Jan

Pünktlich um neun Uhr saß er der Leiterin des Pflegeheimes Boddenblick gegenüber.

»Haben Sie vielen Dank, dass ich herkommen durfte. So schnell.«

Sie warf ihr langes blondes Haar zurück, eine Strähne blieb in einem ihrer großen goldenen Ohrringe hängen, die bis zum Halsansatz reichten. Energisch zupfte sie sie heraus.

»Kein Problem. Und ich möchte Ihnen wirklich gern helfen, aber unsere Einrichtung ist beliebt, auf der Warteliste stehen sieben Herrschaften vor Ihnen. Tut mir leid.«

»Verstehe.«

Mit exakt bemessenem Schwung steuerte sie ihren Drehstuhl auf eine Kommode zu, griff in einen Karton. »Und haben Sie überhaupt schon einen Blick auf unseren Flyer geworfen?«

Auf dem Deckblatt lächelte ein Paar mit dichtem grauem Haar und roten Lippen. Wir haben es uns verdient. Dahinter glänzte der Bodden, Riedgras bog sich im Wind, Kraniche stiegen auf.

»Beachten Sie insbesondere das einliegende Blatt.«

Es enthielt eine Liste mit den Unterbringungskosten, gestaffelt nach Zimmerklassen, Betreuungsaufwand, Pflegestufen.

Es klopfte, die Tür ging auf. »’tschuldigung, bin gleich wieder weg!«

Eine Frau schlich mit erhobenen Händen auf den Schreibtisch zu, sie hatte ein längliches Gesicht mit freundlichen grünbraunen Augen, einer sehr geraden Nase und schmalen Lippen. Kurze, braune Haare, die stachelig nach allen Seiten abstanden. Jan saß stocksteif, wie in den Stuhl geschweißt, und starrte auf die junge, moderne Version seiner Mutter. Und seiner Großmutter. Seine Cousine Heike!

Sie legte eine Klemmmappe auf den Schreibtisch der Heimleiterin. Dann betrachtete sie ihn genauer, stutzte. »Jan!« Er stand auf, sie umarmte ihn, kurz und heftig. »Was verschlägt dich denn hierher?«

Er berichtete vom Herzinfarkt seines Vaters, seiner Suche nach einer Pflegeeinrichtung.

Heike sah zwischen ihm und der Direktorin hin und her.

»Wir können niemanden für ihn rausschmeißen«, sagte die.

»Natürlich nicht.« Heike deutete auf einen Papierstapel auf dem Schreibtisch.

Die Direktorin signalisierte durch ein Nicken, dass der Stapel entfernt werden durfte. »Wie gesagt, Herr Biege, es sieht nicht gut aus, aber melden Sie sich gern in ein paar Tagen wieder. Ich habe übrigens in zehn Minuten ein Zoom-Meeting, muss Sie beide also jetzt leider rauswerfen. Kümmern Sie sich erst mal um eine Pflegestufe. Dann sehen wir weiter.«


Im Flur setzten sie sich in eine Fensternische, die mit bunten Sitzkissen gepolstert war.

»Mann, Jan. Toll, dich zu sehen.« Heike drückte ihn noch einmal.

Die Erinnerung an die festen Umarmungen seiner Mutter stellte sich ein, er genoss sie. »Ich hab dich sofort erkannt, du siehst Mutti und Oma so ähnlich.«

»Ich hingegen brauchte einen Moment«, gab sie zu, nachdem sie sich von ihm gelöst hatte.

»Ich bin alt geworden. Du nicht, du siehst gut aus.«

Sie stupste ihm den Ellbogen in die Seite. »Bei den Arbeitszeiten? Lügner. Aber trotzdem danke. Also: Wie kann ich helfen?«

»Hier würde es meinem Vater gefallen. Denkst du, wir können uns Hoffnungen machen?«

»Es ist Winter, wir haben eine schlimme Grippewelle, ich würde also sagen: durchaus. Ein Infarkt, sagst du?«

»Ja.«

»Dann wird er bestimmt in die Reha gehen, wir haben also ein bisschen Zeit. Wer ist denn sein Hausarzt?«

Auch ihre Stimme, wie Muttis, etwas zu hoch für eine so große und weibliche Frau, aber kräftig, voller Entschlossenheit. Und wie bei seiner Mutter offenbar ein Spiegel ihres ganzen Wesens, ihrer Art, Aufgaben anzugehen: immer mutig darauf zu. Inspirierend war das gewesen, und auch ein wenig einschüchternd.

