Oda

In der Nacht durchbricht ein Ziehen ihren schwebenden, federleichten Schlaf. Sie spürt in sich hinein, unter ihrem Herzen wird es schnell wieder ruhig. Wieder hat sie nicht von Jürgen geträumt, sie ist dabei, sein Gesicht zu vergessen, obwohl er ihr mehr fehlt als Brot und frische Luft. Oda atmet tief ein und aus, beide Hände auf dem runden Bauch, der zwischen ihren vorstehenden Hüftknochen aufragt. Viel zugenommen hat sie nicht, obwohl das Essen in Bautzen besser ist und man sie einigermaßen gut behandelt. Seit dem ersten Weihnachtsfeiertag ist sie hier. Papa hatte einem Treffen in Westberlin zugestimmt, schon im November, nach ihrer Verurteilung, das hat der Anwalt ihr erzählt. Die krebskranke Ehefrau eines Staatsrates durfte zu ihm nach Bochum in die Klinik, die Behandlung war von Erfolg gekrönt, Odas Freiheit ist die Gegenleistung. Nun wartet sie auf ihren Transport, jeden Tag kann es so weit sein.

Die Muskeln unterm Nabel ziehen sich zusammen wie ein Orkanauge, lösen sich. Das kennt sie schon. Einstellwehen, hat ihr die Schwester gestern zugeflüstert, gegen das Steingesicht der betagten, knochendünnen Ärztin, die, ohne die Handschuhe zu wechseln, innere Untersuchungen vornimmt, an mehreren Frauen hintereinander.

Oda schiebt die Erinnerung weg, ist wieder ganz bei sich. Wochenlang schon steht zwischen ihr und dem Gefängnis mit seinen umherhuschenden trüben Gestalten, dem Wärtergebrüll, all der Traurigkeit und Missgunst über ihre Sonderbehandlung ein Vorhang. Dahinter schläft sie eine Stunde länger, isst ihre anderthalbfachen Portionen in der Zelle, schwebt durch die Flure nach draußen zum Luftschnappen und stört sich nicht am Alleinsein. Sie träumt den lieben langen Tag vor sich hin, versunken, ganz hingegeben an das Werden in ihrem Bauch. Erzählt von sich, wie sie aussieht, dass sie Geige spielt. Von Jürgen, den flirrenden Monaten in Weimar, der Freude, endlich nicht mehr allein zu sein, nachdem Papa im Westen blieb, und so maßlos verliebt noch dazu. Nur nicht von ihrer Flucht, die spart sie aus, seither hat sie unbändige Angst vor Wasser. Sie flüstert vom Leben, das drüben auf sie beide wartet, mit all seinen Freiheiten, sie malt es in vielen Farben aus. Schwärmt von Ländern, in die sie gemeinsam reisen werden, die sie nur aus Bilderbüchern kennt. Chile, die Anden, Nepal. Dächer der Welt, sie hat unbändige Sehnsucht nach einem hohen, freien Blick in den Himmel.

Ihre Bauchdecke zuckt. He, heißt das, was liegst du da rum, mach was, mir ist langweilig, auch das hat sie mittlerweile verstanden. Lächelnd summt sie ein Einschlaflied. Die Blümelein, sie schlafen schon längst im Mondenschein … Ein entschiedener Tritt folgt. Nein, denkt sie lächelnd, ich stehe jetzt nicht auf und laufe umher, damit du schön durchgeschaukelt wirst, vergiss das wieder. Noch ein Tritt, Protest. Ja, sie kennen sich bereits, sie beide.

Draußen rasseln Schlüssel durch den Gang. Oda will wieder einschlafen, drückt ein Ohr gegen das Kissen, sucht Ruhe, findet keine, sie ist seltsam nervös. Unter ihren Fingern wird die Bauchdecke sehr fest, steinhart. Sie spürt ihren Herzschlag direkt darüber, einen sehr kräftigen, der jede Faser ihres Körpers zum Vibrieren bringt. Sie atmet scharf ein. Gestern war der achte Mai, Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus, es gab Kompott zum Mittagessen. Das Kind soll Anfang Juni kommen, wenn sie frei ist, bei Papa in Bochum, nicht hier, bloß nicht hier! Sie atmet dorthin, wo die Spannung steht wie ein Fels. Denkt an Hefeteig, so weich wie Omas große Brüste. Ihre sind zwei Tütchen mit dunkelbraunen Hauben, lustig sieht das aus. Ja, richtig so, lach mal, sagt sie sich, und schön locker lassen, locker, alles ist gut! Die Festigkeit in ihrem Bauch zerfließt. Gut so.

