Margit steht drei Fuß breit vorm Abgrund und windet Stoffstreifen um einen rostigen Stab des Zaungitters, das sie hier raufgeschleppt hat, damit Horst nicht aus dem Zimmer fällt. Es ist ein Zimmer mit nur drei Wänden, eine Sommerküche mit Balkon, sagt Mutti. Horst sitzt zu ihren Füßen, die Beinchen zum Dreieck gespreizt, seine Händchen schubsen den kleinen Ball hin und her, den sie für ihn aus Stofffetzen zusammengerollt hat.
Sie geht auf die Knie. »Gibst du mir den nächsten Streifen?«
Er patscht in den Stoffhaufen neben sich und hält eine Handvoll hoch. »Danke, lieber Horst.« Sie haben ihn nach dem sommersprossigen Nachbarsjungen zu Hause benannt. Er war ein so hübsches und freundliches Kind, ein Sonnenschein und ein ziemliches Plappermaul. Ihr Horst spricht nicht, aber er versteht sie genau.
Sie nimmt einen Streifen aus seiner Hand und befestigt ihn unten am nächsten Gitterstab, dann windet sie den fadenscheinigen Stoff darum. Das Zaunstück haben sie und Ronald im Hinterhof gefunden. Er wohnt mit seiner Mutter im Keller nebenan. Das Haus obendrüber war ein Kino, sie haben drei Klappsessel unterm Schutt vorgeholt, das sind jetzt ihre Stühle. Ronald drückt sich ständig bei ihnen rum und geht ihr auf die Nerven, aber er ist nützlich in einer Stadt wie Berlin, wo kaum ein Stein mehr auf dem anderen liegt und man sehen muss, wie man zurechtkommt.
»Margit?« Hans, der auf einem der Kinosessel lümmelt und einen Strickpullover aufribbelt, den sie gestern zwischen zwei Steinbrocken rausgezerrt hat, hat den Unterkiefer vorgeschoben, sein Fuß trommelt gegen ein Stuhlbein. »Ich will nicht mehr, die Fäden zerreißen sowieso.«
»Gib dir mehr Mühe, wir brauchen die Wolle.« Die Fäden kann sie zusammenknoten, das macht sie gern, und stricken auch, wenn Mutti das nicht schafft. Als Mutti gefragt hat, ob sie denn fleißig mithelfen wird, damit sie Horst behalten können, den sie einfach nicht loslassen konnte, weil ihre Arme wie zusammengewachsen waren und nicht auseinanderwollten, schon beim Hafenamt in Stralsund und noch viel schlimmer an der Tür des Waisenhauses in Berlin, da hat sie aus vollem Herzen Ja gesagt.
»Oder du gehst Holz sammeln?«, schlägt sie ihrem Bruder vor.
»Bäh«, antwortet Hans.
»Du kriegst nichts ab, wenn ich heute ein Stück Zucker bekomme, das sag ich dir.«
Er schleudert den Pullover weg, Horst zuckt zusammen.
»Nicht weinen, Horst, hilfst mir lieber, dann geht es schneller, und du kannst rausgucken, ja?« Er soll sich nicht zerkratzen, wenn er sich an dem rostigen Gitter hochzieht und die Händchen rausstreckt, um die Sonne anzufassen. Die Sonne scheint seit Tagen, richtig schön ist das.
Die Küchentür klappt.
»Wir sind gleich fertig, Mutti, musst nicht denken, dass wir heute nicht mehr an was zu essen kommen.« Gekehrt hat sie schon und aufgeräumt, das Bett nebenan aufgeschüttelt, da muss Mutti sich nur noch drauflegen, sitzen kann sie ja schlecht. Und warten, dass es was zu essen gibt, das besorgen sie gleich. Von Mitja, wenn sie den Namen richtig verstanden hat. Mal ist es ein Stück Brot, mal eine Rübe, dazu immer was Kleines zum Naschen und jedes Mal eine Zigarette, die Mutti in die Rocktasche steckt. Zum Tauschen. Mitja ist nett zu Kindern, genau wie die anderen russischen Soldaten, sie versteht gar nicht, was Mutti gegen sie hat. Russenschweine hat sie vorgestern wieder vor sich hin gemurmelt, als Motorgeräusche durch die stille, tote Straße lärmten, und geweint, dabei weint Mutti nie. Und dass sie von Annaliese nichts mehr wissen will, hat sie auch gesagt, weil die einfach abhaut, wenn’s brenzlig wird, die feige Nuss, diese erbärmliche Person.
