Jan

Der Morgen hinterm Küchenfenster war blassblau und klar. Töne glitten durch den schmalen Raum, sie kamen aus einem kleinen Radio auf der Fensterbank. Es gab keinen Tisch mit Stühlen, dafür zwei Barhocker, darauf hatten sie zum Frühstück Platz genommen und schweigend eine erste Tasse Kaffee getrunken.

»Ich hab leider keine Zeit mehr zum Essen, aber du nimmst dir, was du brauchst, ja?« Silvio stand auf und stellte seine Tasse in die Spüle aus massivem hellem Stein, die sich genau darunter befand. »Bleib, solange du willst, Hausschlüssel hängt am Brett. Ich habe morgen eine Weiterbildung in Schwerin und muss heute eher Schluss machen, um den Zug zu kriegen. Ich übernachte bei einer Schulfreundin, die ich ewig nicht gesehen habe.«

»Das wird bestimmt nett. Aber ich denke, ich schlafe heute bei mir. Da wäre noch ein bisschen was im Haus zu tun. Oder ich bin gar nicht mehr hier.« Ein Tapetenwechsel, an etwas anderes denken als die gestrige Nacht. Luft holen, auftanken. Mit ein paar guten Worten von Gesa, wie sehr er sich danach sehnte.

»Wie du willst.« Silvio spülte seine Tasse und summte dabei die Melodie mit, die durch den Raum strich wie milde Luft.

Jan sah ihm zu, verspürte keinen rechten Hunger, dafür eine zunehmende Anspannung. Gleich würde er allein sein mit sich und der Entscheidung, die er vor ein paar Stunden getroffen hatte.

»Erinnerst du dich noch, wie wir nachmittagelang zusammen Platten gehört haben? Das Clapton-Album, zum Beispiel.« Onkel Hans hatte es besorgt, wer weiß, woher. Er hatte das Album nur aufgelegt, wenn seine Eltern nicht im Haus waren und er sicher sein konnte, dass niemand sie mitsingen hörte. Dann waren sie manchmal durch den oberen Flur getanzt, mit geschlossenen Augen, Luftgitarren in der Hand, waren lachend gegen Möbel und Wände geeckt, trunken vor Freude und auf eine gute Weise schwerelos.

Silvio schmunzelte. »Ich durfte es ein einziges Mal berühren.«

»War ich wirklich so drauf? Liebe Güte. Allerdings war es eine echte Rarität, darin steckte immerhin der Klang der großen weiten Welt, die uns verschlossen war.«

»Zur Entschädigung hast du mir ein Mixtape gemacht, zusammen mit diesem wahnsinnig gut aussehenden Sven mit den pechschwarzen Locken, erinnerst du dich?«

»Und ob.«

Silvios Lächeln war breit und warm. »Es liegt hier irgendwo noch rum. Ich habe zwar keinen Kassettenrekorder mehr, aber die Songs sind alle auf meiner Playlist.« Im Vorbeigehen berührte er Jans Oberarm. »Ruf an, wenn was ist. Und iss was, das ist wichtig.«

Jan nickte. »Dann bis irgendwann, und danke, dass ich herkommen durfte. Und dass du nicht sauer bist.« Kein Wort darüber, was Jan sich gestern Abend noch geleistet hatte: allein draußen umherzustiefeln, in tiefster Nacht zurückzukehren und dann noch ewig das Licht brennen zu lassen, weil er keinen Schlaf fand.

»Kein Problem. Mach’s gut.«

Draußen im Flur polterte ein Rollkoffer über den Steinboden, dann fiel die Haustür ins Schloss.

Während Jan seine Müslischale zur Hälfte füllte, verstummte die Musik, der Moderator der Sendung sagte die Uhrzeit an. Halb neun schon? Mit flauem Magen löffelte er die Schale leer, während die Beklemmung der vergangenen Nacht sich endgültig zurückmeldete.

Irgendwann im Morgengrauen hatte er die Auskunft angerufen, danach eine Nummer gewählt. Und blitzschnell, mit wild pochendem Herzen, aufgelegt, als eine reife, volltönende Frauenstimme sich verschlafen gemeldet hatte. Scheurich am Apparat.

Mit zittrigen Händen spülte er sein Geschirr, stellte die Lebensmittel in den Kühlschrank und räumte sein Bettzeug zusammen.

