Er sah dem Makler nach, der sich den Weg zu seinem Auto zurückbahnte, atmete leicht und tief. Das Haus könne er zeitnah verkaufen, hatte der Makler in Aussicht gestellt, auch der Preis, den Jan vorgeschlagen hatte, ließe sich bestimmt realisieren. Jan hob zum Abschied die Hand und winkte. Und wirklich, es machte ihm nicht das Geringste aus, in ein paar Tagen oder Wochen den Schlüssel zum Haus für immer abzugeben.
Der Makler hob ebenfalls die Hand, doch der Gruß galt nicht Jan, sondern dem Fahrzeug, das gerade auf das Grundstück fuhr. Ein Polizeifahrzeug.
Silvio stieg aus, gefolgt von Diana.
Sie marschierten im Eiltempo auf das Haus zu, Haufen von Schnee vor sich her wirbelnd, als gäbe es ihn nicht.
»Können wir reingehen?«
Diana wartete seine Antwort nicht ab, sondern lief schnurstracks an ihm vorbei in die Küche, mit weißem, ausdruckslosem Gesicht. Sie bat ihn, sich zu setzen, sie selbst blieb stehen. Ihr Blick huschte durch die Küche, während sie sich gegen das leer geräumte Buffet lehnte. »Es gibt Neuigkeiten, Jan. Wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es sich bei dem Fund um Margit Biege handelt.«
Er setzte sich, faltete die Hände im Schoß. Gab sich selbst Halt. »Das dachte ich mir schon.«
»Dass wir die sterblichen Überreste zuordnen konnten, verdanken wir der Probe, die deine Cousine abgegeben hat.«
Er brauchte einen Moment, Dianas Worte einzuordnen. »Mit meiner ist wieder was schiefgegangen? Deshalb kommt ihr zu zweit hierher?«
»Auch bei der ersten Probe war das nicht der Fall, das wissen wir inzwischen.« Diana zog einen Stuhl hervor und setzte sich. Fasste ihn ins Auge. »Deine Proben stimmen lediglich nicht mit der von Margit Biege überein, beide Male nicht. Es tut mir leid, Jan, zwischen dir und Margit Biege besteht kein biologisches Verwandtschaftsverhältnis.«
Das Blut in seinen Ohren begann zu rauschen. Mit einer Schulterbewegung wehrte er die Hand ab, die seinen Unterarm berühren wollte.
»Mir auch«, sagte Silvio.
Aha, hörte er sich denken. Nur das.
»Jan?« Diana.
Er lachte auf, verstummte jäh. »Aber … wie ist das möglich?«
»Die Experten sprechen von den berühmten neunundneunzig Prozent. Was leider bedeutet, dass es keinen Interpretationsspielraum gibt.«
Er nickte mechanisch. Ihre Stimmen hatten sich einen Weg durch seinen Kopf gebahnt. Sacht, vorsichtig. »Zu Heike aber schon.«
»Ja.«
War auch kaum zu übersehen.
»Setz dich besser wieder hin. Wir sind da.«
Er war aufgestanden? Tatsache. Stand mit gebeugten Knien, ohne sich rühren zu können. Ebenso wenig konnte er etwas sagen, in ihm war kein einziges Wort. Nur eine große, allumfassende Leere. Sein Blick flog aus der Küche, raus, über den Schnee, der hellblau und scharf im Sonnenlicht glänzte.
»Können wir etwas für dich tun?« Silvio.
»Etwas tun? Was denn?«
Dianas grünbrauner Blick erinnerte Jan an etwas, es machte, dass der Krampf in den Beinen sich löste. Er landete hart auf dem Stuhl, ein fest umrissener Schmerz stieß ihm in den Hintern.
Die beiden sahen einander an. »Sollen wir eine Pause machen, Jan?«
Er wollte, dass sie sagten, was zu sagen war, und ihn dann allein ließen. »Nein. Was wisst ihr noch?«
»Es gibt Erkenntnisse zu ihrem Tod«, fuhr Diana fort. Silvio deutete ein Kopfschütteln in ihre Richtung an.
Jan schluckte ein paarmal, hatte Mühe, die Worte zusammenzuklauben. »Dürft ihr mir das nicht sagen, weil ich nicht …« Der Rest des Satzes schaffte es nicht aus seinem Mund.
Diana schüttelte den Kopf, hob fragend die Augenbrauen.