Es bleibt still in der Küche. Ihre Hände hören auf zu arbeiten. Mutti hat nicht geantwortet, und Hans ist auch nicht aufgestanden, um ihr einen guten Tag zu wünschen, was er sonst nie versäumt. Sogar Horst ist stummer als stumm.
Langsam und steif dreht Margit sich um, ihr Herz schlägt in den Ohren.
Da steht ein Mann. Er trägt eine Art Mantel, der aussieht wie eine Pferdedecke, einen Schnürschuh und einen Pantoffel und Lappen statt Socken. Sein Gesicht ist grau, unter den Augen liegen schwarze Täler. Er starrt sie an, sie möchte sich umdrehen und davonlaufen, aber es geht nicht. Hans sitzt wie angefroren auf seinem Kinostuhl, das sieht sie aus dem Augenwinkel. Horsts Hände patschen gegen ihr Schienbein, sie schiebt sich vor ihn.
Der Mann schluckt, er hat einen riesigen Adamsapfel.
Sie muss sich zusammennehmen, Hans und Horst sind viel kleiner als sie. »Wir haben nichts. Bei uns ist nichts zu
holen.«
»Ich weiß.«
Er schwankt, als könnte er nicht mehr lange stehen. Ob sie schneller hier rauskämen als er? »Meine Mutti und mein Vati kommen gleich wieder.«
»Dein Vati?«
Seine Stimme klingt, als käme sie aus einem tiefen Schacht.
»Unser Vati«, sagt sie schnell.
Er guckt auf seine Schuhe. »Ich bin der Vati.«
Ihr Herz springt so heftig gegen ihre Brust, dass es von innen wehtut.
»Willst du mir nicht Guten Tag sagen?«
Sie sagt Guten Tag, Hans kriegt kein Wort raus. Horst zieht sich an ihrem Bein hoch und drückt das Köpfchen in ihre Kniekehlen.
Die Tür geht auf, dieses Mal ist es Mutti. Margits Knie geben nach, sie muss dringend aufs Klo.
Mutti geht langsam um den Mann herum. »Wilhelm?«
Er starrt zurück. »Lisbeth.«
Nach einer Weile geben sie sich die Hand, nur das.
»Dachte ich mir, dass ihr hier seid.«
»Deine Schwester war so gut, uns aufzunehmen, wir haben ja nicht gewusst, wohin.«
Tante Berta wohnt in der Etage untendrunter, in drei Zimmern, und hat ihnen ein Federbett und zwei Kissen abgegeben. Vielleicht kann er bei ihr wohnen, hier ist ja gar kein Platz. Margit presst die Beine zusammen, sie möchte nichts als raus.
Der Mann sieht Hans an. »Du bist aber groß geworden.«
Hans sieht Mutti an, sie nickt ihm zu, ihr Blick ist streng. »Sag dem Vati etwas, er möchte wissen, wie es dir ergangen ist.«
Hans reißt die Augen auf, guckt aber nicht zu dem Mann rüber. »Wir haben eine Seeschlacht mitgemacht, eine richtige Seeschlacht, der Engländer wollte eine Bombe auf unser Schiff werfen, aber eine ganze Fliegerstaffel ist gekommen und hat ihn weggejagt.« Er rudert mit den Armen und macht furchtbare Geräusche dabei. »Das hat geknallt, peng!«
Horst gibt einen fadendünnen Laut von sich, Margit nimmt ihn auf den Arm. »Wir müssen los, Mutti.« Endlich bringt sie was raus.