Während Jan den Hausschlüssel in Silvios Briefkasten gleiten ließ, warf er einen Blick auf sein Telefon. Achtzehn verpasste Anrufe.


Stunden später bog er auf den Parkplatz eines Autobahnschnellrestaurants bei Wittstock ein, nervös, Gesa und Connie gleich wiederzusehen. Er hoffte inständig, dass Gesa genügend Zeit mitgebracht hatte, damit er ihr von seiner Adoption erzählen konnte.

Am Morgen war er zu seinem Elternhaus gefahren und hatte den Vormittag damit verbracht, das Schlafzimmer auszuräumen, die Möbel auseinanderzubauen und in den Container zu schaffen. Es hatte gutgetan, sich von dem Gedanken an die eingegangenen Anrufe abzulenken, und mehr noch von der Frage, warum er es nicht schaffte, Oda Scheurich zurückzurufen. Leider hatte er deshalb auch Gesas Nachricht erst sehr spät gelesen und kam gerade noch so pünktlich hierher.

Kaum war er aus dem Auto gestiegen, kam Connie wie ein Kugelblitz auf ihn zugeschossen. »Papa, Papa, Papa!«

Er spürte, wie sich ein Loch in ihm blitzschnell verschloss, sich mit Wärme und Frohsinn füllte. Ein kleines Knie landete in seiner Magengrube, er lachte, während er seinen Sohn in die Luft warf. »Du bist ja wieder gesund, Wirbelwind!«

»Diese Woche noch nicht, hat Mama gesagt, deswegen komme ich zu dir, weil ich nicht in den Kindergarten darf.« Connies Herz hüpfte an seiner Brust, er schien mit diesem Verbot ganz prachtvoll zurechtzukommen.

Gesa kam auf ihn zu, mit einer Hand hielt sie ihren Mantel zusammen, dessen Gürtelende auf dem Boden schleifte, in der anderen trug sie Connies blaues Rollköfferchen und eine große Plastiktüte. Sie war nicht geschminkt, ihr Gesicht war verquollen, er bezwang den Wunsch, einen Arm auszustrecken, um sie in seine und Connies Umarmung hineinzuziehen. »Wie schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?« Du wirst dich mit mir treffen, um deinen Sohn in Empfang zu nehmen, wir sind unterwegs , hatte sie ihm geschrieben, ohne Anrede, ohne »bitte« oder »danke«. Um eins beim McDonald’s bei Wittstock.

»Es geht. Obenauf im Koffer sind die Medikamente, die Connie noch einnehmen muss. Heute Abend und morgen früh das Antibiotikum, je einen ganzen Messlöffel. Den Hustenlöser noch ein paar Tage länger, vielleicht bis zum Wochenende, davon ebenfalls einen ganzen Messlöffel. Steht alles noch mal auf dem beiliegenden Zettel. Ich habe ihn vorhin abgehört, die Bronchitis heilt gut.«

Jan setzte seinen Sohn ab. »Gesa, was ist los?«

Sie hielt das Gesicht weiter von ihm abgewandt, sein Hals zog sich zusammen. »Auf dem Kindersitz habe ich ein Überraschungsei liegen sehen, mein Großer, willst du nicht wissen, was drin ist?«, sagte er zu seinem Sohn.

Connies Blick flog unsicher zwischen ihnen hin und her.

»Na los, mein Schatz! Ich komme gleich gucken, was es ist, ja?«

Connie schlich zum Auto, Jan folgte ihm, half ihm, einzusteigen, und schloss sacht die Tür. Dann hastete er zurück zu Gesa.

»Irgendwas ist nicht in Ordnung, sag mir bitte, was.«

Gesa stellte Rollkoffer und Tüte vor seine Füße. »Hier sind Schneeanzug, Schneestiefel, zwei Mützen und Handschuhe. Er soll sich mit dem Toben aber noch ein bisschen zurückhalten.«

»Würdest du mir bitte sagen, was los ist?«

Sie lief um ihr Auto herum, mühte sich mit dem Reisebett ab.

