Jan

Er hockte mit eingezogenen Schultern hinterm Lenkrad, die Fingerknöchel weiß vor Anstrengung. Der Wind drückte abwechselnd von rechts und links, versuchte, ihn von der Straße zu schieben, er hielt fluchend dagegen. Sah die Markierungen auf dem Asphalt zu einem langen weißen Streifen zusammenfließen, hörte Schneehaufen knirschen, die seine Räder streiften. In ihm kam eine Ahnung von Dunkelheit auf, die ihm vertraut war. In die er nicht hineinstürzen durfte. Auf keinen Fall.

Hinter dem neu angelegten Kreisverkehr in der Ortsmitte wurde es in seinem Kopf bunt. Bilder tauchten auf, sie waren klar und scharf, dabei war er noch nicht mal in der Nähe des Hauses.

Vor einem riesigen Himmel ein aus dem Hügel wachsender Schornstein. Die Dachkante. Eine gedrungene Hauswand darunter. Längliche Fenster mit Scheiben wie schwarze Augen, vier zur rechten, vier zur linken Seite der Tür. Schnee an einem Ostersonntag, fein und glitzernd. Onkel Hans’ Wolga, der röhrt und spuckt, weil er schlecht gegen die Glätte der Straße ankommt. Jan, ein Pimpf von sechs Jahren, der die Kiefer aufeinanderbeißt und nicht aussteigen will, als sie ankommen. Mutti, die seine Hand drückt, ihr großes, liebes Gesicht zu ihm herüberbeugt, um das ein Kranz fester Locken liegt, die seine Wange kratzen. Wenn es dir nicht gefällt, mein Junge, kaufen wir es nicht.


Dann stand er frierend vor dem, was vom Haus übrig war, und fasste es nicht. Putz war so gut wie keiner mehr vorhanden, das Fachwerk war fast überall zum Vorschein gekommen, sein Eichenholz von Nässe aufgequollen. Halb verfaulte Reetbündel hingen strähnig bis zu den Fenstern herunter, von der ehe-
mals dunkelbraun lackierten Tür pellten sich Farbreste. Natürlich funktionierte die Klingel nicht. Als er klopfte, geschah nichts.

Er versuchte es erneut, schlug mit der Faust gegen das Holz. »Hallo?«

Im Haus blieb es still.

»Vater?«

Ein Schlurfen im Flur.

Durch den Türspalt sah er, dass das Licht gelöscht wurde. »Vater, ich bin’s!«

»Jan? Du? Was willst du denn hier?« Eine Stimme wie bröckelndes Gestein.

»Ich will dich besuchen.«

Ein Husten war zu hören. »Das passt gerade nicht so gut, ich …«

»Lässt du mich bitte rein?« Das Schloss war nicht ausgetauscht worden, ein Kinderspiel, die Tür mit dem Oberkörper aufzudrücken.

»Moment noch, ich …« Sein Vater hustete erneut, es hörte nicht auf.

Er stemmte die Schulter gegen die Tür, die nur von einem klapprigen Schließkeil im Rahmen gehalten wurde. Ruckte einmal, zweimal, sie flog auf und schlug gegen etwas, das in sich zusammenfiel. Er brauchte eine Weile, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Schließlich fand er den Lichtschalter. Und erschrak. Brachte kein Wort über die Lippen.

Sein klapperdürrer Vater stand vornübergebeugt in der Tür zum Wohnzimmer. Er steckte in einer fleckigen graubraunen Hose, der Pullover darüber war voller Löcher. Sein Gesicht war eingefallen, das gelblich weiße Haar zerrupft wie Vogelflaum. Er war ein ganz anderer Mann als damals, und doch war Jan, als würde sein Vater gleich auf ihn zugelaufen kommen und die dünnen Arme Halt suchend ausstrecken. Mutti ist am Freitag nicht nach Hause gekommen.

»Jan. Na, so was.«

Er brauchte einen Moment, seine Stimme zu finden. »Vater, wie siehst du denn aus?«

Sein Vater zog die Schultern zu den Ohren, als hätte ihn etwas im Nacken gepackt.