Der Mann zeigt mit dem Finger auf Horst. »Und wer ist das?«
»Wir haben ihn in Pflege«, sagt Mutti.
»Er sieht aus wie Hans, als er klein war«, sagt der Mann. Es kann doch der Vati sein, das sieht sie an seinen Ohren, die sind groß, stehen ziemlich ab und haben eine Kerbe überm Ohrläppchen, nur der Vati hatte solche Ohren, sie zum Glück nicht, und Hans auch nicht.
»Du hast Hans ein einziges Mal gesehen, da war er acht Monate alt«, sagt Mutti traurig. »Horst haben wir gefunden, er war ganz allein.«
Er holt etwas aus seiner Tasche und wirft es auf den Fußboden, vor Margits Füßen landet eine zerknitterte Fotografie, aufgenommen zu Hans’ Taufe. Hans sieht wirklich ein bisschen aus wie Horst. »Das ist lustig«, sagt sie, ihre Stimme flattert durch den Raum wie ein ängstlicher Vogel, »dabei haben wir ihn wirklich gefunden.«
Mutti lässt sich auf einen Stuhl sinken.
Der Mann bläht die Nasenflügel. »Denkt nicht, ich wär dumm. Denkt das bloß nicht.« In seiner Stimme lauert ein Tier. Ja, das ist Vati.
»Margit hat ihn auf dem Schiff an sich genommen und nicht mehr hergegeben, er hatte keine Mutter. Ich hatte auch eine amtliche Bescheinigung für ihn, aber die ist verloren gegangen auf dem Weg hierher, mein Koffer wurde gestohlen. Ich habe heute wieder drei Stunden angestanden, um eine neue zu bekommen. Nächste Woche vielleicht, wenn Papier kommt, sagen sie.«
Der Vater lacht.
»Glaub mir das, bitte.« Mutti drückt sich aus dem Stuhl und geht zu ihm hin. Ehe sich ihre Hand auf seinen Unterarm legen kann, reißt er die Arme hoch.
»Wilhelm, du denkst doch nicht …«
Sein Blick schneidet geradewegs in sie hinein.
Mit Horst auf dem Arm bückt Margit sich und schiebt die ausgebreiteten Stoffstreifen zusammen. Sie wird später weitermachen, wenn er wieder … Aber das darf sie ja gar nicht denken. Sie nimmt Hans an die Hand. »Wir gehen jetzt nach Brot.«
»Und eure Mutter?«, fragt der Vater.
Mutti streicht sich das wirre Haar nach hinten. »Besser, wenn immer jemand da ist.«
»Aha. Und wo kriegt man Brot, in dieser Ruine von Stadt?«
»Von Mitja«, flüstert Hans. Wie dumm von ihm.
»Ein Russe?«
Draußen im Hof rasselt eine Mauer in sich zusammen, eine Staubwolke steigt auf.
Der Vater tritt gegen den Kinosessel. Mutti schaut weiter auf die breiten Bodendielen.
»Wisst ihr, was die Russen mit uns gemacht haben? Wisst ihr das? Ihr hättet euch umgeguckt, wenn ihr das wüsstet. Gott im Himmel … jetzt weiß ich, woher das Balg kommt.«
Laut ist der Vater geworden, er hat die Worte ausgespuckt wie Obstkerne, an denen man sich nicht verschlucken will. Margit zieht Hans hinter sich her, er sträubt sich nicht mal.
»Mitja hat nichts getan«, flüstert sie, als sie sich an Vater vorbeidrängt. Ehe sie durch die Tür ist, hat sie eine sitzen, von Mutti, aber gewaltig. Ein Rinnsal läuft ihr die Beine runter, sie beißt sich auf die Zunge.
Draußen taumelt sie gegen etwas. Ronald. Seine Augen sind halb zusammengekniffen, wie immer, wenn er denkt, dass sie ihn gleich anmeckern wird.
»Soll ich dir Horst abnehmen?«
Sie kriegt nichts raus.
