Der Himmel über Berlin glüht in Rot und Gold, es ist windig und schneidend kalt in den letzten Stunden dieses Herbsttages. Margit trägt ihre dünne Festtagsbluse, aber sie friert nicht, sie schwimmt in einem Meer von Licht. Dicht an dicht, mit Fackeln in den Händen, marschiert die Jugend zum Platz vor der Humboldt-Universität.
Ronald läuft neben ihr. »Was wir in den letzten Wochen geschafft haben, das spür ich in allen Knochen.«
Ronald arbeitet in einem Baubetrieb, der immer noch nichts anderes macht, als Straßen freizuräumen, er bekommt guten Lohn. Am Alex hat er ihr zur Feier des Tages eine markenfreie Bockwurst spendiert, für ganze vier Ostmark, eine unvorstellbare Summe. Sie weicht ein Stück zur Seite. Er soll nicht glauben, sie merke nicht, dass er das Gedränge ausnutzt, um ihr näher zu kommen.
»Halt Abstand, und verbrenn mir nicht die Haare«, sagt sie. Mutti hat ihre dünnen braunen Haare am Vorabend mit Stoffbändern umwickelt, damit sie lockig fallen, und viel gelächelt dabei. So habe ich das früher beim Fräulein von der Herrschaft gemacht, da war ich genauso jung und froh wie du. Es hat einen fürchterlichen Streit über Muttis Begeisterung für die alten Zeiten gegeben, Margit hat sich unglaublich darüber aufgeregt. Mutti hat offenbar vergessen, was diese Zeiten ihnen gebracht haben, dabei sieht sie es, wo immer sie hinschaut, die Städte sind zerstört, es gibt kaum genug zu essen, und die, die das verschuldet haben, schleichen als graue Gespenster umher. Sogar in ihrer eigenen Küche sieht sie es jeden Tag, da sitzt ihr ein ehemaliger Soldat am Tisch gegenüber und ist eine Belastung sondergleichen.
Ronald weicht keinen Zentimeter von ihr weg. »Das würd ich nie machen. So schöne Haare.«
Bestimmt fallen sie schon wieder ein, die dünnen Flusen, und schöner ist sie mit den Locken auch nicht. Sie ist einfach groß und ungelenk, ihre Nase ist zu lang und ihre Lippen zu dünn, aber das spielt keine Rolle, nicht heute. Der Zug dreht um eine Kurve, sie guckt auf ihren Vordermann, um nicht aus dem Gleichschritt zu kommen. Außerdem meint Ronald es gut mit ihr, das muss man ihm lassen, da gibt es ganz andere Geschichten.
Der Zug wird langsamer, ein paar Meter weiter vorn muss es eine Engstelle geben. Sie bittet Ronald, ihre Fackel zu halten, schert aus und steigt auf ein Mäuerchen. Ihr stockt der Atem.
Wie eine Naturgewalt drängt das Fackellicht der Jugend zum Festplatz, alle Straßen und Gassen sind verstopft, die ganze Stadt ist auf den Beinen! Menschen mit guten, hoffnungsvollen Gedanken. Sie möchte die ganze Welt umarmen, weil sie dabei ist, weil sie das sehen kann mit ihren eigenen Augen, und für alle Zukunft behalten: Den Geburtstag der Deutschen Demokratischen Republik.
In der Ferne flammen riesige Lichtsäulen auf, russische Flakscheinwerfer. Und da, Töne! Ein Blasorchester spielt, Gesang fliegt herüber, sie stimmt lauthals ein. Jugend aller Nationen, uns vereint gleicher Sinn, gleicher Mut. Wo auch immer wir wohnen, unser Glück auf dem Frieden beruht.
Du wirst doch da nicht mitmachen, Kind , hat Mutti gesagt, ausgerechnet sie, die vor Fräuleins und Herrschaften das Haupt neigt, pfui Teufel! Natürlich ist Margit der Freien Deutschen Jugend beigetreten, um so was abzuschaffen zu helfen, alle Menschen sind nämlich gleich. Und ein Kind ist sie mit vierzehn schon gar nicht mehr.
Ronald streckt die Hand aus, sie steigt hinunter und reiht sich wieder ein, es geht weiter.
»Ihr wart wirklich tüchtig. Seid stolz«, ruft sie aus vollem Herzen.
Es wird lauter und lauter, Hochrufe auf den frisch gewählten Arbeiterpräsidenten mischen sich in den Gesang, je näher sie dem Festplatz kommen, Fanfaren ertönen. Wo sie hinguckt, strahlen Gesichter. Junge Gesichter. Sollen die Alten endlich still sein mit dem Gejammer, wo der Sozialismus wohl hinführen mag und dass sie lieber bei dem bleiben, was sie kennen. Es sind doch nur Ketten, die sie abwerfen!