»Dann sag’s«, bat er.
»Margit Biege starb offenbar an einem Genickbruch. Der Tod muss innerhalb von Sekunden eingetreten sein.«
»Ein Genickbruch? Wie das?«
Diana sog Luft ein. »Aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie gestürzt.«
Das Wort hallte dumpf in seinem Kopf. »Gestürzt?«
»Ihr Knochenbild deutet auf eine fortgeschrittene Osteoporose hin, das heißt, dass ihre Knochen tendenziell anfällig für Brüche waren. Im Bereich der oberen Brustwirbelsäule sind weitere kleine Frakturen nachweisbar. Ein Wirbelkörper, zwei Rippen.«
»Gestürzt. Einfach so.« Jan begriff es nicht, sein Kopf war noch immer leer gefegt, sein Inneres ausgehöhlt.
»Sie muss nach hinten gefallen sein, und mit dem oberen Rücken auf etwas drauf, sodass diese kleinen Frakturen entstanden. Ihr Kopf knickte dabei sehr schnell nach hinten weg, ähnlich wie bei einem frontalen Autounfall ohne Kopfstütze. Um dir ein Bild zu geben.«
»Gestürzt und nach hinten gefallen.«
»Ja, so muss es sich zugetragen haben.«
Diana hielt seinen Blick weiter fest, mit einem leisen Flattern des rechten Augenlids, an das er sich plötzlich sehr gut erinnerte. Sie hatte sogar hier in dieser Küche gestanden. Sag was, Jan. Lass mich dir nach deiner Mutter suchen helfen, sperr mich nicht aus.
»Jan? Brauchst du etwas?« Silvio. »Wir könnten dich mitnehmen und bei mir zu Hause absetzen. Hier steht kaum ein Möbelstück mehr drin, es ist echt kalt. Du bist herzlich eingeladen, erst mal bei mir zu wohnen.«
Jan schüttelte den Kopf.
»Ihre sterblichen Überreste wurden heute Morgen freigegeben und werden gerade vom Beerdigungsinstitut abgeholt«, durchbrach Diana die Stille. »Vielleicht möchtest du eine Beerdigung organisieren. Ich schätze, Ronald Biege wird das momentan nicht können.«
»Ich komme gern mit und begleite dich.« Wieder Silvio.
»Morgen«, hörte er sich sagen, »dann fahre ich morgen.« Nach Berlin, es gab ja Berlin. »Und jetzt kümmere ich mich um … um alles.«
»Schaffst du das?« Diana.
Er stand auf, die Fäuste auf die Tischplatte gestützt. »Ja.«
Silvio hob sein Telefon in die Höhe. »Ich bin immer erreichbar. Ich komme sofort.«
Er nickte. Die beiden standen auf.
»Jan?«
Sein Name schwebte haltlos im Raum.
Diana legte ihm im Vorbeigehen die Hand auf den Arm. »Für mich gilt dasselbe.«
Als sie weg waren, tappte Jan ins Wohnzimmer. Er hob den Schal auf, der zusammengeknäult neben der Tür lag. Sah sich blicklos um. Langsam, wie der Tau an einer Scheibe, gerannen ein paar Gedanken.
Gestürzt. Erstickt.
Margit Biege. Mutti.
Die Frau, die nicht seine Mutter war.
Die nicht seine Mutter war. Und er nicht ihr Kind. Wieder zitterten ihm die Beine, das ganze Haus schien sich zu drehen. Aber wer war er dann?
Im Fensterglas tauchte eine Gestalt mit grauem Gesicht auf und langen, schmalen Händen, die aus einem weinroten, verwaschenen Pullover ragten. Er senkte den Blick. Sah Schnürboots aus dunkelbraunem Leder mit einer Scharte außen am linken Schuh, wo Connie mit dem Roller langgeschrammt war. Merkte sogar, dass er fror. Zog die Jacke an, legte den Schal um, setzte eine Mütze auf seinen Kopf, der mit Watte ausgestopft war.
Dann schlingerte er durch den Flur des Hauses. Breitete die Arme aus, um die Wände rechts und links zu erreichen, sich halten zu können. Was sonst sollte er tun?
