Margit

Wie jedes Mal, wenn sie durch das herrschaftliche Stadtviertel läuft, atmet sie tiefer. Ihr Gang kommt ihr leichter vor, eleganter, und ihre Sinne öffnen sich für das Schöne ringsum: die Villen, die alten Bäume, die bunten Blumenbeete, das filigrane Mobiliar, das in manchen Vorgärten steht. Ärgerlich, dass sie diese Zeugnisse des Großkapitalismus bewundert.

Im verräterischen Teil ihres Innern hegt sie sogar den Wunsch, hier zu wohnen. Sie ist nicht so, eigentlich nicht, doch hier zu sein tut wohl nach einem Arbeitstag inmitten von Blut und Exkrementen und den schweren Gerüchen kranker Menschen. Krankenschwester ist sie geworden, hat sich willig dahin stellen lassen, wo man sie braucht. Doch wenn sie nach Dienstende hier ankommt, fällt eine Zentnerlast von ihr ab, und sie freut sich wie verrückt auf Horst und die anderen Kinder.

Margit öffnet die Pforte des schneeweißen Holzzauns, der das parkartige Grundstück einfasst. Eine Fabrikantenvilla aus gelbem Backstein thront dahinter auf einem Hügel, einundneunzig Waisenkinder sind darin untergebracht.

Ronald tritt aus dem Garten. »Ich bin hier, falls du mich suchst.« Das Heim bekommt einen Anbau für Sanitäranlagen, Ronalds Brigade führt die Arbeiten aus, er hat sich freiwillig gemeldet, weil sie jeden Tag herkommt.

»Hallo«, sagt sie matt.

»Warum so niedergeschlagen? Ausgerechnet heute?«

Seit heute ist sie fertige Krankenschwester, die Feierstunde war recht schön, nur nicht das anschließende Gespräch mit dem Leiter der Klinik. Als OP-Schwester soll sie eingesetzt werden. Noch mehr Blut, die Gerüche warmer Organe, von verbranntem Fleisch, ihr ist augenblicklich schlecht geworden. »Bin wohl ein bisschen überwältigt.«

Er legt einen Zeigefinger unter ihr Kinn und hebt es an. »Das bin ich auch.«

Das Hopsespiel der Kinder, die sich heute Nachmittag trotz des Nieselregens draußen aufhalten dürfen, wirkt auf einmal unecht. Sie tun zu beschäftigt und machen übertrieben ausholende Bewegungen, schielen aber zu ihnen herüber. Ronald grinst, sie denken beide dasselbe. Dass die Rangen sie zu gern noch einmal beim Küssen erwischen würden.

Ronald nimmt sie in den Arm. »Gehen wir heute ins Kino? Und vorher ein Eis essen, zur Feier des Tages?«

»Schön wär’s.« Sie seufzt in seine Schulterbeuge. Aber wehe, sie ist nicht Punkt sechs daheim. Ausgehen ist nicht, nicht mal zur Parteiversammlung, wenn sie nach sechs stattfindet, und die ist drei Straßen weiter.

»Du hast den Alten noch nicht mal gefragt.«

»Doch, natürlich.« Wie jedes Mal gab es Geschimpfe, als sie mitteilte, dass sie ausgeht, obwohl so viel Zeit vergangen ist, über vier Jahre, seit sie die Nacht mit Horst und Ronald in einem Hotelzimmer zugebracht hat. Dem Vater sind die Augen fast aus den Höhlen gefallen vor Wut. Weißt du, wie die Leute über dich reden? Dass es nicht mehr lang dauert, bis du mit ’nem eigenen Kind dastehst! Dann stellst du deine Füße nicht mehr unter meinen Tisch, das sag ich dir!