Er half ihr, es aus dem Kofferraum zu heben, schlang seine Hände um ihre, als sie sich zufällig berührten. »Was ist mit der geplanten Teneriffareise?«

Sie zog die Hände unter seinen weg. »Meine Eltern haben sich angesteckt und mussten absagen. Sie haben Fieber. Und ich muss zum Kongress, wie du weißt.«

»Das tut mir leid für deine Eltern, und selbstverständlich nehme ich Connie zu mir, liebend gern sogar. Ich bin nur überrascht, dass du mich auf diese Weise herbeordert hast, per SMS. Und dann bist du nicht zu erreichen.«

Sie schloss für einen Moment die Augen, sammelte sich. »Ich bin traurig und enttäuscht, wenn du es wissen willst.« Tupfte sich die Wangen mit dem Ärmelsaum ihres neuen, schicken Mantels.

»Von mir? Aber warum?«

»Dafür brauchen wir mehr Zeit, jetzt muss ich mich beeilen.« Sie prüfte ihr Aussehen im Seitenspiegel, dann lief sie zu seinem Auto, beugte sich mit gerecktem Daumen zu Connie hinein, der ihr einen kleinen Elefanten präsentierte, den er nicht einmal ansah, nur sie. Gesa öffnete die Tür, gab ihm einen Kuss. Connie schlang die Arme um sie und ließ nicht los, bis sie ihn darum bat und versprach, bald mit ihm in den Zoo zu gehen.

»Gesa, bitte, noch einen Moment«, sagte Jan, als sie die Tür wieder geschlossen hatte. Folgte ihr, als sie zu ihrem Auto zurücklief. »Ich muss dir noch etwas Wichtiges sagen.«

»Musst du nicht, ich weiß es schon.« Sie stieg ein, ließ die Scheibe herunter.

Seine Knie gaben nach.

Da spürte er eine kleine Hand in seiner. »Papa, ich muss pullern. Kaufen wir dann auch Pommes? Ich hab Hunger.«

Mit steifen Bewegungen nahm er Connie auf den Arm. »Du sollst doch nicht aussteigen, hier fahren überall Autos herum.«

Gesa startete den Motor. »Macht’s gut, ihr zwei.«

»Gesa, warte!« Jan spürte, dass sein Bauch nass und warm wurde. Connie kniff die Augen zu.

Die Fensterscheibe schloss sich, der Wagen rollte vom Parkplatz, Jan sah ihm fassungslos nach. Sie wusste es! Aber woher? Ihm war nach Brüllen zumute, aber er riss sich zusammen. Trug stattdessen das schluchzende Kind zum Auto, öffnete den Kofferraum, schob das Gepäck beiseite, setzte seinen Sohn ab. Hatte einen reißenden Schmerz in der Brust, als er Gesas roten Opel die Autobahnauffahrt nehmen sah.

Schließlich half er seinem weinenden Kind aus den nassen Sachen, schlang ihm die Picknickdecke um die Beine, die sich seit letztem Sommer in seinem Kofferraum tummelte. Atmete durch, fand irgendwo in sich einen Rest Zuversicht. »Alles wird gut, mein Schatz. Ich bin da, und ich bin froh, dass du hier bist. Wir machen es uns schön, ja?«

Connie sah ihn nicht an.

»Weißt du, ich habe nämlich einen Riesenhaufen Schnee.«

Jetzt schielte Connie zu ihm her. »Wo dein Haus ist?«

»Genau.«

»Fahren wir dahin?«

»Willst du nicht?«

Connie zuckte die Achseln.

»Was ist los, mein Großer, hm?«

»Mama hat geweint.«

Wegen ihm. Jan schloss seinen Sohn fest in die Arme, räusperte sich, suchte seine Stimme. »Ich mache das wieder gut, mein Schatz. Ich kriege das hin, ich verspreche es dir.« Auch sein Sohn zitterte am ganzen Leib, Himmel, er fror! Hastig machte Jan sich an dem kleinen Koffer zu schaffen.

»Du musst die Zahlen in die Gucklöcher drehen, die sind hinter dem Griff«, kommentierte Connie sein Gefummel, »drei, drei, drei.«

»So ein feiner Koffer ist das? Mit Zahlenschloss? Meine Güte.«

»Die Hosen sind ganz unten.«

Jan zog eine lange Unterhose und eine Jeans heraus, schob eine Tafel Kinderschokolade und ein Bob der Baumeister -Heft zurück nach unten.