Jan überlegte kurz. »Es war mal Doktor Schönfeld. Er hat, glaube ich, niemanden Neues.«

»Dann rufe ich im Krankenhaus an und übernehme ihn?«

»Du bist Ärztin? Großartig! Wenn das klappte, würde ich mich freuen.«

»Da fällt mir ein: Ein Heimbewohner sprach unlängst davon, Anfang Mai auszuziehen. In eine Seniorenresidenz am Wohnort der Kinder. Sein Zimmer könnte ich reservieren lassen.«

»Das wäre fantastisch.«

Heike spitzte die schmalen Lippen. Wie seine Mutter. »Man hat leider nur Blick in den Garten, nicht aufs Wasser.«

Und wie sie den Kopf schräg hielt, diese Ähnlichkeit! Er spürte einen kleinen giftigen Stachel. Einen kindischen Neid auf die so offensichtliche Familienzugehörigkeit, die bei ihm völlig fehlte, er kam mehr nach seinem Vater. »Er kann ja rausgehen.«

»Genau.« Sie sah auf ihre Uhr. »Sag mal, gibt es Neuigkeiten in Bezug auf den Fund am Strand?«

»Woher weißt du davon?«, fragte er rau. Stellte fest, dass er ein wenig fror. Dabei war es warm in dem hellen Flur, der Heizkörper an der Wand neben ihm bis zum Anschlag aufgedreht.

Sie legte ihm eine weiche Hand auf den Arm. »Die Polizei hat mich informiert, ich musste eine Aussage machen. Es tut mir unwahrscheinlich leid, dass ich ihr diese Uhr nicht zuordnen konnte. Konntest du?«

Er blickte auf ihre Hand, deren Druck warm war und tröstlich. Spürte, wie die Spannung in seinem Arm ein wenig nachgab. »Na ja, so halb.«

»Oh, Jan.«

»Es steht gar nicht fest, dass sie es wirklich ist, das dauert noch, mein DNA-Abstrich musste wiederholt werden. Es ist was schiefgegangen.«

»Komisch. Mit meinem nicht.«

»Du hast auch eine Probe abgeben müssen?«

»Wir zwei sind die einzigen lebenden Familienmitglieder. Tut mir leid, dass ich nicht mehr beitragen konnte, weder jetzt noch damals.«

Das Wort hallte in ihm nach. Familienmitglieder. Seltsam froh drückte er ihre Hand, dann gab er sie frei. »Du warst noch jung damals. Elf? Zwölf?«

»Zehn, aber ich war ein großes Kind. Und jetzt bin ich sehr neugierig auf dich, also lass uns uns unbedingt noch treffen, bevor du wieder fährst, ja? Habe ich deine Nummer?«

Er gab ihr sein Handy, damit sie ihre eintippen konnte, schickte ihr eine SMS.

»Wie wäre es gleich heute um sechs? Bei uns?«

Jan nickte heftig. Ein weiterer Abend auf der Insel, aber ein Abend, an dem er nicht allein sein würde, sondern … bei seiner Familie. »Sehr gerne.«

Sie standen auf, gaben einander die Hand. »Und, sag mal, Heike, kennst du einen guten Immobilienmakler?«

Grinsend lief sie rückwärts durch den Flur. »Möller in Bergen. Ein richtiger Hai, hat uns viel Geld aus der Tasche gezogen.« Winkte und verschwand durch eine Glastür, die sich vor ihr geöffnet hatte.

Ein Hai war gut, Ronald würde Geld brauchen.