Genau das will sie, lieber heute als morgen, nur nicht mit Kind, da passt sie schon auf, in der Hinsicht ist für Ronald noch nichts zu holen. »Wenn ich nur schon ein Zimmer hätte.«

»Ich hab eins, komm zu mir.«

»Später irgendwann. Jetzt muss ich rein.«

Sie versucht, ihn zur Seite zu schieben, er schnappt sich ihre Hände. »Mir geht es gut, danke der Nachfrage.«

»Fein. Ronald, bitte, lass mich vorbei.«

Er setzt einen blitzschnellen Kuss auf ihre Hände, dann gibt er sie frei. »Ich glaub, Horst hat den Vorlesewettbewerb gewonnen.«

»Bravo!« Ihr kleiner Horst, den sie schon vier Jahre lang nicht mehr bei sich haben darf. Prächtig gediehen ist er dennoch, weil sie ihn täglich besucht, mit ihm spricht, ihn begleitet auf dem Weg in eine Zukunft voller Tatkraft und Frohsinn.

»Ich brauche auch ein bisschen Nachhilfe.«

»Du bist groß, du kannst allein üben, was immer du üben musst.«

»Grrr.« Er tritt zur Seite. »Wegen mir würdest du nicht jeden Tag herkommen, was?«

Es fällt ihr heute ein wenig schwer, aber sie lächelt. »Ich wüsste nicht, warum, du riesengroße Nervensäge.«


Im Speisesaal sitzt ihre Rasselbande mit gestrafften Rücken an einer langen Tafel, Bücher liegen aufgeschlagen vor ihnen. Sie begrüßt jedes Kind mit Handschlag und vergisst augenblicklich ihre gedämpfte Stimmung.

Horst strahlt sie an, das Herz geht ihr auf. »Ich hab’s schon gehört, mein Großer, Glückwunsch.«

»Ich hab abends noch geübt, im Bett.«

Horst spricht, seit er hier ist, er hat einfach damit angefangen, sagt seine Erzieherin, und das hat Margit ein wenig damit versöhnt, dass sie ihn hergeben musste. In der Schule kam er anfangs nicht gut mit, aber es wird besser, seit sie den Kindern Nachhilfe gibt oder mit ihnen bastelt. Die neue Leiterin hat das zur Bedingung gemacht. Wenn du mit allen arbeitest, darfst du weiter jeden Tag hierherkommen, sonst nicht, das wäre den Kindern gegenüber ungerecht, die niemanden haben, der sie besucht. Und das sind so ziemlich alle. Lore Wallner ist klug, eine tatkräftige Frau und so schön, dass Margit vor Neid ganz schwummrig im Bauch wird, wenn sie vor ihr steht und sie den reinen, zarten Seifengeruch ihrer Porzellanhaut wahrnimmt.

Sie setzt sich an die Stirnseite des Tisches. Zuerst singen sie, und Margit ist glücklich, dass die Kinder den Text inzwischen so gut beherrschen. Die Heimat hat sich schön gemacht, und Tau blitzt ihr im Haar … Die Augen der kleinen Maria und die ihres Bruders Rudolf sind sehr weit aufgesperrt, sie klappern hastig mit den Lidern. Margit ist stolz darauf, dass sie sich so eifrig bemühen, nicht mehr traurig zu sein und mitzumachen. Sie wird sie nachher noch draußen herumtoben lassen, damit sie tief und fest schlafen und an nichts Dummes denken müssen. Alles lässt sich durch Arbeit und Mühen bewältigen, alles. Wenn sie nur wüsste, dass sie ihre Arbeit im Krankenhaus lebenslang schaffen wird …

Dann wird reihum vorgelesen, jeder drei Sätze, ganze dreieinhalb Runden um den langen Tisch schaffen sie, bis es Zeit ist, dass jedes Kind in der Veranda sein Glas Milch bekommt. Danach gibt es Stillbeschäftigung, die Mädchen häkeln, die Jungen lernen heute Knöpfe anzunähen.