»Sag schon.«
Sie drückt ihm Horst in die Hand, tappt die Stufen runter durch das hohe Treppenhaus und verschwindet kurz auf halber Treppe. Im Klo zieht sie die Strümpfe aus und stopft sie unters Abflussrohr, um sie später wieder abzuholen. Hoffentlich hat keiner von den Jungs gemerkt, was für eine Memme sie ist!
Unten in der Tür hat sie sich gefasst, nimmt Horst wieder an sich und guckt Ronald böse an. »Du lauschst bei fremden Leuten an der Tür? Schäm dich!«
»Ich …«
Sie schüttelt seine Hand von ihrer Schulter. Immer dieses Angefasse.
»Ich hab ihn raufgehen sehen, da bin ich lieber hinterher.«
Es ist sehr heiß, der Schutt, der sich überall türmt, brennt in ihren Augen.
»Hätte ich was sagen sollen?«
»Nein danke!« Sie kommt prima zurecht, so eine Ohrfeige muss man erst mal wegstecken können. Ronald hätte garantiert geflennt. Oder Hans, der ist auch so weich.
Sie stapfen los auf die erbärmlich kaputte Straße, Ronald geht voran. Dreck staubt ihm die nackten Beine hoch. Er dreht sich zu ihr um, wartet, bis sie ihn einholt.
»Du, ich weiß was.«
Sie achtet nicht auf ihn.
»Heute gibt es eine Schale Suppe mit Brot fürs Klopfen und Sortieren, ich weiß auch, wo. Dann musst du nicht zur Kaserne laufen.«
Hans reißt an ihrer Hand. »Hast du das gehört?«
Sie bleibt stehen.
»Bist du noch traurig wegen eben?«, fragt Ronald.
»Ich war überhaupt nicht traurig. Oder habe ich etwa so ausgesehen?«
Er schüttelt den Kopf.
»Also! Wo?«
»Ich will einen Kuss dafür. Wange reicht.«
»Was?« Ihr fällt ein, was er neulich zu einem anderen Jungen gesagt hat, etwas Ekliges. Ei, was hab ich da entdeckt, zwei Erbsen auf ein Brett gesteckt. »Wo, sag!«
»Überlegst du’s dir dann?«
»Ja«, lügt sie.
Er seufzt, sie ziehen weiter.
Nicht lang später hört sie Klopfen und Singen und das Knattern eines kleinen Kesselwagens, und ihre Brust wird weit.
Inmitten von Geröll, verkohlten, hohlen Mauern, von einsam aufragenden Dachgiebeln und Gebälk, das kreuz und quer herumliegt wie Mikadostäbchen, stehen auf einem Schutthaufen Frauen in bunten Kleidern und Kopftüchern. Ihre Gesichter und Arme sind bedeckt von Staub, ihre Schuhe sind grob. Auf dem Kamm des Bergs bilden sie eine Menschenreihe und reichen sich Eimer zu, von einer zur nächsten. Eine Riesenmenge an Schutt und Steinen schaffen sie so beiseite, alle gemeinsam.
Margit winkt ihnen zu. Wie gut das sein muss, so zu schuften und zu lachen, abends todmüde ins Bett zu fallen und so fest zu schlafen, dass kein böser Traum einen wecken kann. Das möchte sie endlich auch.
Ein Mann im Kittel tippt Margit an, er hat einen Goldzahn im Mund. »Wollt ihr hier nur rumstehen?«
»Nein, wir wollen arbeiten.«
»Dann ab mit euch ans Ende der Schlange. Schnappt euch die Eimer. Die Steine darin werden abgeklopft, nach links gestapelt, und zwar mit der flachen Seite aufeinander. Den losen Schutt kippt ihr auf den Haufen da rechts, aber langsam. Verstanden?«
»Nur zwei von uns arbeiten, die Belohnung teilen wir uns. Es gibt doch was?«
»Das wirst du dann sehen.«
Sie gibt Horst einen Kuss und hebt ihn in Hans’ Arme. »Fein bei Hans bleiben, ja?«
»Buh«, macht Ronald, Horst zieht die Mundwinkel nach unten.
»Spinnst du? Was, wenn er Angst kriegt und wegläuft?«
Ronald schneidet eine Grimasse.
