Jan

Silvio umarmte ihn, da war er noch nicht mal über die Türschwelle. »Gut, dass du gekommen bist.«

Jan betrat das warme, vom sinkenden Licht des Nachmittags abgedunkelte Scheunenhaus. »Hatte ich eine Wahl?«

Silvio hatte mehrfach angerufen. Du wirst hier erscheinen, sobald du die Beerdigung organisiert hast, keine Widerrede.

Es tat wohl, in das große, ruhige Wohnzimmer zu treten, durch dessen Fenster das letzte Licht des Tages floss und das zu sagen schien: Lass dich fallen, dann sehen wir weiter.

Silvio setzte sich ans andere Ende des Sofas. Streckte die Beine aus, legte den Kopf auf die Rückenlehne, als gäbe es auf der Welt nichts weiter zu tun als das. Jan spürte, dass er ein wenig tiefer atmete, und ließ sich ebenfalls in das dicke Polster sinken.

Sie saßen schweigend da. Bis Silvio sich räusperte.

»Sag mal, dieses Geräusch, ist das dein Magen?«

Tatsächlich, ein knurrendes Loch hatte sich in Jans Bauch aufgetan, ein hohler Sog war entstanden, eine Gier, etwas sehr Reales. »Stimmt.«

Silvio griff nach seinem Telefon. »Hallo, Tom«, sagte er wenig später, »ich hätte gern die XL-Pizza mit allem drauf, per Expresslieferung. Danke dir.«

Pizza. Genau, was er brauchte.

Das Telefon flog in hohem Bogen auf die Sitzfläche des gegenüberstehenden Sessels. Silvio verschränkte die Arme. »Und nun erzähl! Was hast du heute Nachmittag alles erreicht?«

»Es dauert zwei bis drei Tage, ehe sie Mutti … ehe sie sie beerdigen können. Wegen des Frosts im Boden. Ich wollte kein Feuer.«

»Natürlich nicht.«

»Morgen treffe ich den Grabredner und habe nachmittags einen Termin im Blumenladen. Sie mochte orangefarbene Gerbera, vielleicht können sie welche beschaffen.«

»Fände ich schön. Wirst du zur Beerdigung hier sein?«

Jan hielt inne. Eigentlich hatte er guten Grund, fernzubleiben, und hatte dennoch keine Sekunde daran gedacht, das zu tun. Dann war das wohl die Antwort. »Ronald will dabei sein, also werde ich ihm das ermöglichen.«

»Sicher, dass dir das guttut?«

»Es ist Ronalds letzter Wunsch. Es geht ihm wirklich nicht gut, sagen sie. Ich hatte vorhin noch mal im Krankenhaus angerufen.«

Es klingelte an der Tür.

Silvio stand auf. »Verstehe. Du kannst immer noch in Ruhe drüber nachdenken. Während du Pizza isst, zum Beispiel.«

Dann nahmen sie am Tisch Platz und aßen aus dem Karton heiße, weiche Berge aus Teig mit Tomaten, Käse, Kräutern, Fleisch und Gemüsen. Die wachsende Fülle in seinem Magen machte Jan müde und ruhig.

»Was kann ich sonst tun?«, fragte Silvio, als der Karton leer war.

Jan musste lächeln über den Gedanken, der ihm plötzlich gekommen war. »Ich würde gern sehen, was du malst.«

Den hellen Raum in der anderen Haushälfte betrat er, wie man eine Waldlichtung betritt, blinzelnd wegen der unverhofften Helligkeit, mit einem Gefühl von Erleichterung.

Die Wände des Ateliers waren bis unters Dach weiß getüncht, der Boden aus Beton. Eine andere Luft herrschte hier, vermischt mit Gerüchen. Harziges Terpentin, das Feuchte, Erdige angemischter Pigmente, etwas Öliges. Pinsel standen in leeren Gurkengläsern auf einem Tisch vor der Glasfläche, die das löchrige Scheunentor ersetzte. Daneben, genau in der Mitte, eine große Staffelei. Tücher, Lappen und anderer Kleinkram befanden sich auf einem breiten Holzregal an der linken Wand. Mitten in dem vielen Weiß, wie kleine Inseln, fertige Bilder, an den Wänden, gegen Stühle und Kisten gelehnt.

