Oda liegt unter einer Decke, um sie herum sind Wände aus hellgrünem Stoff. Mit einem Ruck sitzt sie, ihr Herz rast. Ein Tuckern ist zu hören, das feine Rattern von Metallrädchen, ein Vorhang öffnet sich. Eine junge Frau im hellgrauen Kittel tritt an ihr Bett. Es ist ein richtiges Bett!
Oda reibt sich die verklebten Augen. Unter ihren Lidern marschieren die Wände der fensterlosen Arrestzelle auf, in der sie zur Strafe für den Streit mit Seifenhanne eine ganze Woche allein zubringen musste. Dann die kleine Zelle daneben, die aussah wie eine verrottete Duschkammer. Eine Wasserzelle. Die Majorin, die Kellerratte genannt wird. Und jetzt zur Abwechslung mal da rein, aber ein bisschen plötzlich!
»Frau Scheurich?« Die Frau legt Oda eine Hand auf die Schulter. Sie ist jung und hat blitzblaue Augen, über ihrer feinen, glatten Stirn sitzt ein schneeweißes Häubchen. »Sie sind im Krankenhaus.«
Die Berührung rieselt warm durch ihren Körper, Oda hat den innigen Wunsch, die Hand festzuhalten. Sie nickt und muss weinen, kann es nicht zurückhalten. Denkt an das eisige Wasser, in dem sie vier Stunden stehen musste. Vier Stunden, die sie zerbrechen ließen wie Glas.
»Sie haben eine Nierenbeckenentzündung, die Frau Doktor kommt gleich.«
Vier Stunden, in denen sie nicht wusste, wohin mit ihrer Angst, nach Jürgen geschrien hat, nach Mama und Papa. Ihnen stumm von dem Kind erzählt hat. Blitzschnell zieht sie die Hände von ihrem Bauch, haben die dort die ganze Zeit gelegen? Hat es jemand gesehen?
»Nicht weinen. Bitte«, flüstert die Krankenschwester. »Sie müssen sich beruhigen, die Frau Doktor ist nämlich gleich hier. Ja?«
Ihr Bauch fühlt sich ebenso fest an wie zuvor, nicht wund im Inneren. Oda atmet tief ein und aus. »Ich bin nicht operiert?«
»Nein, wieso?«
Erschöpft lehnt sie sich zurück, die Augen fallen ihr sofort zu. In ihr hat sich eine kaum zu befriedigende Gier nach Schlaf angestaut, ihr Körper folgt einem neuen Gesetz.
Eine Tür kracht gegen die Wand. »Warum ist die Strafgefangene nicht untersuchungsbereit?«
Oda setzt sich kerzengerade auf. Eine Ärztin packt ihr Handgelenk, sie hat ein rundes Grübchengesicht, nett eigentlich. Ihr Griff ist unerbittlich. »Na, na! Ich fühle nur den Puls.«
Oda lockert ihre Faust, ihr Herz rast weiter.
»Da ist aber jemand aufgeregt! Wieso das denn?«
»Weil ich … nicht mehr in der Zelle bin, das habe ich nicht erwartet.«
Noch immer sieht die Ärztin Oda nicht in die Augen. »Besser nicht dran gewöhnen. Und jetzt aufstehen und mitkommen, der Frauenarzt wartet nicht.«
Oda kann sich nicht rühren. »Ich habe doch eine Nierenbeckenentzündung.«
Die Ärztin geht zu einem Schrank und öffnet ihn.
»Welche Medikamente bekomme ich denn dagegen?«
Das Geklirr gläserner Fläschchen ist zu hören. »Was gegen Bakterien.«
»Sonst nichts?«
Die Ärztin guckt die Schwester streng an. »Der Doktor hat gleich Feierabend. Und ich auch!«
Die Schwester schlägt Odas Decke zurück, reicht ihr ein Paar Pantoffeln, ihr Blick ist beschwörend. Oda steht auf, der Boden schwimmt. Die Schwester hakt sie unter und erntet einen missbilligenden Blick der Ärztin, den sie einfach ignoriert.
Den warmen Körper der Schwester als Stütze an ihrer Seite, betritt sie einen langen Flur. An dessen Ende ist ein weiß gekachelter Raum mit einer Tür, an der Untersuchung steht.
Drin kommt ein Mann in Zivil in schnellen Schritten aus einem Nebenraum. Er hat eng stehende grüne Augen, dazwischen springt eine große Nase nach vorn. Seine Handfläche klatscht auf das Sitzpolster des Untersuchungsstuhls.
»Mein Name ist Oda Scheurich«, sagt sie fest.