»Nimmst du dir endlich einen Hammer, du Lulatsch, oder ist der zu schwer für dich?«, ruft jemand über ihren Köpfen. Eine Frau in einem Kleid für einen Sonntagsspaziergang, es ist blassblau und hat einen großen weißen Kragen. »Ich bin Martha und hab hier die Aufsicht, also hopp jetzt! Und beim Stapeln immer zweihundert zu einem Block.« Der Mann im Kittel schleicht nach links und beginnt, einen Stapel Steine nachzuzählen, indem er sie nacheinander mit seinem Bleistift antippt.
»Spricht die Herrscherin vom Mont Klamott zum Volk«, raunt Ronald hinter ihr, aber leise, so mutig ist er nun auch nicht.
»Schönes Kleid«, ruft sie hinauf.
Die Frau mit dem Namen Martha tippt sich lachend an die Stirn. »Ist mein einziges.« Dann nickt sie ihr zu und bückt sich nach dem nächsten Ziegelstein, scheppernd saust er in ihren Blecheimer.
Margit schickt Hans mit dem Kleinen an den Rand des Platzes, den sie vom Schutthaufen gut überblicken kann. Sie nimmt einen Hammer, der auf einem Brett bereitliegt, und schnappt sich den vollen Eimer, den ihr die Frau im Kopftuch reicht, die unten am Schuttberg als Letzte in der Kette steht. Ihre Augenlider sind geschwollen, die Lippen zu einem Strich zusammengepresst. Die Arbeit hier muss sehr anstrengend sein, eher etwas für Erwachsene, aber sie wird es schaffen.
Ohne sich nach Ronald umzusehen, klopft Margit los, sie stapelt und schüttet. Bald hustet sie und gewöhnt sich an, den Kopf wegzudrehen, wenn sie klopft. Ronald macht Pausen, sie nicht, sie sieht nur ab und an zu Hans rüber, der Horst an beiden Händchen über den Platz führt, damit er endlich richtig laufen lernt, und ist richtig stolz auf die beiden. Sie haut und klopft und stapelt sich ein riesiges Loch in den Bauch.
Irgendwann legt sich eine Hand auf ihre Schulter. »Lass gut sein für heute, Mädchen, ja? Komm und iss was«, sagt Martha. Ihr Blick ist anerkennend.
Margit richtet sich ächzend auf, ruft nach Hans und Horst und stakt zu dem Kesselwagen, wo der Mann im Kittel die Essensausgabe übernommen hat. Und was es alles zu essen gibt! Zwei Scheiben Brot, die sie in ihre Rocktaschen stopft, ohne auch nur dran zu riechen, die soll Mutti haben. Eine Suppe mit Kohl und ein paar Graupen, eine kleine Möhre. Auch Hans bekommt eine halb volle Schüssel, das ist wirklich nett von den Frauen, eine Scheibe Brot nimmt sie ihm weg für Horst. Sie tunkt das Brot in ihre Portion und füttert ihn damit, die Möhre kriegt er zum Knabbern. Dann macht sie sich an die Reste und schielt immer wieder zu Martha und der zarten Frau vom Ende der Eimerkette rüber. Sie sitzen Hand in Hand auf einer umgestürzten Säule und haben die Köpfe gegeneinandergelehnt. Unten in Margits Bauch kitzelt etwas, fein wie das Zirpen einer Grille.
Erst nach einer ziemlichen Weile guckt sie weg und kriegt einen Schreck. Sie springt auf, ihr Blechnapf scheppert zu Boden. »Hans? Horst!«
»Horst«, äfft Ronald lang gedehnt nach, der zu ihren Füßen hockt. Dann zupft er sie am Rockzipfel. »Reg dich nicht auf, die können nicht weit sein.«
»Haaans«, ruft sie. »Hoooorst!«
Keine Antwort.
Von dem Platz gehen nach drei Seiten kleine Wege ab, sie rennt einfach drauflos, endet vor einer Mauer. Kehrt um, nimmt einen anderen Weg, auch hier findet sie keinen der beiden. Sie läuft zurück, hetzt den dritten Pfad entlang.