Margit spürt die Menschenmenge vor der Universität, ehe sie sie sieht. Ein Beben steigt von dem Platz auf, das Stampfen Tausender Füße im Gleichtakt, ein Ausdruck stolzester Freude. Traurig, dass Hans nicht mitkommen durfte, dass der Vater das verboten hat, dabei war er im Krieg und hat gesehen, was nie wieder sein darf. Bis spätabends hockt er über seinen Uhrwerken in der kleinen Werkstatt, die die Bezirksverwaltung ihm zugeteilt hat. Sonntags sitzt er in der Küche und ist ganz leise oder ganz laut und wechselt so schnell von einem ins andere, dass Margit es oft nicht schafft, sich rechtzeitig zu verdrücken.
»Ich bin schrecklich froh«, brüllt Ronald. »Was für ein Glück, dass wir uns in Pillau getroffen haben.«
Das stimmt, sie wüsste wirklich nicht, was sie ohne Annaliese und ihn machen würde. Ronald legt seiner Mutter genug Geld auf den Tisch, dass sie nur nachmittags arbeiten muss. Annaliese nimmt Horst vormittags, nachts und am Sonntag zu sich, damit der Vater nicht merkt, dass sie ihn noch immer nicht in ein Heim gegeben haben. Wofür sie ein Drittel von Margits Lebensmittelration bekommt.
Die Reihen straffen sich, als würde ihnen eine unsichtbare Kraft innewohnen, die sie lenkt. Sie sind gleich an der Ehrentribüne. Ihr Herz schlägt hart und schnell.
Jetzt sieht sie Wilhelm Pieck am Rednerpult, er hat das freundlichste, gütigste Gesicht, das sie kennt. Das wär ein Vater! »An der Spitze des schaffenden Volkes steht die deutsche Jugend«, dröhnt durch die Lautsprecher, »die durch ihre ganze Arbeit der letzten Jahre bewiesen hat, dass sie das Gebot der Stunde begriffen hat, die großen nationalen, demokratischen und wirtschaftlichen Aufgaben zu erfüllen.«
Gemeinsam heben sie die Fäuste und jubeln, Margit ist, als flöge sie, so voller Luft und Leben ist sie, so voller Kraft! Sie, die Jungen, werden ein Land bauen, wie es noch keines gab. Eins ohne Eigentum und »Ich, ich, ich«, ohne alles, was Menschen schlecht macht, und vor den Augen der ganzen Welt die Schuld ihrer Eltern begleichen. Wenn sie das schafft in ihrem Leben, ist jede Mühe tausendfach vergolten.
Sie schwenken nach rechts und verlassen den Platz durch eine breite Straße, Wilhelm Pieck wird abgelöst von Erich Honecker, Margit kennt ihn von einer Versammlung. Seine näselnde Stimme folgt ihnen bis zum Ende der Straße, dort geht sie in den Befehlen der Feuerwehrleute unter, die ihnen die Fackeln abnehmen und auf einen großen brennenden Haufen werfen, dessen Flammen heiß in den Himmel steigen. In rüdem Ton wird gerufen, dass sie augenblicklich den Platz räumen müssen, damit niemand zu Schaden kommt.
Ronald denkt nicht daran, ihre Hand loszulassen, aber das ist in Ordnung, seine Hand ist warm. Sie läuft neben ihm her und hebt die Füße beim Gehen, damit sie nirgendwo anstößt oder hängen bleibt. Die Nacht ist mondlos und sehr kalt.
Ronald zieht die Nase hoch und räuspert sich ein paarmal. »Eine wie dich, die will ich mal heiraten.« Seine Worte klingen wie zerhackt. Wieder zieht er die Nase hoch, sein Atem geht stoßweise.
Ihre Beine werden heiß und schwer. Sie ist kein bisschen gerührt, so wie er, und kurz vorm Schluchzen, aber wahrscheinlich hat sie das Weinen verlernt auf der Flucht. »Hm.«
»Später natürlich, nicht jetzt.«
Er lotst sie um eine Mauer, die sie nicht hat kommen sehen. Was dieser Mensch für Augen hat! »Dann ist ja gut.«
Eine ganze Weile laufen sie durch die Nacht, die immer tiefer wird. Margit reibt sich die Arme und tritt fest auf, um die Kälte weniger zu spüren. Da hört sie ihre Absätze nicht mehr klacken, sie sind auf einem Weg ohne Pflasterbelag angekommen, hoffentlich ist es der, der in ihre Straße mündet, ihr ist entsetzlich kalt.