»Du darfst näher treten, es piept nicht wie im Museum.«

»Ich habe hier einen guten Überblick, danke.« Über zehn Bilder mit demselben Motiv. Das Meer hinterm Schinkelturm am Kap Arkona, davor ein Stück Düne. Auf einem Bild bauschte sich die See zu dunkelgrauen Wellen, auf einem anderen lag sie unschuldig als hellgrüne Spiegelfläche da, auf einem weiteren bei Nacht, heimtückisch glänzend wie schwarzes Öl. In den Konturen waren die Motive mal scharf und klar, mal verwaschen, vom Schäumen des Meeres, der Luft und dem Regen wie aufgelöst. Nicht mal der Turm war eindeutig er selbst, sondern geformt von der Gestimmtheit des Lichts, vom Wetter, der Tageszeit. »Die sind fantastisch, wirklich.« Er wandte sich den kleinen Wellen und Tälern auf einem tiefgrauen Bild zu, die Silvios Pinsel der Farbe dort eingeprägt hatten und ihr Raum verschafften. Geschickt gemacht war das, mit Liebe zum Detail.

Silvio trat neben ihn. »Danke. Wie geht es dir inzwischen, Jan?«

Er zuckte die Achseln, den Blick auf die weiße Wand über den Bildern gerichtet. »Nun ja. Zuerst stand ich schon unter Schock. Dann habe ich Ronald mit Fragen gelöchert. Und jetzt … stehe ich aufrecht vor dir.« Er zwang sich zu einem schiefen Lächeln.

»Ich meinte, in Bezug auf Margit.«

Er schwieg einen Moment, dachte nach. »Keine Ahnung, wirklich.« Was sie betraf, war es still und tot in ihm, wie nach einer Schlacht. Saß der Schock über ihren Verrat zu tief, oder hatte er allen Schmerz über ihren Verlust schon vor dreißig Jahren verbraucht?

»Kommst du zurecht?«

»Aber ja«, sagte sein Mund. »Ich bin so viele Jahre älter.«

»Als damals.« Das kam schnell und scharf, wie ein Geschoss.

Jan wandte sich zu Silvio um. »Ja. Damals hat am Ende nur ein Neuanfang geholfen. In Berlin.«

Silvio tippte ihn sacht an. »Manchmal kann man nicht mehr als das, weggehen. Erst mal.«

Jan blickte zurück zu den Bildern vom Meer, sog den Trost auf, der aus ihnen sprach. Aus ihrer Verschiedenheit, den wechselnden Stimmungen. Ich weiß dann immer, dass alles vorbeigeht, dass nichts so bleibt, wie es ist , hatte Silvio neulich gesagt.

»Was kam danach?«

Die Frage war so leise gewesen, dass Jan sie auch hätte überhören können.

»Tja. Danach …« Kam er plötzlich nicht mehr klar. »Ich war neunzehn, lebte in einer großen Stadt, kannte viele Leute. Frauen. Bin jeden Abend auf ’ne andere Party gegangen. Und war trotzdem immer einsam und todtraurig.«

»Was hast du dagegen unternommen?«

»Was wohl. Ich habe zu viel getrunken.« Wenn der Boden unter ihm schon schwankte, sollte er es gefälligst aus nachvollziehbaren Gründen tun. Jan drehte sich um. Er sah Silvio fest an. »Es ging mir sehr schlecht, weil mir meine Mutter so fehlte, aber ich habe da wieder rausgefunden, zum Glück.« Nachdem er an einem Dienstag in der Mensa über einem Teller Nierenragout zusammengebrochen war. Und ganze zwei Wochen auf der inneren Station eines Krankenhauses verbracht hatte. Er war das reine, heulende Elend gewesen.

»Du bist aus Berlin weg, stimmt’s? Hast du nicht in Weimar studiert?«

»Die Stadt hat mich geheilt, das muss ich wirklich sagen. Sie hatte die richtige Größe, die richtige Atmosphäre, die richtige Umgebung. Ich war jedes Wochenende im Wald unterwegs. Und es gab Musik in Weimar, jeden Abend. Hochschulkonzerte, Vorspielabende, ich habe mir alles angehört.«

Silvios Augenbrauen berührten sich beinahe. »War wahrscheinlich richtig damals. Da waren sie ja mit ihren Therapien noch nicht so weit.«

Er hätte ohnehin nicht mitgemacht. Welcher Neunzehnjährige wollte schon eingestehen, dass er mit dem Leben nicht zurechtkam, und ließ sich freiwillig auf eine psychiatrische Station verlegen? Stattdessen hatte er sich selbst entlassen, hatte den Alkohol aufgegeben und war umgezogen. Hatte sich auf sein Studium gestürzt, das ihm gefiel, sein Leben gelebt. Glücklicherweise hatte es ohne weitere Zusammenbrüche funktioniert. Und Beziehungen hatte er fortwährend gehabt, die immer für eine gewisse Zeit hielten. Bis er Gesa kennengelernt, sich langfristig gebunden und die Leere in sich kaum noch bemerkt hatte. Und geglaubt hatte, er sei davon geheilt. Der Gedanke an sie war ein Pfeilschuss quer durch sein Hirn. Er hatte ihr noch nichts von seiner Adoption erzählt!

