Oda

Tage öffnen und schließen sich. Oda bewegt sich hindurch wie auf einem Seil und wundert sich, dass sie nicht längst abgestürzt ist. Dass sie immer noch lebt, dass sie einfach weiterexistiert.

Wir sollten davon ausgehen, dass Jürgen Schubert ertrunken ist, das ist das Vernünftigste. Den Westmedien ist nichts über eine geglückte Flucht zu entnehmen, und wäre er in Haft, wüsste ich es. »Das glaube ich nicht«, hat sie ihren Anwalt bei seinem Besuch kurz nach ihrer Ankunft in Hoheneck angeschrien, einen freundlichen Mann mit grauen Schläfen und einem Bauch, der wie ein Schiffsbug nach vorn ragt, der ihr Grüße von Papa mitbrachte. Halte durch, ich kümmere mich. Nach dem Besuch wurde sie sofort über den Hof in den roten Koloss mit seinen grässlichen Schießschartenfenstern zurückgeführt, durch einen endlos langen Gang in die Zelle, die sie mit zweiundvierzig Frauen teilt. Stumpf, wie ausgebrannt, unter dem Gelächter der Wachhabenden, eine hat auf ihren Schuh gespuckt. So wie du aussiehst, wird dich dein Stecher eh nicht zurücknehmen.

Zwei Monate ist das her, drei ist sie hier, etwa, sie zählt die Tage nicht, die alle gleich sind. Wecken morgens um fünf, anziehen, ein jämmerliches Frühstück von einer Scheibe Brot mit Margarine und klumpiger Marmelade, auf der Schimmel blüht, von dem Geruch wird ihr jedes Mal schlecht. Und überhaupt, wie ihr die Gerüche hier zu schaffen machen! Dann Arbeit in drei Schichten, von fünf bis eins, eins bis neun oder neun bis fünf. Ununterbrochen laufen die Schweißapparate in der Arbeitshalle, der Lärm, das Gas, das sie absondern, sind unerträglich. Odas Kommando stellt Motoren für Waschmaschinen her, dreißig Stück sind die Tagesnorm, wenn man ein paar Mark verdienen will, Oda schafft keine zehn. Nach Schichtende liegt sie wie ausgegossen unten im Dreistockbett und stemmt sich gegen die Bilder, die ihre Seele nach oben spült.

Auch heute kämpft sie gegen Erinnerungen, die warm sind und hell, in denen sie ein Mensch ist. An die Großmutter, bei der sie die Nachmittage vertrödelt, bis Mama und Papa von der Arbeit kommen, zuguckt, wie sie einen neuen Pullover gestrickt bekommt, Würfelzucker lutscht und lustlos auf ihrer Geige herumkratzt. Wo sie auf dem Dachboden stöbert und Sachen findet, die sie alle behalten darf: weiße Stoffhandschuhe, alte Schulaufsätze, unbenutzte silberne Fotoplatten. An den Weihnachtsabend, an dem sie auf ihrem neuen Schlitten von Mama und Papa unter Laternenlicht durch nachtstille Straßen gezogen wird, an das Lachen, das die beiden füreinander haben, den nadeldünnen Stich der Eifersucht in ihrem kleinen Herzen. Oft schafft sie es nicht, sich gegen all das abzuschirmen, was sie verloren hat, das ist schlimm. Und immer ist ihr kalt, so kalt, dass sie keinen anderen Zustand mehr kennt als frieren.

Mit den Vorlagen, die jeden Monat ausgegeben werden, hat sie sich die Unterwäsche ausgepolstert, ein wenig hilft es gegen das Ziehen in der Blase, den rosa Urin, den sie seit einer Woche von sich gibt. Sie braucht die kratzigen Dinger nicht, kaum eine Frau blutet hier, wie auch, alle sind unterernährt, viele husten zum Steinerweichen, eine Grippe grassiert.

Oda schiebt die Hände unter die Decke, ihre guten Hände, deren Kuppen entzündet sind und einfach nicht heilen wollen. Nur nicht daran denken, welche Klänge die einer Geige entlocken können! Der rechte Zeigefinger ist geschwollen. Die Wärme darin pocht so scharf, dass sie den kalten Lappen, den sie drumgewickelt hat, erneuern muss. Sie schiebt sich aus dem Bett. Trifft mit dem rechten Fuß ein anderes Bein.

»Ej, spinnst du oder was!«

Sie kriegt einen Fausthieb vors Knie, strauchelt, klammert sich im letzten Moment an den Bettrahmen, um nicht auf einer fremden Liegefläche zu landen.