»Einmal hier drauf!«
»Ich verstehe nicht, warum, ich habe eine Nierenbeckenentzündung.«
»Hier drauf!«
Die Schwester drückt ihren Arm, streicht mit dem Daumen ein paarmal auf und ab. »Draußen sitzt ein Anwalt vor der Tür, darf er die Patientin danach sprechen, oder stehen weitere Untersuchungen an?«
»Die Antwort auf beide Fragen lautet Nein.«
Ihr Anwalt! Nachricht von Papa! Flehentlich sieht Oda die nette Schwester an, die tut, als merke sie es nicht. »Hoheneck hatte es genehmigt und gebeten, es zu ermöglichen, er war gestern schon umsonst da.«
»Ach was.«
»Bitte, Herr Doktor.« Die Schwester lächelt ein Kleinmädchenlächeln, in dem Arzt schmilzt etwas.
»Von mir aus«, brummt er.
Odas Herz setzt zu einem Sprung an, gehorsam steigt sie auf den Stuhl. Das Kunstleder ist kühl und klebt auf der Haut, aber es scheint sauber zu sein. Die Beine behält sie unten. »Die Tür steht offen.«
»Da geht niemand vorbei.« Der Arzt bläht die großen Nasenlöcher, beinahe lustig sieht das aus.
Widerstrebend hebt sie die Füße in die vorgesehenen Stützen. Als der Arzt sich über sie beugt, zuckt sie zusammen.
»Na, na!«
Ihre Beine zittern, als sie sie langsam öffnet. Er drückt den Ellbogen dazwischen und hilft nach, im nächsten Augenblick rammt er ihr einen Zeigefinger in den Schoß. Vor Schreck schreit sie auf. Ungerührt drückt er mit der anderen Hand auf ihrem Bauch herum, es tut schrecklich weh. Oda wirft sich hin und her, entreißt der Schwester ihre Hand. »Aua, meine Blase!«
»Stillhalten!«
Die Schwester legt ihr eine Hand auf die Schulter, ihre Lippen beben. »Nun haben Sie sich nicht so«, sagt sie streng, ihr Blick bittet um Vergebung.
Die Ärztin steckt den Kopf zur Tür herein. »Und?«
Der Arzt tritt beiseite, reißt sich die Handschuhe herunter, wirft sie in einen Eimer neben der Tür, einer landet auf dem Fußboden. Sein Lächeln ist gemein.
Die Ärztin nickt. »Lag ich also richtig. Strafgefangene, seit wann wissen Sie davon?«
Oda hat Meeresrauschen im Ohr, wie an einem Sturmtag, so aufgepeitscht ist ihr Blut. »Ich möchte mit meinem Anwalt sprechen.«
»Seit wann!«
»Ein paar Tage.«
»Das glauben Sie doch selbst nicht!«
Oda will die Schwester nicht schon wieder flehentlich angucken, starrt auf das Blumenbild hinter der rechten Schulter der Ärztin. »Ich dachte, dass mir oft schlecht ist und ich keine Blutungen habe, liegt am Gefängnis, allen dort wird schlecht von dem furchtbaren Essen. Viele Frauen sind außerdem krank und haben keine Blutungen, also …«
»Sie hätten das sofort melden müssen!«
»Ich kam nicht mehr dazu, weil ich umgefallen bin. In der Wasserzelle, ich habe stundenlang …«
»Wie auch immer«, sagt der Arzt und bedeutet der Schwester, sich nach dem Handschuh zu bücken. »Wir machen gleich morgen den Abbruch.«
Oda schnellt aus dem Stuhl. »Nein!«
»Das haben Sie nicht zu entscheiden.«
»Ich behalte das Kind.« Laut ist sie geworden, und das ist ihr nur recht. Sie spürt Urkräfte und Kampfeswillen. Niemand kratzt ihr dieses Kind aus dem Bauch!
»Ganz bestimmt nicht«, sagt die Ärztin.
»Ich bin aber im fünften Monat!« Oda kann sich geradeso beherrschen, nicht zu schreien. »Ein Abbruch ist gesetzlich nur bis zum dritten Monat erlaubt, das weiß ich. Und das gilt auch für Strafgefangene.«
»Sie sind noch nicht so weit, das wissen wir ja wohl besser als Sie.«
»Ich bin Ende September schwanger geworden, einen Tag, bevor ich mit meinem Freund den Fluchtversuch unternommen habe, er ist der Vater, und ich weiß nicht mal, ob er noch lebt oder im Gefängnis ist, ich …« Oda schlägt sich die Hand auf den Mund. Niemals hatte ihr das über die Lippen kommen sollen.