Unter Haut und Muskeln rollt ein Hügel durch ihren Bauch, sie kneift zart hinein, es muss ein Fuß sein, und er stupst zurück! Wir beide, denkt sie, Freudentränen fließen über ihre Wangen, sie kann gar nicht aufhören, sich zu freuen!

Ihre Augen werden schwer, der Schlaf kommt zurück, das Ziehen auch, im selben Moment, es ist heftig. Odas Herz klopft wild, stöhnend lässt sie ein bisschen Luft ab, die sich in ihrer Lunge ballt. Mittendrin wird es zwischen ihren Beinen nass, an ihrer Hand riecht sie Blut. Blut! In gleichmäßigen Stößen strömt es und verebbt, wie Meereswellen, zweimal, dreimal. Sie fängt an zu zittern, Ängste jagen sich. Sie muss Meldung machen, schnell, sie braucht Hilfe! Oda schiebt die Beine aus dem Bett, drückt sich hoch. Wartet, atmet, richtet alle Gedanken nach innen. Alles wird gut, Mama macht das schon, Mama ist hier.

Still wird es in ihr, der Schmerz schleicht davon, sie lauscht in sich hinein, das stoßweise Fließen hat tatsächlich ein Ende! Bestimmt war das kein Grund, sich verrückt zu machen, sie ist ja ziemlich dünn, ein Hungerhaken mit ’ner Kuller vorn dran, hat Janne gesagt, die Nette aus der Zelle vorn links, und ihr ein Stückchen Schokolade zugesteckt.

Oda steht auf. Kein Blut. Ein bisschen auf- und abgehen ist bestimmt gut, also tut sie es, ganz vorsichtig, ganz langsam, eine Hand zum Abstützen an der Wand, durch das Fenster glimmt schon der Morgen.

Da, ein erneutes Aufbauen der Urkraft in ihrer Körpermitte. Nicht, sagt sie nach innen, eiert weiter durch die kleine Zelle. Omas Stimme ist in ihrem Kopf. Du machst gar nichts, Häschen, das vollzieht sich, von Anbeginn der Menschheit ist das so. Vor langer Zeit hat sie das mal gesagt, auf Odas Bohren. Wie geht das, ein Kind zu kriegen? Da weiß sie, dass es geschehen wird. Heute.

Auf einmal ist Jürgen da, an den sie doch nicht denken wollte, wenn es so weit ist, weil das so viel Kraft kostet. Sie fängt sofort an zu schluchzen und kann nicht aufhören, ihr ganzer Körper bebt vor Trauer. Jürgen, wo bist du nur, hilf mir, komm doch her! Sie weiß, dass er lebt, sie fühlt es einfach.

Wieder ein Ziehen, wie eine Erinnerung: Reiß dich zusammen! Oda schleicht weiter. Sie möchte nichts sein als ergeben, vertieft in das Ereignis, und ganz ohne Angst, aber ihr Puls hämmert. Nichts weiß sie, rein gar nichts. Was, wenn sie stirbt? Wenn das Kind nicht atmet? Sie steht vor der Tür, legt die Hände darauf. »Hallo?«

So ein feines, kleines Baby von ’ner schlauen Studentin, das geht weg wie warme Semmeln, zu einer erstklassigen sozialistischen Familie , hat eine Wärterin ihr zugezischt. Nicht meins, wusste sie da schon, das bleibt bei mir, ich schreibe dir eine Postkarte aus dem Westen, du Scheusal. Aber was, wenn … Sie hat keine Zeit für den dummen Gedanken, die nächste Welle baut sich auf, Oda geht ein Stück in die Hocke, lässt die Hüften kreisen, das tut gut. Trommelt mit den Fäusten gegen die Tür.