Als nichts weiter geschah, außer, dass ihm die Arme schwer wurden, verließ er das Haus und stieg in sein Auto. Er fuhr die Landstraße bis zur großen Kreuzung, die neuerdings ein Kreisverkehr war. Bog in die Bundesstraße ein, die in die Stadt mündete. Ging, nachdem er das Auto auf dem Krankenhausparkplatz abgestellt hatte, unter schneebeladenen Bäumen zum Eingang, während er in sich nach etwas grub, an das er sich halten würde. Fragen. Erklärungen. Ohne Ergebnis, in seinem Kopf herrschte Totenstille, als könne kein Gedanke jemals einen Sinn in das bringen, was er eben erfahren hatte.
Jan klopfte und ließ sich von der diensthabenden Schwester ans Bett des alten Mannes begleiten. Stand vor einem schlafenden Rest Mensch, der kaum wiederzuerkennen war. Schlaff wie ein Stück Stoff, das jemand achtlos fallen gelassen hatte, lag sein Vater in seinem Bett. Ein Gefühl von Vergeblichkeit machte sich in Jan breit. Von Scham.
»Sprechen Sie ihn ruhig an, er wird sich freuen.«
Die Hand einer Schwester lag auf seiner Schulter, er nickte, im selben Moment schlug der Vater die Augen auf, sie waren gelblich und trübe.
»Du, Jan?«
Die Stimme des alten Mannes klang wie ein Echo ihrer selbst, das aus großer Ferne herüberwehte. »Ja, ich.«
»Wie schön«, krächzte er. »Hol dir einen Stuhl.«
Jan tat es. Setzte sich. »Wie geht es dir?«
Der Vater versuchte sich an einem Lächeln. »Na ja.«
Jan ließ den Blick über den ausgemergelten Körper streifen. Nein, er konnte dieses Gespräch nicht verschieben, dann wäre es vielleicht zu spät dafür. »Ich würde dich gern etwas fragen.«
»Ah.«
»Du warst es, der sie begraben hat, richtig?«
Etwas fiel aus dem Gesicht, wich aus dem ausgemergelten Körper des alten Mannes. Ein allerletzter Rest an Widerstand.
Er spürte, wie sich etwas in ihm ausbreitete, es war rot, pulsierend. Jan war steif vor Anstrengung, seine Stimme ruhig zu halten. »An ihrem Lieblingsort. Niemand außer uns beiden kannte die Stelle. Aber woher wusstest du, wo du sie suchen musst? Und seit wann?«
»Die hatten angerufen. Aus Lübeck.«
»Du hattest sie längst gefunden, als ich heimkam. Und hast mich trotzdem suchen lassen.«
Ronalds Schultern rollten, als wolle er sich von etwas befreien. Qual steckte darin.
Jan wartete, bis sein Atem weniger nach Kampf klang. Nach Scheitern. »Aber das ist nicht die einzige Lüge. Warum habt ihr es mir nie gesagt? Dass ihr nicht meine Eltern seid.«
Keine Bewegung, nicht mal ein Zucken.
»Ronald?« Ronald. Nicht Vater. Die Luft in dem Krankensaal, in dem es tuckerte wie in einem Taubenschlag, wurde ein wenig leichter.
Ein Seufzen, das gurgelnd in Ronalds Brust widerhallte, ein suchender Blick. »Sie wollte das nicht.«
»Das ist alles?«
Das Rascheln von Stoff, eine Schwester kurz vorm Renteneintritt. »Sie wissen schon, dass hier nur leise geredet werden darf?« In Sekundenschnelle zog sie die Bettdecke straff, die sich unter Ronalds Füßen verknäult hatte, und verschwand wieder hinter der Stoffwand. Eine Plastikverpackung wurde aufgerissen, das Knipsen eines Verschlusses war zu hören.
Ronald betrachtete den Vorhang, der sich leise bewegte. »Du wärst traurig gewesen. Das wollte sie nicht. Ihr zwei habt doch so aneinander gehangen. Das war eine Welt für sich. Und außerdem …«
»Sie hatte kein Recht, das für mich zu entscheiden, ein Mensch muss wissen, wer seine Eltern sind!« Er war laut geworden. Hinter der Stoffwand wurde es still.
»Das weiß ich doch«, sagte Ronald weich.
Jan atmete langsam aus. Hatte er je diese Stimme gehört, so behutsam, bittend? »Du hattest ein schlechtes Gewissen und bist mir deshalb immer aus dem Weg gegangen, nicht wahr?«, fragte er leise.
Ronald presste einen Handrücken auf seinen Mund. Ein Schluchzen.