Durchgeschwitzt und zufrieden stellte er Stunden später den Schneeschieber beiseite, den er auf dem Heimweg gekauft hatte, ebenso wie Besen, Eimer, Lappen, Putzmittel, Müllsäcke, ein paar Lebensmittel und einen Kasten Wasser. Die breite Fläche, die er unterm Wohnzimmerfenster freigeschippt hatte, war jetzt ungefähr so groß wie der Container, den die Entsorgungsfirma noch am Nachmittag bringen würde. Zehn Prozent Expressgebühr hatten die Dringlichkeit seines Anliegens unterstrichen, Geld war doch eine feine Sache.

Jan streckte den Rücken, sah hinauf in das milchige Grau des frühen Nachmittags. Windig war es kaum mehr, aber noch immer fiel der Schnee in dichten, schrägen Bahnen, die im Radio angekündigten feuchten Luftmassen aus dem Norden hatten die Oberhand gewonnen. Er würde heute Nachmittag noch einmal ums Haus schippen dürfen, aber das war in Ordnung. Eine Wohltat, so ein durchgelüfteter, leerer Kopf nach all der Zeit, die er in einem überheizten Büro der Krankenkasse zugebracht hatte, um die erforderlichen Antragsformulare für die Pflegeeinstufung und eine Rehamaßnahme zu besorgen.

Schwer atmend ging er ums Haus in die Küche. Sah auf dem Handy nach, ob eine Nachricht von Gesa eingegangen war. War sie nicht. Er würde einen weiteren Tag bleiben und hatte keinen Schimmer, wie Gesa heute darauf reagieren würde. Bin dabei, einen Heimplatz zu organisieren, und entrümpele das Haus. Kann vor morgen nicht heimkommen, es tut mir leid , tippte er. Wie geht es dir und Connie? Ich vermisse euch. Er drückte auf Senden.

Danach hängte er die verschwitzten Sachen über die Stuhllehnen, nahm ein paar Holzscheite aus der Kiste neben der Tür und schichtete sie in den alten Küchenherd, stopfte Knüllpapier dazu und zündete es an. Wie es wohl wäre, mit Gesa zusammen dieses Haus auszuräumen, in stummem Einverständnis? Wenn sie bei ihm wäre, obwohl sie alles von ihm wusste, und sich nicht daran störte? Wenn er genau deshalb irgendwie … stärker wäre? Er pustete in das Feuer, das nicht brennen wollte. Als der Herd eine dicke Rauchwolke ausspuckte, wich er hustend zurück und öffnete die Schornsteinklappe im Ofenrohr. Der Kamin zog pfeifend an.

Gut wäre das, ziemlich gut. Aber genau diese Chance hatte er wohl verpasst.

Er schloss die Ofentür, brühte einen scheußlichen Krümelkaffee auf und setzte sich. Während er in kleinen Schlucken trank, versuchte er, die Küche, die zwei Drittel der hinteren Haushälfte einnahm, mit anderen Augen zu sehen, mit denen eines Interessenten. Da waren: ein verputzter Raum mit niedrigerer Decke als im Rest des Untergeschosses, aus breiten, grün lackierten Holzlatten, die man entfernen konnte, um die alten Balken freizulegen. An den Wänden ein Ölsockel in derselben Farbe, der sich leicht abschleifen ließ. Linoleumboden in drei Lagen, braun, beige und grau und darunter … Terrazzo! Völlig verschmiert und von Linoleumkrümeln übersät, aber es war Terrazzo! Musste irgendwann im späten neunzehnten Jahrhundert gegossen worden sein, für Generationen von Füßen. Er schabte mit der Schuhspitze ein Stück frei. Ja, der ließ sich leicht aufarbeiten, genau wie der dicke Kaminzug gleich neben der Tür. Alles in allem war das ein großer, wunderbarer Raum fürs Kochen und Essen, fürs Zusammensein. Eine Familie. Er rieb über seine Brust, in der sich ein leises Ziehen meldete. Wie oft er hier gesessen hatte, an dem langen, dunkelbraunen Holztisch voller Risse und Kerben, und sich wohlgefühlt, behütet von diesem Raum. Aber immer mit dem Rücken zum Meer, die Hintertür zum Garten verschlossen. Der vage Gedanke, das Haus als Ferienimmobilie zu behalten, zuzusehen, wie Connie hier saß und Kartoffelpuffer mampfte, Bilder malte und Bücher las, zerstob so schnell, wie er aufgetaucht war. Und das war gut, wohl würde er sich in der Nähe der See nie fühlen, auch wenn er vier dicke Wände um sich hatte.