Mittendrin verändert sich die Luft im Raum, Margit ist, als zöge sie sich zusammen. Lore Wallner ist hereingekommen. Sie geht mit verschränkten Händen hinter den Stühlen der Kinder lang, schaut ihnen über die Schulter, lobt ein gelungenes Arbeitsstück und ermuntert zum Weiterüben, wo sie einen Mangel sieht. An ihrem rechten Ringfinger glänzt ein tiefgrüner Stein.

»Sie waren alle wirklich fleißig«, sagt Margit, als die Heimleiterin hinter ihr stehen bleibt, ihr Herz schlägt wild.

»Das sehe ich.« Sie legt die Hände auf Margits Stuhllehne. »Wie geht es Ihnen heute?«

Sie kriegt im ersten Moment keinen Ton raus. »Ich bin froh, hier zu sein.«

»Und morgen? Werden Sie im Krankenhaus anfangen?«

»Ich denke es.«

»Ah. Schade.«

Sie dreht sich langsam um, Lore Wallners hellgrüne Augen sehen tief in sie hinein.

»Hätten Sie kurz Zeit für ein Gespräch?«

Wortlos folgt Margit ihr hinaus in den Flur.

»Es ist so, zwei Mitarbeiterinnen haben sich in den Westen davongemacht.«

»Das ist schändlich.« Endlich hat sie ihre Stimme wieder.

»Vor allem den Kindern gegenüber.«

»Ich kann mehr Aufgaben übernehmen, ich schaffe das schon.«

Lore Wallners Lächeln ist mild wie Sommerregen. »Ich beobachte Sie schon längere Zeit. Sie können sehr gut mit Kindern umgehen, haben hohe sozialistische Ideale. Können Sie sich vorstellen, hier anzufangen statt im Krankenhaus?«

Im Kamin des riesigen Foyers pfeift der Wind, ansonsten steht alles still. Margit möchte sich in den Arm kneifen. Hat sie das richtig verstanden? Es gibt einen Weg, dem Krankenhaus zu entkommen, den lästigen Pflichten, die ihr nicht die geringste Freude bereiten?

»Als Krankenschwester verdienen Sie natürlich viel besser, daher würde ich es verstehen, wenn Sie …«

»Ja, ich will!«

Langsam, wie ein Sonnenaufgang, breitet sich ein neues, helles Leben vor ihr aus. Eines voller Kinder, die sie brauchen, denen sie die bösen Träume vertreibt mit Spielen, mit Lernen, damit sie vergessen, dass ihre Eltern im Krieg umgekommen sind, oder dass niemand sie haben will. Was für ein Lebenszweck das doch wäre! Die Welt stellt sich vom Kopf zurück auf die Füße. »Ich würde natürlich darauf achten, dass Horst nicht bevorzugt wird.«

»Sie können gar nicht verbergen, wie lieb Sie ihn haben.«

Oh, das stimmt, und Lore Wallner hat es gesehen.

Sie lächelt ein Königinnenlächeln. »Und das sollen Sie auch nicht. Diese Kinder brauchen vor allem anderen Zuwendung, das wird mir hier jeden Tag schmerzlich bewusst.«

»Und sie müssen lernen, etwas zu schaffen, unserem Land nützlich zu werden, sich einzubringen, das hilft ihnen, zu vergessen. Ich will dabei so gern nützlich sein«, sprudelt es aus Margit heraus.

Lore Wallner nickt knapp. »Ich habe morgen einen Termin bei der Kreisleitung. Der Kreisleiter könnte den Parteisekretär des Krankenhauses anweisen, Ihren Arbeitsvertrag wieder auflösen zu lassen.«

»Ich hatte ihn noch gar nicht unterschrieben.«

»Umso besser.« Lore Wallner gibt ihr die Hand. »Dann sehen wir uns übermorgen früh um sechs Uhr. Es gibt ein Zimmer im Dach, es ist winzig klein und hat keinen Ofen, sicher werden Sie es nicht haben wollen, aber es gehört zum Arbeitsplatz dazu.«

»Ich nehme das Zimmer!«, jubelt sie. Sie ist randvoll mit Freude. Endlich weg von daheim, vom Zorn des Vaters, der alles erstickt. Endlich ein eigenes Leben beginnen!