Draußen bleibt es still. Weiter geht das so, minutenlang, stundenlang, sie weiß es nicht, sie ist in einer Schleife, in der sich alles wiederholt, das An- und Abschwellen, das sie mit dem Atem begleitet. Einsaugen, anhalten, ablassen, wenn der Schmerz am schlimmsten ist. Es klappt ganz gut, nur die Wände der Zelle kommen ihr bedrohlich nahe. »Ich will hier raus!«, schreit sie in einer der Wehenpausen, die immer kürzer werden.

Es klopft an ihre Wand, an die Tür neben ihr, eine weitere, noch eine, es müssen vier oder fünf Türen sein, gegen die jetzt von innen gehämmert wird. Die Mitgefangenen helfen ihr! Wieder Pochen, Rufen. »Sie braucht einen Arzt! Schnell!«

Oda schöpft Mut daraus, stellt sich unters Fenster, stützt die Hände an die feuchtkalte Wand und lässt die Hüften kreisen. Der Schmerz geht voran, sie folgt, es ist ein Tanz. Ja, so ist es am besten.

Das Ziehen hört bald auf, danach ist es anders, schlimmer, ein Schieben, es drückt sie förmlich zu Boden. Ihre Beine fangen an zu zittern, sie muss liegen, aber wie …? Eine ganz kurze Pause kommt, die sie nutzt, um aufs Bett zu kriechen. »Hilfe!«, schreit sie.

Wieder hämmern Fäuste, Tritte krachen gegen Türen.

Gebrüll im Gang. »Was ist denn da los!«

Aber das kümmert sie nicht mehr, Oda liegt da, ihre Beine fallen auseinander. Sie bäumt sich auf, dreht sich zur Seite, weg von dem Schieben nach hinten, zum Kreuz. Packt ihre Decke und krallt die Hände hinein. Sie brüllt dem Schmerz hinterher, in einem langen, tiefen Ton, wie ein Tier.

Vorn geht die Tür auf.

Wie um die Kurve drückt sich der kleine Mensch, dann nach vorn. Noch ein Stück, das letzte. Eine Riesenfaust sitzt zwischen ihren Beinen und will raus.

Jemand steht neben ihr. »Oh nein, was …?«

»Arzt, bitte!«, blökt Oda, das Kinn auf der Brust.

Der Wärter rennt weg, die Tür bleibt offen, draußen ruft es durcheinander, was, hört sie nicht, ihre Trommelfelle sind am Platzen, so gewaltig ist der Druck.

Sie schiebt mit, presst nach unten.

Ein letzter Widerstand ist da, und sie hat keine Ahnung, was tun, als sich der Schmerz noch einmal aufbaut und sie weiß: jetzt. Und es geschieht, einfach so, und tut höllisch weh, und das ist egal, ganz egal. Sie stöhnt mit dem Weh, wird laut, lauter, der Kopf bricht durch. Sie hechelt wie ein Hündchen und zittert am ganzen Leib.

Schon hört sie den Schrei. Sie greift sich zwischen die Beine, tastet das nasse, warme Köpfchen, das da ist, es ist da, auf der Welt! Alles ist richtig, so wie es muss, wie gut, wie wunderbar!

Weiter geht es, noch einmal presst sie, in einem Rutsch gleitet das Kind zwischen ihren Beinen hindurch in die Welt.

Oda hält den Atem an, die Zeit steht still.

Ein Schrei gellt.

Er geht über in ein Jammern, hält an, beginnt von Neuem. Oda beugt sich vornüber, sieht ihn da liegen, schreiend, mit rudernden Ärmchen, die so klein sind, so winzig. Ihren Jungen. »Söhnchen«, sagt sie, »Söhnchen«, schluchzt und schluchzt.

Der Schrei ebbt ab, er dreht das Köpfchen. Ihre Hände sind schon da und heben ihn auf, hin zu sich, an ihre Brust. Bedecken ihn, hüllen ihn ein, mit Streicheln, vielen Küssen. Willkommen, Kleiner, willkommen! Oda stammelt den Namen, den sie geträumt hat. Cornelius. Dabei wollte sie einen mit J, J wie Jürgen. Jan oder Jana.

Sie schiebt das Bündel unter ihre Jacke, zieht die Zudecke um sie beide, die ganz blutig ist. Er riecht so gut, warm, so wie sie, in ihrem Inneren, nach Leben und Liebe. Mein Kind, niemals gebe ich dich her!