Er deutete auf die braunen Wände, die mit lauter Kram vollgestellt waren: Pappkartons aus Versandhäusern, geöffnet und ungeöffnet, Tüten mit Plastikmüll. Der dunkelrote Läufer auf dem Boden war schwarzbraun. Neben der Haustür stand ein Müllsack, aus dem Bierflaschen und Stapel von ungelesenen Tageszeitungen quollen. »Und was ist das hier überall?«

Sein Vater verzog das Gesicht und zerrte an seinem Pulloverausschnitt.

»Macht hier eigentlich ab und zu jemand sauber?«

Sein Vater stöhnte, als müsse er dringend eine Last abwerfen und schaffe es nicht.

Jan schloss die Tür. »Sag mal, geht es dir nicht gut? Ist dir vielleicht schlecht?« Er musste augenblicklich an Gesa denken, wünschte, sie wäre da. Sie würde etwas Sinnvolles tun, seine Hand nehmen, ihm den Puls fühlen, ein Glas Wasser holen. »Komm, setz dich mal, ich hole dir was zu trinken.«

Sein Vater schob sich, ein Bein nachziehend, durch den Flur auf ihn zu. »Ach wo. Und hier ist alles in Butter.« Seine Stimme war bei jedem Wort immer mehr in die Tiefe gesackt, so als könnte er sie nicht halten.

»Warum warst du dann so unhöflich zu den Polizisten?«

Sein Vater lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. »Hatte zu tun.«

»Ich verstehe, dass du durcheinander bist, weil unangekündigt Leute bei dir auftauchen: die Polizei, dann ich. Aber es ist ja nicht mal gesagt, dass es Muttis Uhr ist, die sie gefunden haben, ich habe da meine Zweifel. Also beruhige dich bitte. Und setz dich endlich.«

»Seit wann interessiert dich das.«

Jan wischte einen Stapel Kartons vom Stuhl neben der Kommode, griff nach dem Arm seines Vaters, der erschreckend dürr war, das Fleisch über den Knochen kraftlos wie Stofflappen. »Schon immer interessiert mich das.«

»Du …« Sein Vater griff sich an den Hals, rieb von da bis zum Herzen und zurück. »… bist einfach weg«, keuchte er, »ohne ein …« Seine Pupillen waren groß und schwarz.

»Sag mal, hast du Schmerzen in der Brust?« Jan begriff schlagartig. Zog sein Telefon aus der Hosentasche und wählte den Notruf.

Sein Vater lehnte sich zurück. »Ich will nicht, dass jemand hier rumschnüffelt, mir geht’s …«

Jan lehnte sich mit der Flanke gegen seinen Vater, der wie ein leerer Sack in sich zusammensank. Fragen drangen an sein Ohr, die er ungefähr beantwortete, nach Alter, Dauer des Zustands in Stunden, Minuten.

Sein Vater stöhnte vor Schmerz, das Kinn auf der Brust.

Er ließ ihn langsam zu Boden. »Bleib hier, Vater, nicht einschlafen!« Sagten die das nicht immer?

Der alte Mann griff nach seiner Hand, verdrehte die Augen, nur das Weiße war zu sehen. Nach einer Schrecksekunde machte Jan sich los, zerrte sich die Jacke vom Leib, bettete den Kopf seines Vaters darauf. Rieb vorsichtig die eingefallenen Wangen, schlaffes Fleisch über tiefen Tälern, die Zähne fehlten. »Mach die Augen auf, kannst du das? Vater? Vater! Hierbleiben!«

Die Lippen seines Vaters zuckten, mehr passierte nicht. Jan nahm seine Hand, hielt sie schweißgetränkte lange Minuten. Bis die Sirene des Rettungsfahrzeugs vor der Haustür verstummte.


Als der Krankenwagen mit Signal und Rundumleuchte davonfuhr, war Jan kurz vorm Ersticken. Er lief dem Fahrzeug wie an Fäden gezogen hinterher, ein Stück durch den Vorgarten, bis zur Straße. Warf sich gegen den Wind, brüllte mit ihm um die Wette, sobald der Rettungswagen sich in ausreichender Entfernung befand.