»Du hast eben noch einen Satz begonnen, ich hatte dich unterbrochen. Was wolltest du noch sagen?«
Der alte Mann hob angestrengt den Kopf, schien alle Kraft zusammenzunehmen, ihn fest anzusehen. »Mutti wollte nicht, dass du enttäuscht bist. Diese Frau. Die war kriminell. Hat im Knast das Angebot bekommen, in den Westen auszureisen. Ohne dich.«
Jan stand blitzschnell auf. Griff nach dem weißen Gestell, das Ronald vor dem Herausfallen schützte. Schwankte, fühlte sich schlapp, wie ausgesogen.
»Mutti war viel besser für dich. Glaub mir.«
»Und mein Vater?«
Kurze, stoßweise Atemzüge, als würde Ronald einen Felsblock tragen. »Weiß nichts von dem.«
»Aber von meiner Mutter.«
Keine Antwort.
Die Wut in ihm wurde größer, Wut über das sichere Gefühl, gegen eine Mauer zu rennen. Genauso hier rausgehen zu müssen, wie er gekommen war: völlig ratlos und allein. »Warum sollte ich dir das glauben? Nach alldem?« Nach alldem. Verdammt!
Das Ratschen kleiner Plastikrollen, hinterm beiseitegezogenen Vorhang das strenge Gesicht der Schwester. »Der Patient ist nicht in der Verfassung für so ein Gespräch.«
Sie hatte also gelauscht. »Wie schafft man es, jemandem sein Leben lang ins Gesicht zu lügen, fast fünfzig Jahre lang?«, fragte er sie.
»Ich weiß nur, dass Sie gehen werden, und zwar sofort.«
Gegen alle inneren Widerstände beugte Jan sich zu Ronald herab. »Wie ist es möglich, sich nicht zu verplappern? Oma und Opa wussten es, Hans und seine Frau und wer weiß noch. Nur ich nicht.« Scheiße, er war ein Kind gewesen, das ungewollt in all das hineingeraten war! »Sag mir alles, was du weißt, ich brauche Klarheit, das musst du doch verstehen.«
»Herr Biege?«
Die Schwester legte Ronald den Handrücken an die Stirn. Der schob die Hand weg.
»Ich denke, dass ich dich darum nur ein einziges Mal bitten werde«, fügte Jan tonlos hinzu. Wirklich, es konnte sein, dass er nicht wieder herkommen würde.
Die Lippen des alten Mannes bebten.
Jemand tippte Jan an, unwirsch riss er den Arm zur Seite.
»Der Doktor ist da«, blaffte die Schwester.
Jan trat zur Seite, wie aus einem Tunnel.
Ein Arzt drückte sich die Hörmuscheln seines Stethoskops in die Ohren. Die Schwester legte Ronalds knochige Brust frei. Der Arzt neigte konzentriert den Kopf. »Sie müssen aber schon mitmachen, Herr Biege, und nicht alles dem Antibiotikum überlassen! Schön mitmachen. Tief atmen. Ja. So. Und immer schön abhusten, versprechen Sie mir das?«
Er stöpselte das Stethoskop aus und wandte sich an Jan. »Wir hoffen, dass wir ihn stabilisieren können, um ihn zu verlegen und einen Herzschrittmacher einzusetzen. Den braucht er dringend.«
»Natürlich«, gelang es ihm zu sagen.
»Ihr Vater will keinen. Reden Sie mit ihm. Machen Sie ihm Mut! Ja, Herr Biege?«, sagte der Arzt an Ronald gewandt. Legte ihm eine Hand auf die Schulter und verschwand.
Ronald hustete, als säße ein Schlammloch in seiner Brust. »Jan … Ich will nur noch … eine richtige Beerdigung für sie. Und ich will dabei sein. Bitte.«
Mit zwei Schritten war Jan an der Tür, sah in dem spiegelnden Glas der Scheibe, wie Ronald versuchte, sich hochzustemmen, wie er den Arm hob.
»Sie hieß Oda«, rief er hustend.
Alles Blut sackte in Jans Beine. Gut, dass er die Hand am Türgriff hatte.
»Oda Scheurich. Scheffenhofen … oder so.«
Oda Scheurich. Der Name hallte in seinem Kopf, wurde immer lauter.
»Verzeih deiner … verzeih Margit. Sie hat’s nicht böse gemeint.«