Stiefel dröhnen im Flur, sie presst ihn an sich, dreht sich mit dem Rücken zur Tür.

Frühes Licht sickert durch die Fensterluke über ihrem Bett auf das rote Gesichtchen. Seine Augen stehen offen, er sieht sie an! Blinzelt, spitzt die Lippen, als wunderte er sich. Ach, du bist das?

»Söhnchen, mein liebes Kind, erkennst du mich?«, flüstert Oda. »Ich bin deine Mama, wir kennen uns, nicht wahr?« Du bist mein. Mein Cornelius.

Schläge gegen die Wand aus der Zelle zur Linken, im Stakkato, wie Applaus. Ein Glückwunsch. Oda sieht nichts als das Mäulchen, das sich spitzt und öffnet, das Fingerchen, das in den Mund wandert, sie entblößt ihre Brust. Er wendet das Köpfchen, bewegt die Beinchen, stemmt sie gegen ihren weichen Bauch, als wollte er loskriechen, sie legt eine Hand unter den kleinen Po, der da genau hineinpasst, wie abgemessen.

Schritte trappeln durch die Zelle.

Er schließt das Mündchen um ihre Brust, ein kurzer schmerzhafter Kniff, sie lacht. Dann schließt er die Äuglein und zupft, probiert, schmatzt ganz leise und packt zu. Solch eine Kraft!

»Ach du je!«, hört sie. »Ach du je! Das is’ ja schon da!«

Der Wärter, der mitten in der Zelle steht, kommt näher, sie drückt den Kleinen an sich, der sofort losjammert, erschrocken lässt sie locker. Sie spürt, dass er die Brust loslässt, und sieht, wie er das Gesichtchen zornig faltet. Nein, nein, fleht sie, schiebt ihn zurück an die Brust. Der Kleine schließt die Lippen und runzelt die Stirn.

»Arzt kommt«, sagt der andere Wärter, der danebensteht und die Schultern hochzieht. »Können wir mal gucken?«

»Nur gucken!«

Die beiden beugen sich über sie und glotzen wie die Ochsen, die Gesichter wachsweich. Richtige Menschengesichter.

Das Klopfen an den Wänden kommt jetzt auch von rechts, die beiden reagieren nicht darauf. »Süß«, sagt der eine.

»Geht’s gut?«, der andere. »Sie sind so blass.«

Das muss stimmen. Sie ist so, so müde, alle Energie scheint sich in ihren Bauch zurückgezogen zu haben. Ein Fieber ist dort drin, ein Krampfen, ein Wollen, aber sie kann nicht mitmachen. Etwas fließt weiter aus ihr heraus, in warmen, regelmäßigen Schüben. Blut? Sie ist mehr als müde, ihr Büblein schlummert ein, kann sie da nicht auch ein bisschen …

Jemand schnappt sich ihr Handgelenk, fühlt den Puls, schiebt die breiten Augenbrauen zusammen, es ist ein Arzt. Über Odas Gesicht wedelt die Hand einer Schwester. »Na los, aufstehen, Sie müssen mitkommen!«

Der Arzt schiebt sie zur Seite, legt eine Hand an Odas Stirn. »Ich brauche hier mal kräftige Hände«, sagt er, »na los!«

Die beiden Wärter schieben die Arme unter ihre Decke, heben sie und Cornelius auf eine Trage. Mit beiden Armen hält sie ihn fest, voller Angst, ihm wehzutun. Kein Tönchen gibt er von sich, aber der kleine Leib hebt und senkt sich, er atmet, lebt, alles ist gut.

»Wir fahren ins Krankenhaus«, sagt eine andere Schwester, die die Decke über ihr zusammenrafft, lächelt und Odas Wange streichelt. »Ihr Sohn muss untersucht werden, er ist sehr klein, vielleicht muss er in den Brutkasten, und Sie legen wir ins Nebenzimmer, ja?«

Zu klein?, will Oda fragen. Die Augen fallen ihr zu, sie sinkt in eine tiefe Dunkelheit. Eine weitere Decke wird auf sie gelegt, das ist nicht gut. Wie heiß ihr auf einmal ist.

»Sieht hier irgendwo jemand die Nachgeburt?«, hört sie noch, und dass der Arzt sehr laut flucht.