Das durfte doch alles nicht wahr sein!

Der Sturm riss an ihm, schnitt durch seine Sachen, schlug ihm links und rechts eine ins Gesicht, er hielt mit den Armen dagegen.

Schnell war ihm kalt. Mit steifen Gliedern machte er sich auf den Rückweg über harschen, schmutzigen Schnee, den niemand hier weggeschippt hatte, torkelte dabei gegen den Wind an, der ihn vom Haus weghalten wollte.

Trutzig, mit tief hängendem Reetdach stand es oben auf der Anhöhe, wie eine kleine Festung. Darüber blühte, nur ein blassgelber Fleck in der Wolkendecke, eine dünne Nachmittagssonne. Ein Stück dahinter brach das Land ab und stürzte ins Meer, aber das sah man von hier aus nicht.

Ihm wurde wärmer, je näher er dem Haus kam. An jenem Ostertag hatte Mutti ihm versichert, dass sie ein anderes Haus suchen würden, wenn ihm dieses nicht gefiel. Das hatte es aber, kaum, dass er aus dem Auto gestiegen war, und zwar ziemlich. Aber warum bloß? Weil es drum herum viel Platz zum Spielen gab, einen hohen Himmel, Bäume und lauter gelbe Tulpen im Vorgarten?

Ein paar Meter davor blieb er gegen den Wind gebeugt stehen. Nahm sein Telefon, schoss ein Bild und schickte es ab. Hier habe ich gewohnt, als ich so alt war wie du. Bis bald, liebster Connie.


Kaum war er durch die Tür, schrillte sein Telefon.

»Ich soll dir für das Foto danken«, sagte Gesa. »Und fragen, ob du einen Schneemann für ihn baust.«

Ihre Stimme zog ihn in eine andere Welt, in seine. In der sie wieder mit ihm sprach! »Aber ja doch, ja. Es wird ein kümmerlicher Schneemann sein, aus lauter Resten, und ziemlich dreckig, aber das macht nichts. Wie geht es euch beiden?«

»Antibiotika wirken ja sehr schnell, es wird schon ein wenig besser bei Connie.«

»Und dir, wie geht es dir? Musstest du nachts aufstehen, weil er so gehustet hat?«

»Es geht mir gut.«

»Das freut mich. Gibst du ihn mir mal?«

»Er ist eben mit meinen Eltern an die frische Luft.«

»Ach, wirklich.« Er trat in den Flur, das Licht ließ er ausgeschaltet, die Tür hinter sich offen. Mit trockenem Mund blickte er auf das Chaos im Flur, ein Schemengebirge im Licht des vergehenden Nachmittags. Da waren die Schräge des Geländerlaufes zur Rechten mit der zackigen Vertiefung ziemlich in der Mitte, von einem Beilhieb. Die Kommode mit den runden Knäufen, neben Kleiderhaken mit ein paar Jacken. Das Telefontischchen genau gegenüber, ein Stuhl dahinter. Breite Türen, zwei nach rechts, zwei nach links. »Wann sind sie wieder daheim?«

»Ich verstehe dich gar nicht, was heult da so?«

Alles unverändert, vertraut, bis auf die Müllhaufen dazwischen.

»Jan?«

Er ging zurück, zog die Tür ran, die prompt wieder aufging, das Schloss hatte er ruiniert. »Hier oben ist es ziemlich stürmisch, inzwischen stehen ja keine Bäume mehr im Garten.« Er hörte sie am anderen Ende tief einatmen. Ja, es hatte einen Garten gegeben, Beete mit Strandrosen und Margeriten. Äpfel, Kirschen, eine Mirabelle, wegen der die Mauer ein Stück höher gezogen worden war. Sein Schutzwall gegen den Abgrund dahinter, der im Lauf der Zeit näher kam, weil das Meer das Land allmählich auffraß.

