Instrument.«

Sie drückt zwei Finger auf die Augen. Ich habe meine Geige verschenkt, die kriegst du nicht in die Finger. Schwer war das, sie beide waren verwachsen. Ein Moment, in dem sie beinahe alles abgeblasen hätte.

»Das Instrument ist bei einer Frau Marina Selle.«

Odas Hals schnürt sich zusammen.

Der Mann fährt fort. »Also wusste die von Ihren Plänen.«

»Nein.« Sie hat ihr die Geige vorbeigebracht und gesagt: »Frag nicht.« Und Marina hat nicht gefragt, weil ihre Geige Mist ist und sie sich keine bessere leisten kann.

Er zückt einen Stift und schlägt ein Heft auf. »Halten wir fest: Sie haben ihr gesagt, dass Sie abhauen.«

»Ich habe ihr die Geige gegeben und gesagt: Ich habe eine bessere.«

»Eine bessere als eine Stainer? Hier bei uns?« Er grinst. »Sie denken, dass wir von Kultur keine Ahnung haben. Haben wir aber.«

Die Tränen versiegen so schnell, wie sie gekommen sind. Marina hat fünf Geschwister und einen Vater bei der Bahn, die Mutter ist Hausfrau. »Marina hatte keine Ahnung.«

»Na, das kriege ich schon aus ihr raus. Auch, wie sie Ihnen geholfen hat.«

»Sie ist Kandidatin der Partei!« Eine ganz Vernünftige. Und sie hat Asthma. Das feuchtkalte Klima in einem Gefängnis würde sie kaputt machen.

»Die nehmen wir besonders ernst.«

»Sie weiß aber nichts, rein gar nichts!« Marina ist absolut untadelig, das weiß jeder. Und eine liebe Freundin gewesen, nachdem Papa im Westen geblieben war und sie plötzlich ohne Familie dastand. Nie ist ein Wort des Vorwurfs über Marinas Lippen gekommen.

»Nächster Fluchthelfer. Wer?«

Nächster? »Ich habe sie doch nicht verraten!«

Der Vernehmer strahlt sie an. »Marina Selle, ich habe das notiert. Und die anderen?«

»Es gibt keine! Niemanden!« Nur Jürgen.

Er zieht die dichten Brauen hoch. »Professor Menke. Gut, dass Sie ihn genannt haben, wir sind schon länger der Meinung, dass er seines Postens nicht würdig …«

»Was kann ich Ihnen schon nützen?«, schreit sie.

Er brüllt nicht zurück, holt auch nicht aus, um ihr eine runterzuhauen, sondern lehnt sich zurück, legt seine Bosheit ab wie ein lästiges Kleidungsstück an einem Sommertag. »Viel. Dazu kann ich Ihnen aber jetzt noch keine Auskunft geben.«

»Dann verstehe ich nicht, warum ich unterschreiben soll.«

»Doch, das tun Sie.«

Oda hasst es, so verletzlich zu sein, so schwach, aber sie ist es. Ohne Papa kommt sie irgendwie zurecht, aber ohne zu wissen, was mit Jürgen ist, niemals, gestochen klar steht ihr das vor Augen.

»Also: Sagen Sie Ja?«

»Haben Sie mit mir noch jemanden festgenommen?«, fragt sie leise.

Er betrachtet seine Fingernägel.

»Haben Sie?«

Er seufzt. »Quid pro quo, heißt es nicht so? Ich habe Geschichte und ein bisschen Latein studiert, aber das nur nebenbei. Da war tatsächlich ein Mann in Ihrem Alter. Ziemlich groß.«

»Wie heißt er?« Ihre Stimme schlägt hoch wie eine Flamme.

»Wie lautet Ihre Antwort?«

Oda sieht den großen Mann vor sich an, der ein Bild von einem Mann ist und so schlecht, so durchtrieben. Warum bloß?

Er schiebt ein Blatt dicht vor ihre Nase.

Sie nimmt den Stift in die Hand.

Er nickt. »Unten links.«

»Erst sagen Sie mir, was mit ihm ist.«

Er atmet tief ein, seufzt. »Sie zuerst. Bitte.«

Jürgen wird sie nie mehr lieben können, wenn sie das hier tut, und er lebt, sonst hätte dieses Scheusal es ihr längst unter die Nase gerieben. Oda legt die linke Hand über die Unterschriftenzeile und tut so, als würde sie etwas schreiben, das Herz springt ihr fast davon.

Er streckt die Hand nach dem Blatt aus, sie hält es fest. Wieder senkt er den Blick so tief in ihren, dass sie nicht ausweichen kann. Legt den Kopf schräg, hebt die Brauen. Nickt. »Wie Sie wollen.« Dann steht er auf, schnappt sich seine Tasche, steckt die Akte ein.

»Was ist mit ihm, was? Ich habe doch unterschrieben!« Sie hält ihm das Blatt hin, er guckt nicht einmal.

»Ein so junger Mann. Schade.«

Oda spürt ihre Nerven zerreißen. »Nein!«

»Mein Beileid.«

Die Worte reißen ihr die Haut herunter, der Schmerz ist gewaltig. Oda schreit los. Ihr Vernehmer verlässt ungerührt den Raum. Das Blatt mit der Verpflichtungserklärung lässt er liegen.