»Was in den Gefängnissen los ist, davon hört man ja so einiges«, sagt die Ärztin kalt.
»Ich bin in einem Frauengefängnis!«
Der Arzt wendet das Gesicht ab. »Sie haben noch keine Kindsbewegungen, da war nichts zu tasten.«
»Und ob, seit einer Woche, deshalb weiß ich es ja«, sagt Oda geistesgegenwärtig.
Der Arzt packt seine Aktentasche und nimmt eine Jacke vom Haken. »Das Kind wird ohnehin nicht gesund sein, Sie kriegen schwere Antibiotika. Da geht auch ein Spätabbruch«, sagt er, ohne sie anzusehen, aber Oda hört den Zweifel in seiner Stimme.
Der Arzt geht zur Tür, Oda springt vom Stuhl und läuft ihm nach. »Ich dulde keinen Abbruch! Niemals! Es ist mein Kind, es gehört mir!«
Sie kann geradeso zurückweichen, ehe ihr die Tür ins Gesicht knallt.
Die Ärztin ist mit einem Satz bei ihr. »Jetzt hören Sie mal ganz genau zu!« Sie packt sie fest am Arm und führt sie zu einem Stuhl, heißt sie sitzen. »Unter den Bedingungen in Hoheneck kann man kein Kind kriegen. Wir tun Ihnen einen Gefallen.«
»Ich bleibe dabei. Und ich möchte meinen Anwalt sprechen.«
»Wen bitte?«
»Meinen Anwalt, Herrn Schröder, er sitzt draußen. Der Arzt hat es erlaubt.«
»Ihre Renitenz ist jedenfalls Gift für eine vorzeitige Haftentlassung, das garantiere ich!«
Oda krallt die Hände in den Stuhl, schon wieder fließen die Tränen, und sie möchte sich ohrfeigen dafür, aber darum geht es jetzt nicht. Sie atmet durch und senkt die Stimme.
»Entschuldigen Sie, Frau Doktor. Ich wollte Sie nicht verärgern, nur bitte, tun Sie mir das nicht an. Ich möchte mein Kind behalten, können Sie das nicht verstehen? Ich bin doch ein Mensch. Bitte.«
Die Ärztin funkelt die Schwester an. »Bringen Sie sie dahin zurück, wo sie hergekommen ist! Morgen will ich sie nicht mehr auf meiner Station sehen.«
»Was wird mit der Behandlung?«, fragt die Schwester.
Die Ärztin zuckt die Achseln. »Sie will sie ja partout nicht haben.« Dann rauscht sie aus dem Untersuchungsraum, die Tür, die sie zuknallen will, bleibt auf halber Strecke in dem Handschuh hängen, der immer noch auf dem Boden
liegt.
Die Schwester hakt Oda unter und bringt sie zurück in ihr Zimmer.
Dort nimmt sie den Plastikbecher, in dem Odas Tabletten liegen, und kippt sich den Inhalt in die Kitteltasche. »Das ist richtiges Gift. Ich bringe Ihnen jede Stunde eine Wärmflasche und zwei Kannen Tee, Sie trinken, was das Zeug hält, ja?«
»Danke.«
Behutsam deckt sie Oda zu. »Und jetzt hole ich Ihren Besuch.«
Oda greift nach ihrem Arm, er ist weich und sehr warm. »Meinen Sie, ich werde vorzeitig entlassen?«
Die Schwester sieht sich um. »Also, solche Fragen dürfen Sie mir aber nicht stellen!«, sagt sie laut. Zwinkert.
»Vorher? Bevor mein Kind kommt?« Odas Stimme schießt in die Höhe.
Die Schwester knetet Odas kalte Hand. »Er ist ziemlich gut, so viel ist sicher«, flüstert sie.
Oda lacht und schluchzt.
»Ab morgen hat übrigens eine andere Ärztin Dienst, die ist nett. Und jetzt gucken Sie mal.«
Die Tür geht auf, darin steht Herr Schröder und lüftet seinen Hut, drückt ihn über seinem gewaltigen Bauch ans Herz. Er sieht anders aus als bei ihrer Verhandlung bei Gericht, gelöst, freundlich. Oda strahlt ihn an, die Tränen fließen und fließen. »Ich bin so froh, Sie zu sehen!«
Er schleicht mit gebeugtem Oberkörper an ihr Bett, nimmt auf dem Stuhl Platz, den die Schwester herangezogen hat. »Ich weiß es schon, der Arzt ist eben an mir vorbei. Glückwunsch.« Er öffnet seine Aktentasche und zieht eine Mappe heraus, schlägt sie auf und lächelt. »Und stellen Sie sich vor, auch ich habe gute Neuigkeiten.«