Ein scharfer Atemzug. »Ihr habt ein Haus.«

»Es ist inzwischen eher eine Ruine.«

Jan ging in die Küche, das Telefon behielt er nahe am Ohr. Goss sich ein Glas Wasser ein, das schal schmeckte. Dann riss er jedes der kleinen Schranktürchen auf, fand keinen Krümeltee mit Himbeer- oder Schwarzteegeschmack, der früher immer vorrätig gewesen war. Nur eine Flasche Wodka, ungeöffnet. Seine Haut, unter der das Blut sich zurückmeldete, begann zu brennen, sein Mund wurde staubtrocken.

Er stellte ein zweites Glas vor sich hin. »Meinem Vater geht es nicht gut, er ist eben von einem Krankenwagen abgeholt worden, wahrscheinlich ein Herzinfarkt. Ich fürchte, dass ich ihn ausgelöst habe, er war ziemlich aufgebracht wegen meines plötzlichen Besuchs.« Einhändig öffnete er den Wodka, unter der linken Achselhöhle, er konnte es immer noch. Stellte die Flasche zurück.

»Das tut mir sehr leid für ihn. Und für dich, Jan, aber warum denkst du, dass du dafür verantwortlich bist? Hattet ihr Streit?«

»Eigentlich nicht. Ich erzähle es dir, wenn ich wieder da bin. Wahrscheinlich erst morgen. Oder soll ich besser heute noch heimkommen?«

Sie stieß einen Schwall Luft aus. »Wer soll dann mit den Ärzten sprechen und eventuelle Maßnahmen vereinbaren?«

Er goss ein, nun doch. Nicht gut, das wusste er. »Ich will Connie nicht schon wieder enttäuschen.« Jan sah das liebe kleine Gesicht vor sich, den Blick, der sich zuzog, wenn sein Sohn traurig wurde. Fühlte einen Kummer, der ihm vertraut war.

»Das ist jetzt nicht zu ändern.«

Er schwankte, als hätte er die halbe Flasche intus. »Sag ihm, dass wir uns morgen sehen.«

»Nun ja, sie werden deinen Vater erst mal gründlich untersuchen, ehe sie Therapievorschläge machen können: Langzeit-EKG, Blut, das dauert. Dann ist vieles zu entscheiden.«

Er hob das Glas, betrachtete die Flüssigkeit, die träge und verheißungsvoll darin kreiste. Stellte es wieder ab.

»Jan?«

»Hm?«

»Ich müsste dann auflegen, Anne und ich wollen ins Kino.«

»Kino«, wiederholte er tonlos.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung? Sag’s bitte. Aber schnell.«

»Nein, nein. Kino klingt gut, es ist Samstagabend. Was gibt es denn?«

Sie seufzte.

»Ja?«

»Kümmere dich. Bring ihm ein paar Klamotten. Tu irgendwas. Das hilft.«

Dann war die Leitung tot. Und er allein.

So ein Scheiß. Verfluchter Scheiß. Er holte mit dem Arm aus und fegte das Glas vom Tisch, kippte den Inhalt der Flasche in den Ausguss. Aber was hätte er noch sagen sollen? Mein Vater ist ein heruntergekommener Messie, mit dem ich mich nie wirklich verstanden habe? Meine Mutter sang- und klanglos aus meinem Leben verschwunden, und ich war … Ja, was eigentlich? Zu jung, um damit klarzukommen?

Er nahm den steifen, in sich zusammengerollten Wischlappen aus der Spüle und ließ ihn auf die Lache neben sich fallen, mit dem Schuh schob er die umherliegenden Glassplitter zusammen, seine Kehle war ledern vor Durst. Und dann? Wusste Gesa Bescheid über ihn, der verlassen worden war und ziemlich zusammengekracht. Und würde sich endgültig von ihm trennen.

Nach einer Weile verließ er die Küche und schaltete in allen Zimmern das Licht an. Nahm das Chaos ins Visier. Wenn er ein bisschen was wegräumte, würde er leichter Dinge finden, die man im Krankenhaus brauchte.

Dann war das wohl entschieden.