»Weißt du, ich muss nicht heiraten«, sagt sie in die Dunkelheit, »weil ich selbst Geld verdienen werde. Mutti macht nicht mehr, als dafür zu sorgen, dass Vater isst, schläft und saubere Sachen anzieht, das ist doch furchtbar.«
»Finde ich nicht.«
Von irgendwoher kommen ein paar schmissige Töne. Margit will noch nicht nach Hause. »Sollen wir dort mal hingehen?«, schlägt sie vor. »Vielleicht ist es da warm.«
Er bleibt stehen und legt beide Arme um sie, einfach so. »Sorgen, dass jemand isst und saubere Sachen anhat, ist auch wichtig, sehr sogar.«
Sie steht stocksteif. »Ich will richtig arbeiten. Für Lohn.«
»Gut. Dann ist das abgemacht.«
»Nichts ist abgemacht.«
Er lacht. »Los, komm mit, oder weißt du, wo wir sind?«
Sicher wie ein Tier lotst er sie der Musik entgegen. Sie biegen links in eine schmale Gasse, die ihr bekannt vorkommt. Unweit einer Laterne bleibt er stehen. Über ihnen klappt ein Fenster.
»Ach, doch, jetzt sehe ich es«, sagt sie. Ein bis auf den ersten Stock zerschossenes Haus ragt aus der Finsternis, das Schild »Tanzgaststätte Fürstenhof« hängt über der Tür. Es ist das Haus, das sie vom Schlafzimmerfenster aus sieht, von da kommt die Musik. Nicht weit von ihnen fällt eine Tür zu.
Er neigt den Kopf und küsst sie, zuerst schnell und leicht, dann lässt er die Lippen liegen und öffnet den Mund, und sie tut es auch. Einfach so, aus purer Neugier.
»He, ihr beiden!«
Sie stieben auseinander.
Annaliese steht vor ihnen, sie hat Horst auf dem Arm.
Etwas stimmt nicht, das weiß Margit sofort. Sie nimmt ihn ihr ab. »Sind wir zu spät? Schläft er nicht?«, fragt sie beunruhigt.
Annalieses dichte Augenbrauen bilden eine Linie, ihr Gesicht hat Kanten. »Ich könnte dafür sorgen, dass dein Vater nach Sibirien abwandert, aber das mach ich nicht, weil ihr mir leidtut, er bringt ja wenigstens Geld nach Hause.«
Das Herz springt Margit in den Hals. »Was ist denn passiert?«
»Was wohl! Er hat rausgefunden, dass ihr ihn weiter durchfüttert und ich euch decke. Er hat mein Geschirr zerschlagen. Euers auch, deine Mutti heult sich die Augen aus.«
»Aber, wie hat er das bemerkt? Ich habe doch so gut aufgepasst, ich …« Hat sie ihr Strickzeug nicht weggeräumt, die kleine hellblaue Jacke, an der sie gerade arbeitet?
»Die ganze Straße hat’s gehört, die ganze Straße!«
»Oh, Annaliese, ich mach’s wieder gut, ich mach das wieder gut, glaub mir!« Wenn sie nur wüsste, wie.
»Lass dir was anderes für Horst einfallen.« Dann nickt sie ihrem Sohn zu und stapft davon.
Margit starrt Annaliese hinterher, legt die Hand um Horsts Köpfchen und zieht ihn an sich. Seine Ohren sind ganz kalt, das ist nicht gut, er darf nicht ohne Mützchen raus, weil er so wenig zuzusetzen hat. Man spürt ihn kaum auf dem Arm, er ist ungefähr fünf und wächst nur langsam, auch sagen tut er kaum etwas, obwohl sie jeden Tag mit ihm übt. Er lächelt sie dann an, und sie kann es ihm nicht krummnehmen.
Ronald seufzt. »Na prima, und jetzt?«
Sie verbirgt das Gesicht hinter dem kleinen Rücken. Jetzt kommen sie doch, die Tränen. Sie hat sich solche Mühe gegeben, und jetzt das.
»Es tut mir leid für dich, Margit.«
Sie dreht ab und läuft davon. »Ich geb ihn nicht her, niemals!«
»Wo willst du denn hin?«, ruft er ihr nach.
»Weiß nicht«, heult sie, als er neben ihr ist.
»Mann, Mann, Mann. Nun renn nicht so, du fällst noch hin. Und beruhige dich, ich finde schon eine Bleibe für uns drei. Versprochen.«
»Gibst du mir deine Jacke, bitte?«
Margit wickelt Horst in die Jacke, Ronald nimmt ihn ihr ab, sie laufen noch einmal zurück in die zerbombte, lichtlose Stadt, auf die nur der Mond ein bisschen Helligkeit herunterstrahlt.
Die Kälte der Nacht ist ohne jedes Erbarmen, aber Margit spürt Ronald neben sich wie einen warmen Ofen und ist unendlich froh, ihn bei sich zu haben. Horsts Atem wird immer ruhiger und gleichmäßiger, und während sie immer weiterlaufen, ahnt sie, dass irgendwie alles gut werden wird, denn das muss es einfach an diesem Tag.