Augenblicklich kam ein weiterer Gedanke, ein schmerzvoller, Jan streckte sich, stemmte die Beine in den harten Boden des Ateliers. Im Grunde war er aber doch derselbe geblieben, auch bei Gesa. Wenn er in eine Situation geriet, die auf irgendeine Weise an sein tiefstes Inneres rührte, wie Connies Geburt oder Silvios Anruf vor ein paar Tagen, kriegte er eine namenlose Angst und wollte sich nur noch verkriechen, und zwar möglichst weit weg. War seine Ehe daran gescheitert?

»Jan? Ist alles in Ordnung?«

Silvio hatte sich gegen die Wand gelehnt und tat, als hätten sie alle Zeit der Welt. Jan lächelte dankbar. »Nicht wirklich, nein. Aber lass uns wieder rübergehen, hier drin ist mir gerade ein wenig kühl.«


Im Wohnzimmer raffte Silvio den Pizzakarton und die Servietten zusammen und brachte sie in die Küche. Dann kam er lautlos, wie auf Zehenspitzen, zurück und setzte sich in den Sessel unterm Fenster.

»Die andere Frau heißt mit Vornamen wie diese Malerin«, sagte Jan, nachdem er auf dem Sofa Platz genommen hatte. »Oda.«

Silvio sah ihn mit großen Augen an. »Du meinst Oda Jaune. Großartige Künstlerin.«

»Ronald hat mir ihren Namen verraten, er hat ihn die ganze Zeit gewusst. Oda Scheurich.«

Silvio saß aufrecht, schien sich keinen Millimeter zu bewegen. »Das muss wirklich ein Schock sein. Hast du dir schon überlegt, ob du sie kennenlernen willst?«

Er merkte, dass er plötzlich Luft brauchte, Bewegung. »Sie war im Gefängnis, Silvio. Und hat sich in den Westen entlassen oder freikaufen lassen. Ohne mich. Mich hat sie zur Adoption freigegeben.«

»Sagt Ronald.«

»Ja.«

»Und seit wann glauben wir ihm?«

Was das betraf, tat Jan es, es fühlte sich einfach zu echt an, zu vertraut. Das Verlassenwerden. »Sie hätte in der DDR bleiben können.«

Silvio wiegte den Kopf. »Du bist also in Haft geboren. Meine Güte.«

Mit den Fingerknöcheln rieb Jan über seine Brust, als könnte er so den Schmerz, der darin saß, vertreiben. Er dachte an Gesa in einem blütenweißen Krankenhausbett, an lächelnde, flüsternde Schwestern, Blumen, Naschwerk, Geschenke auf dem Nachttisch. Den Blick auf ihr Kind, den einer Löwin mit unendlichen Kräften. Fühlte Traurigkeit und ein wenig Neid.

»Verzeih mir, Jan«, begann Silvio zögerlich, »aber wer zu DDR-Zeiten vom Staat als Straftäter verurteilt wurde, war es nicht unbedingt.«

Jan stand auf. »Kann sein. Ich will es nicht wissen.« Niemals würde Gesa ihr Kind verlassen, was für ein Glück Connie mit ihr doch hatte.

»In Ordnung.« Silvio deutete auf die Faust auf Jans Brustkorb. »Sollen wir raus an die Luft gehen?«

»Seit der Wende sind dreißig Jahre vergangen, dreißig! Diese Frau wusste es auch, die ganze Zeit. Wo ist sie gewesen?« Tief still war es im Raum, daran merkte Jan, dass er laut geworden war. Er musste wirklich hier raus.

Er löste die Faust von der Brust, murmelte eine Entschuldigung, verließ das Zimmer. Im Flur griff er nach seiner Jacke. Silvio kam ihm nach, lehnte sich an die Glaswand, die Wohnzimmer und Flur trennte.

Ohne ihn anzusehen, riss Jan die Tür auf und lief raus in den frostklaren Abend. Eilig, aber nicht schnell genug, um zu überhören, was Silvio ihm hinterherrief. »Nur du kannst Einsicht in deine Adoptionsakte nehmen, Jan, diese Oda darf das nicht, sie kennt vielleicht nicht mal deinen Namen.«