Mit Zange und Stemmeisen ging er, als er ausgetrunken und seine Tasse in die Spüle gestellt hatte, hinten raus und nach vorn. Der Makler, der gleich morgen früh herkommen und Fotos für ein Exposé machen wollte, musste schon zur Haustür reinkönnen. Jan setzte die Zange an, ein Nagel löste sich aus dem Holz, noch einer. Zwei weitere Nägel kamen problemlos, der letzte weigerte sich. Er drückte die Klinke, der Schließkeil rastete tatsächlich ein. Wunderbar. Er beschwor ihn, bis morgen durchzuhalten, klinkte erneut, zog kräftig an der Tür, der Nagel blieb, wo er war. Dann also das Stemmeisen.

Der Nagel hielt. Er setzte weiter unten an, um die Hebelwirkung zu vergrößern, legte sein ganzes Gewicht hinein. Rutschte ab, geriet zwischen zwei Schichten der Türverkleidung, Holz splitterte. Aber der Nagel war draußen.

Er zog das Eisen vorsichtig heraus, ein Stück der dünnen Spanholzplatte, die zuoberst aufgenagelt war, fiel herunter. Er brach ein weiteres lose hängendes Stück ab, ging näher ran und stutzte. Darunter befand sich … die alte Tür?

Von innen war es genauso, das dünne Verblendholz war lediglich aufgenagelt worden. Er nahm einen Spachtel, hebelte vorsichtig auf der Außenseite weiter. Krachend löste sich ein Stück Spanholz nach dem anderen. Dann lag die Tür frei, er trat zurück, hielt die Luft an.

Vor seinen Augen befand sich eine wundervolle dreigeteilte Kassettentür. Die obere Kassettenfüllung bestand aus einer geschnitzten Bildplatte. AD 1797 stand darauf. Darunter befanden sich eine aufgehende Sonne überm Meer und ein stilisiertes Schiff mit einem Kreuz auf dem Segel. Sein Blut rauschte in den Ohren, als er die intakten Schnitzereien und krümeligen Reste uralter Farben berührte, unter denen die Abdrücke der Schnitzeisen fühlbar waren. Er begrüßte sie wie einen alten Freund.

Natürlich! An jenem Ostersonntag, als sie das Haus zum ersten Mal gesehen hatten, war er wegen der Sonne aus Onkel Hans’ Wolga ausgestiegen, die ihn gelb und warm angelacht hatte. Ein blauer Himmel hatte das Haus eingerahmt, der Vorgarten war voller blühender Narzissen und Krokusse. Während Mutti durch den Garten lief und alle Bäume und Sträucher beim Namen nannte, hatte er die Hand nach der Sonne ausgestreckt. Sein Vater hatte ihn schließlich hochgehoben, damit er sie berühren konnte. Jan schluckte hart. Es war das Einfühlsamste, was dieser Mann je für ihn getan hatte, wenn auch vor sich hin grummelnd. Ganz schön ramponiert, das alte Ding, was? Wenig später hatten seine Eltern die Sperrholzplatten aufbringen lassen und Fenster und Türen dunkelbraun lackiert. Damit es hier frisch und modern aussieht. Was für ein Verbrechen.

Er nahm sein Telefon zur Hand, fotografierte die Tür, schickte das Bild an den Makler. Und an Silvio. Dann zog er sich den Arbeitsanzug über, den er im Auto hatte, und entrollte eine Packung Müllsäcke.