Das hat der Kleine noch nie gemacht, einfach weglaufen, das war bestimmt Hans’ Idee! Was, wenn er nicht aufpasst? Wenn die beiden in ein Loch stürzen, sich verlaufen, auf eine Granate treten?
Hinter einer Mauer öffnet sich ein geräumter Platz, ein paar Kinder spielen darauf Hascher, Hans ist bei ihnen.
Sie packt ihn hart am Arm. »Wo ist Horst?«
»In der Nähe.«
Ihr Blick fliegt umher. »Ist er nicht! Du solltest auf ihn aufpassen!«
»Lass mich los!« Hans tritt nach ihr. »Ich hab gesagt, er soll sitzen bleiben!«
Sie klettert auf einen Geröllhaufen, schabt sich den rechten Knöchel auf, Blut rinnt in ihren Schuh. Auf dem ganzen Platz gibt es nichts als Häusergerippe und grauen Dreck im Übermaß, der Platz ist auf einmal wie ausgestorben, die Kinder haben sich davongemacht. Also jagt sie wieder runter, kniet rufend vor Kellerluken, klettert über herumliegende Balken in ein Haus, von dem nur noch die Außenwände stehen. Ronald brüllt, dass sie da nicht rein soll oder eine Tracht Prügel kriegt, sie hört nicht drauf. Hätte sie Horst doch nicht mit Hans allein gelassen! Wenn Horst weg ist, war alles umsonst, alles Aufpassen, Füttern und Windelwechseln, all die Stunden, die sie abends vor seinem Bettchen im Wäschekorb kniet und singt, bis er die Augen nicht mehr offen halten kann. All das Liebhaben, weil sonst alles so scheußlich ist, so grässlich kaputt. Wer macht bloß so was, und warum?
Der Platz verschwimmt vor ihren Augen. Dieser dumme, dumme Krieg. Oh, sie hat Horst so viel lieber als Vater!
»He, Margit!« Ronald, der mit rot geschwitztem Gesicht angelaufen kommt, deutet auf zwei Mädchen, die nicht weit weg mit einem Kinderwagen umherspazieren. Sie wischt sich mit dem verstaubten Ärmel das Gesicht und läuft hin.
»Habt ihr einen kleinen blonden Jungen gesehen, der noch nicht laufen kann? Er hat ein graues Kittelchen an und nackte Füße.« Sie haben keine Schuhe für ihn, und die Strümpfe zieht er sich immer aus.
Die beiden stoßen einander an.
»Redet!«
Die Kleinere, sie hat eine schneeweiße Schleife im Haar, deutet mit dem Zeigefinger in den Kinderwagen. Und da sitzt er, ihr Horst! Lutscht am Däumchen und lacht sie an.
Sie hebt ihn raus und drückt ihn an sich, er gluckst wie ein Täubchen. Wie froh sie ist, und leicht wie eine Feder!
Die Größere der beiden, sie hat einen braunen Teddybären im Arm, der zuvor in dem Wagen gesessen haben muss, streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Unser Bruder ist verschüttet, und der da war doch allein. Da dachten wir …«
Margit holt aus, das Mädchen reibt sich heulend die Wange, gerade noch so kann sie sich davon abhalten, der anderen auch eine zu kleben. »Ihr könnt nicht einfach fremde Kinder stehlen, das ist verboten!«
Die Kleinere wühlt in ihrer Rocktasche, ein Brötchen kommt zum Vorschein, ein weißes Brötchen! Sie streckt es Margit hin.
»Wo hast du das her?«
Die Größere hat sich inzwischen gefangen. »Denk dir, unser Vati ist bei der Feuerwehr, wir haben sogar Milch, die wollten wir mit dem Kleinen teilen. Habt ihr auch Milch?« Jetzt grinst die Göre sogar, sie kennt die Antwort wohl, Margit möchte ihr noch eine kleben, aber sie hat keine Hand frei.