»Du Sau, du politische! Dir werd ich …«

Die Tür geht auf, eine Frau stolpert in die Zelle, die Wärterin dahinter schüttelt ihre Hand aus. »Jetzt tu ich mir noch weh, bloß weil die solche Holzknochen hat!«

Keine außer Oda sieht hin.

Das, was sich zwischen den Bettgestellen hindurchquält, die so dicht stehen, dass man sich kaum umdrehen kann, ist eine stinkende, zitternde Frauenhülle. Kopf, Haare, Brüste, alles da, aber es ist keine Seele darin. Eine wandelnde Tote mit Namen Rosi.

Oda nickt, als sie zur Seite tritt, um Rosi durchzulassen, die Kälte abstrahlt wie ein Eisklumpen. Überlegt, was sie tun kann, fasst sich an den Hals, wo sie sich ein großes Taschentuch zum Schal geschlungen hat, kann es aber doch nicht hergeben.

Rosi strauchelt, Oda streckt helfend den Arm aus, Rosi schlägt nach ihr, mit ziemlicher Kraft. Wo nimmt sie die noch her? Oda dreht sich zur Seite, sie will nicht zeigen, wie das wehtut, will nicht schreien: Spinnst du, ich wollte nur helfen, und das sind Hände, die Geige spielen. Möchte kein Grund für freudige Häme sein. Vielleicht ist es wirklich besser, alles Menschliche zurückzuweisen, weil eine nette Geste, ein Trost, das Böse, das einem widerfahren ist, beglaubigt.

Rosi fällt auf ihr Bett neben Odas und schnappt nach Luft, als würde sie es zum letzten Mal tun und dann einfach damit aufhören. Wie ein zerbrochenes Gefäß liegt sie da, ihre Hände sind knallrot und voller Striemen.

Inzwischen haben ein paar Frauen ihre Gespräche wieder aufgenommen. Oda wickelt ihren Lappen von der Hand und schwenkt ihn durch die kalte Luft vorm Fenster, wo es erbarmungslos zieht. Draußen glänzt ein reiner, kalter Januar.

»Ej du!« Eine große, füllige Frau mit gelbweißen Stoppelhaaren schleicht auf sie zu. Abgesehen davon ist sie durch und durch grau: Augen, Kleidung, die Haut. Seifenhanne. Sie hat eine alte Frau erschlagen, der ein Seifengeschäft gehörte, wegen ein paar Mark in der Kasse. Ihr Bett steht am anderen Ende der Zelle, bislang ist Oda ihr aus dem Weg gegangen.

Seifenhanne postiert sich vor Oda. Aus ihrer Mundhöhle lugen zwei braune Stummel. »Lass bloß die Finger von der, die gehört mir!«

Oda dreht sich von dem Fäulnisgeruch weg. Die beiden sind ein Paar. Und da kümmert Hanne sich nicht?

»Klar?«

Oda nickt, im nächsten Moment kriegt sie einen Tritt vors Schienbein und beißt sich vor Schreck auf die Zunge.

»Und dass eins klar ist: Deine Visage nervt mich, pass gut drauf auf, gibt vieles, woraus man ’n Messer machen kann.«

Die Zellentür knallt zu, die Wärterin muss die ganze Zeit zugehört haben. Die Furcht, die in Oda aufwallt, ist bitter und heiß.

Alle tun beschäftigt, kramen in Taschen, zupfen an Bettdecken, betrachten ihre Fingernägel, sogar Rosi verschränkt die Hände und lässt die Daumen umeinanderkreisen, in ihren Mundwinkeln spielt ein Grinsen.

Seifenhanne kommt noch näher, hustet Oda ins Gesicht, dann lässt sie sich auf Odas Bett fallen, knufft Rosi mit der Faust in die Seite. »Bist selber schuld, du Trulla.«

»Halt’s Maul«, sagt Rosi.

Seifenhanne wurstelt ihr dafür so derb durch die Haare, dass Rosi »Aua« kreischt, eine ganze Weile geht das so.

Oda sieht Hilfe suchend eine andere Bettnachbarin an, die sich schon wieder unablässig die Hände reibt und in eine unsichtbare Ferne starrt. Sie kann es ihr nicht übel nehmen.

»Halt die Klappe vor denen, wie oft soll ich dir das noch sagen!«, keift Seifenhanne.