Die junge Heimleiterin, die nicht viel älter ist als sie, löst die Hand aus ihrer. Sie hat sich regelrecht daran festgeklammert vor Dankbarkeit. Wie peinlich.

»Wissen Sie, ich habe Horst vorm Ertrinken gerettet, da war er ein Baby, wir sind zusammen auf einem Flüchtlingsschiff über die Ostsee gekommen. Seine Mutter ist vor seinen Augen ins Wasser gesprungen.«

Lore Wallner dreht sich noch einmal um, ihr Gesicht ist auf einmal hart und durchsichtig wie Glas. Margit möchte etwas Tröstliches sagen oder nach dem fragen, was Lore erlebt hat im Krieg, aber ihr ist ganz eng in der Brust.

»Weiß er es?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Sagen Sie es ihm nicht, er ist ein fröhliches Kind.«

Margit sieht zu, wie Lore Wallner die Treppe hochsteigt, eine Hand am Geländer und so langsam, als wären ihre schlanken Beine aus Blei.


Spät am Abend läuft sie noch immer wie auf Wolken. Ronald, der sich heute lange gedulden musste, bis sie gemeinsam heimgehen können, pfeift anerkennend durch die Vorderzähne, als sie sich bei ihm einhakt. »Normalerweise sind die Leute nach der Arbeit kaputt und hüpfen nicht umher wie ein Kind vorm Weihnachtsbaum.«

»Stell dir vor, ich kann hier im Heim arbeiten, es fehlen Erzieherinnen.«

Er bleibt stehen.

»Und ein Zimmer habe ich auch!« Sie kann ihr Lächeln kaum verbergen.

»Dann sehen wir uns den ganzen Tag.«

Das stimmt nicht, weil er draußen arbeitet und sie drinnen, aber sie will ihm die Freude nicht verderben. »Haargenau.«

»Juhu!« Er hebt sie hoch und dreht sich einmal im Kreis mit ihr. »Lass uns direkt zum Kino gehen, sonst schaffen wir vorher kein Eis mehr, oder ein Glas Wein, das muss gefeiert werden, ja?«

»Unbedingt.«

Beim Weitergehen verschränkt er seine Finger mit ihren, seine Daumenspitze reibt in ihrer Handfläche. Die kleinen Feuer, die in ihr lodern, schießen in die Höhe. Wie das sein wird, ganz allein über sich zu entscheiden. Auszugehen, zu lachen, zu tanzen, die Kraft rauszulassen, die sie in sich spürt. »Ich sage nur ganz kurz zu Hause Bescheid.«

»Och, muss das sein?«

»Mutti hat schwache Nerven, das weißt du doch.« Und richtig aus sich rauszugehen, zu schreien, zu jubeln, aus vollem Herzen und mit ihrem ganzen Leib, in dessen Schoß sich ein Geheimnis rekelt, das sie unablässig kitzelt. Das muss wunderbar sein.

»Schwache Nerven krieg ich auch, wenn du mich noch länger warten lässt.«

Spürt er es genauso in seinem Körper, dieses süße Ziehen? »Du Armer.«

Er schnellt um sie herum, sie rennt ihm direkt in die Arme. Ronald ist heiß, sein Atem geht schnell. »Heirate mich«, stammelt er. »Bitte.«

»Ich bin gerade mal siebzehn.«

»In zwei Jahren.«

Seine Stimme ist rau vor Erwartung. Oh, sie möchte all das erleben, so sehr. Mit jemandem, der den festen Willen hat, zu ihr zu stehen. Genau so muss der Richtige sein. »Frühestens in drei. Und dann nehmen wir Horst zu uns.«

»Du musst immer das letzte Wort haben, was?«

Sie haucht ihm einen Kuss auf die Wange. »Unbedingt.«