Ronald stupst ihr den Zeigefinger in den Rücken. »Zerquetsch das Brötchen nicht, ich nehm’s gern, wenn du es nicht nötig hast.«
Margit stampft mit dem Fuß auf, dicht neben dem Fuß des einen Mädchens. »Du halt den Mund und stell keine dummen Fragen, sonst zieh ich dir die Zöpfe lang! Und nun haut ab, ihr zwei, aber dalli!«
Die beiden Mädchen trollen sich. Margit pfeift nach Hans, der herangeschlichen kommt, die Schultern zwischen den Ohren. Dann laufen sie gemeinsam zurück zur Gulaschkanone.
Ronald streift im Gehen scheinbar absichtslos ihren Arm. »Du bist dumm«, sagt er, »das wäre eine Gelegenheit gewesen.«
Sie bleibt stehen. »Was für eine Gelegenheit?«
»Die haben mehr als genug zu essen und wollen unbedingt ein Brüderchen.«
»Spinnst du?«
Ronald tritt dicht vor sie und streicht ihr mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken. »Bestimmt hätte er es gut bei ihnen.«
Die Haut seines Fingers ist zarter, als sie erwartet hat. »Essen ist doch nicht alles«, sagt sie leise.
»Glaubst du wirklich, dass dein Vater euch erlaubt, Horst zu behalten?«
Er hat alles mit angehört, dieser Spitzbube. Sie möchte ihm dafür eine runterhauen, verpasst aber den Moment, in dem ihr das schnell und leicht von der Hand ginge. Er steht auch viel zu nah, was er noch nie gewagt hat, und sie erkennt, dass seine Augen die Farbe wechseln können. Sie dachte, er hätte einfach irgendwie graue, jetzt sind sie blau mit ein bisschen Grün drin und dunkel, wie Schiefer waren sie auch schon. Wie das Meer, das sie so vermisst, das sieht auch immer anders aus. »Das lass mal meine Sorge sein.«
»Du bist ja verrückt, Margit. Viele Kinder werden krank und sterben, weil nicht genug zu essen da ist, das weißt du doch.«
Sie verbirgt das Gesicht hinter Horsts kleinem Rücken.
»Dein Vater ist heimgekommen, da kannst du froh sein«, murrt Ronald weiter, »meiner kommt nie mehr zurück.«
Sie reibt mit der Nasenspitze über Horsts Rücken, er kichert und schlenkert mit den Ärmchen. Wie gern sie es hat, ihn so fröhlich zu machen. »Kann Annaliese ihn nicht nehmen, zur Not? Nur zum Schlafen? Tagsüber fällt mir schon was ein.«
»Jetzt bist du wirklich verrückt geworden.«
Sie hält ihm das Brötchen hin. »Annaliese hat was gutzumachen bei uns, die feige Nuss. Sag ihr das.« Horst legt ein Händchen an ihre Wange, Margit setzt einen Kuss darauf. »Dann überleg ich’s mir außerdem noch mal, das von vorhin, du weißt schon.«
Ronald nimmt das Brötchen und gibt es Hans, ohne es auch nur anzusehen. Hans schlägt die Zähne hinein. Von dem Rest gibt er Horst ab, und dann ihr, sie teilt ihr Stück mit Ronald. Mit der Zunge betastet sie behutsam den weichen, süßen Brocken und kann nicht glauben, dass sie so was im Mund hat.
Ronalds Lippen sind auf einmal auf ihrer Wange, und sie verschluckt sich.
Er klopft ihr den Rücken und grinst. »Es wird bald dunkel, dann finde ich mich nicht mehr zurecht. Also kommt, wir gehen jetzt heim.«
Sie tappt ihm stumm hinterher, Hans an der Hand, Horst fest an sich gedrückt. Sie ist froh und wütend. Keinem ist was passiert, sie sind alle noch da, das zählt, das zählt so viel. Und so schlimm war der Kuss nicht, den kann sie leicht wieder vergessen. Nur nicht, dass Ronald das letzte Wort gehabt hat, aber das zahlt sie ihm irgendwann heim.