»Stimmt aber, dass Tilla ein Nazischwein ist.«

»Na und, das is’ unsre Hannelore auch. Stimmt’s, Hannelore?«

Ein paar Frauen murmeln, eine sehr alte, die aussieht wie eine Kalkwand, guckt Oda herausfordernd an. Oda drückt sich näher ans Fenster, Hannes Geruch ist nur schwer zu ertragen. Schweiß, scharf wie Säure, schimmliges Brot und Fäulnis.

Seifenhanne legt ihre dreckigen Schnürstiefelfüße auf Odas Bett und trampelt damit auf der Bettdecke herum. »Hatte ich schon erwähnt, dass mir deine Visage auf den Keks geht?«

Oda will sagen: »Runter von meinem Bett!«, verkneift es sich.

»Ej!«, schreit Hanne. »Ich rede mit dir!«

In der Zelle ist es mucksmäuschenstill.

Oda tun die Kiefergelenke weh, so heftig kämpft sie dagegen an, nicht zurückzubrüllen. Und sie muss schon wieder aufs Klo, ihre Blase brennt wie Feuer. Sie tut, als wische sie Schmutz von ihrer Hose, rubbelt über ihre Bauchwand, eine der Einlagen verrutscht dabei. Sieht fassungslos zu, wie Seifenhanne aufsteht, ihre Matratze herunterzieht. Kissen und Decke landen auf dem Boden.

»So, du bist ab heute Bodenschläfer.«

Oda meint, ein paar unterdrückte Lacher zu hören. »Was?«

Seifenhanne stellt sich auf die Matratze. »Hab ich gerade was gehört?«

In Oda lodert es gluthell. »Sollten wir nicht zusammenhalten? Schließlich sitzen wir alle …«

Sie kriegt eine schallende Ohrfeige. »Hast du was gesagt? Du? Zu mir? Du politische Sau, du?«

Odas Wange brennt höllisch, in ihrem Kopf rauscht das Blut. Langsam schüttelt Oda den Kopf. Sie muss hier raus, schnell, aber es ist schon zu spät. Zwischen ihren Beinen wird es nass.

Hannes Lachen hämmert wie eine Gewehrsalve. »Die Sau hat sich eingepisst!«

Alle lachen, manche halbherzig, aus den Tiefen der Zelle, wenigstens sehen sie nicht zu ihr her. Oda steht auf, während ihr heiße Tränen kommen. »Ich hab euch nichts getan!«

»Doch, hier stinkt’s! Zieh die vollgepissten Sachen aus!«

Odas Blick fliegt zur Tür, die zubleibt, nicht mal ein Hämmern von draußen, nicht mal Gebrüll so wie sonst bei jeder Kleinigkeit. »Lass mich in Ruhe.«

Hanne starrt auf ihre Hose. »Hast du nicht gehört, Pissnelke?«

Oda merkt, dass eine der Vorlagen unterm Hosenbein vorguckt. »Lass mich durch zur Toilette.«

»Klamotten runter, aber dalli!«

In dem Moment fließt der Rest aus ihrer Blase, sie krümmt sich vor Schmerz. Ihr Kopf fühlt sich zu warm an, hat sie Fieber?

»Ho-se run-ter!«, skandiert Hanne, die anderen stimmen ein.

Hannes Hand packt ihr Hosenbein, Oda schreit auf, schreit, so laut sie kann. Sieht zwischen Armen und Beinen, wie eine sich weinend abwendet, Marianne, auch eine Republik­flüchtige, ehe sie an der Tür ist, wird sie von zwei anderen gestoppt.

Hanne zerrt, bis Odas Hose unten ist. Die Unterwäsche hat sie ebenfalls erwischt, zwei Vorlagen fallen herunter. Die Frauen glotzen.

»Deshalb sieht die aus, als hätte sie ’n Braten in der Röhre!«, feixt Hanne.

Dumpfes Rauschen zieht durch ihren Kopf, während Oda an die Blasenentzündung letzten Winter denkt, nach dem Sex in der Schwimmbadumkleide, aber da war ihre Bauchdecke nicht so straff gespannt, als hätte man sie mit Luft aufgepumpt. »Ich habe mir nur die Blase verkühlt«, flüstert sie.

»Tja, Prinzessin, da werden wir für dich wohl ein Öfchen bauen müssen, was?« Rosi wirft sich auf ihr Bett zurück und strampelt mit den Beinen vor Spaß.

Oda hört das wie durch Nebel, kann sich nicht rühren. Das letzte Mal ist es geschehen am zweiundzwanzigsten September, abends, gegen sieben, auf einer rot-blau karierten Decke. Mit Blick auf den Strand, voller Vorfreude und Angst. Wild, todesmutig. Ungeschützt. Die Dumpfheit zerspringt, alles ergibt plötzlich Sinn. Die Übelkeit, ihr Widerwille gegen Gerüche, das Gefühl, über schwebenden Boden zu laufen. So ist das also.

Hanne tippt sie an. »Und was glotzt du wie ein Schwein ins Uhrwerk?«

Sie greift sich an den Hals. Spuckt ihren Mageninhalt aus, direkt auf Hannes Schuhe.

Die kreischt auf. Packt Oda an den Sachen, zieht sie zu sich ran. »Wisch das ab, sofort!«

Und sie denkt, dass sie wegen der Unterernährung keine Blutung hat! Oda starrt ihre Kotze an, würgt wieder, bekommt eine schallende Ohrfeige.

»Los!«, brüllt Hanne.

»Ich muss einen Lappen holen.« Etwas spricht aus ihr, während ein furchtbarer Gedanke Gestalt annimmt.

»Lappen gibt’s nich’, nimm deine Hose«, plärrt Rosi. Zwei, drei andere Frauen schleichen zu ihren Betten.

Was, wenn das jemand mitbekommt?

Hanne hebt ihren Fuß. »Also?«

Oda sieht Hanne ausholen, sieht ihren Fuß auf ihren Bauch zusteuern, rast in einen Tunnel der Angst. »Nein!« Springt zur Seite, knallt mit der Flanke gegen das Bettgestell, Hannes Fuß tut es auch.

Hanne brüllt wie ein Stier.

Die ganze Zelle hält den Atem an.

Rosi humpelt zur Tür und schlägt dagegen. »Übergriff, Übergriff! Strafgefangene Meier meldet Übergriff!«

Die Tür fliegt so schnell auf, als hätten die draußen nur auf einen Hilferuf gewartet. Stiefel trampeln in die Zelle, zwei Wärterinnen brüllen durcheinander, Schlagstöcke in den Händen. Oda ist gefroren vor Angst.

Seifenhanne heult wie ein Schlosshund. »Die hat mir ihr Knie in den Bauch gerammt, einfach so! Ich hab mich übergeben müssen, da!«

Oda stößt Luft aus, alles auf einmal. »Was?«

Sie kriegt einen Schlag gegen den rechten Arm. »Du redest, wenn du gefragt wirst, klar?«

Die Antwort verkeilt sich in ihrer Kehle.

Seifenhanne heult ohne Tränen, es ist so unecht, dass es sogar die Dümmste merken müsste. Die Wärterin klopft ihr auf die Schulter, Oda traut ihren Augen nicht.

»Schön langsam, ja? Immer der Reihe nach.«

Hanne zeigt auf Oda. »Die macht Ärger ohne jeden Grund. Fängt einfach an, auf mich einzutreten!«

Oda weiß nicht, wohin mit ihrer Wut. Sie blickt sich um, sieht, wie Rosi nickt. »Stimmt, haben alle gesehen, ohne jeden Grund.«

»Das ist gelogen«, sagt Oda, leider sehr laut.

Die Wärterin reißt den Schlagstock hoch. »Halt’s Maul!«

»Ja, du, halt dein Maul, du!«, echot Rosi.

Hanne redet weiter, schluchzt ein paarmal.

Die Wärterin lächelt mitleidig. »Haben die anderen das auch gesehen?«

Zwei, drei bejahen, die anderen schweigen.

»Na, wenn das so ist, mitkommen«, brüllt sie Oda an.

»Das stimmt nicht.«

»Mitkommen, du!«

»Arrest«, flüstert eine. »Wasserzelle«, eine andere.

»Kann ich auch mit, kann ich zum Arzt?«, wimmert Seifenhanne. »Mein Bauch tut so weh!«

»Später«, sagt die Wärterin ruhig und holt mit dem Knüppel aus.

Oda drückt sich zur Seite, krümmt sich über ihrem Bauch. Das dürfen die nicht, die dürfen nicht wissen, dass … Sie schreit auf, der Knüppel hat ihren Oberschenkel getroffen. Die andere Wärterin packt sie an der Jacke.

Die beiden stoßen Oda vor sich her zur Tür. Oda sieht, wie Hanne Rosi einen Kuss gibt, direkt auf den Mund.