Während Connie in die trockenen Sachen schlüpfte, heulte er erneut auf. »Mein Schlitten! Papa, ich hab meinen Schlitten vergessen!«

Erleichtert hob er das fertig angezogene, weinende Kind aus dem Kofferraum und in seinen Kindersitz. »Das macht nichts. Ich habe bestimmt noch einen bei mir im Schuppen, wenn wir da sind, gucken wir gleich nach. Okay?«

Connie schniefte. Nickte dann und trommelte mit einem Schuh gegen den Vordersitz. »Holen wir jetzt Pommes, Papa? Jetzt gleich? Ich hab nämlich Hunger.«

So ein Schlingel!

»Papa?«

Jan strubbelte ihm durchs Haar. »So viele du willst.«


Drei lange Stunden später, von denen sie eine im Stau zugebracht und dabei eine Riesenportion Pommes sowie Connies Schokolade miteinander geteilt hatten, stellte Jan am Gartentor den Motor aus. Lehnte sich zurück, ließ die Scheiben herunter und frische Luft ins Auto, sie war eisig und rein.

Er warf einen prüfenden Blick auf seinen schlafenden Sohn, stieg leise aus, zog die Jacke an. Betrachtete den Himmel, auf dem nur noch ein dünner Wolkenschleier lag. Es würde schneidend kalt werden heute Nacht, er sollte im Schuppen Holz und Kohlen suchen und den alten Ofen im Wohnzimmer in Gang bringen, damit sie unten im Warmen schlafen konnten. Sacht öffnete er den Kofferraum, um das Gepäck auszuladen. Im nächsten Moment sah er seinen Sohn mit den Armen wedeln.

»Schnee, Papa! Hier ist überall Schnee!«

Eilig steckte Jan das zappelnde Kind in seinen Schneeanzug, die Stiefel, zog ihm Mütze, Schal und Handschuhe an.

Mit ausgebreiteten Armen stapfte Connie durch den tiefen Schnee und drehte eine Runde um den Schneemann im Vorgarten, jubelnd, tanzend, als erlebte er so einen Winter zum ersten Mal. Was ja auch stimmte, fiel Jan ein, Connie hatte noch nie so viel Schnee gesehen. Wie schön, dass das hier geschah.

»Wohnst du jetzt hier, Papa?«, fragte sein Sohn, als Jan sich, den kleinen Koffer und das Bettchen unterm Arm, damit abmühte, den Schlüssel in das Haustürschloss zu bekommen.

»Als Kind habe ich hier gewohnt. Komm, ich zeige dir alles.«

»Ist dein alter Vater in dem Haus?«

»Nein, er ist ausgezogen. Du darfst gern reinkommen.«

Connie blieb an Ort und Stelle stehen. »Schlafen wir heute da drin?«

»Wir können uns auch ein Hotelzimmer nehmen, wenn es dir hier nicht gefällt, das ist kein Problem.«

Jetzt warf sein Sohn einen Blick an der spaltbreit offenen Tür vorbei ins Haus. »Kann ich zuerst noch hier draußen weiterspielen?«

»Na klar.«

Connie stakte zurück zu den Schneemännern.

»Musst du nicht aufs Klo?«

Kopfschütteln.

Jan seufzte. »Aber lauf nicht weg, hörst du?«

Noch ein Kopfschütteln, halbherzig.

»Du bleibst im Vorgarten!«

»Warum?«

»Weil ich dich so besser im Auge behalten kann.«

Connie bückte sich und knetete einen Schneeball. »Ich mache auch einen Schneemann, ja, Papa?«

»Aber nicht lange, wir müssen gleich noch einmal los. Ich muss in ein Blumengeschäft.« Das Gespräch mit dem Grabredner des Bestattungsinstituts hatte er immerhin schon geführt, unterwegs am Telefon. Und versprochen, ihm heute noch Muttis Lebenslauf zu mailen.

Connie ließ sich mit erhobenen Armen in den Schnee fallen. »Aber vorher will ich den Schlitten! Holst du ihn, Papa?«

Im Schuppen war noch ein Rest Feuerholz, aber keine Kohle. Jan schleppte es ins Haus, dann machte er sich daran, den Schlitten zu suchen. Fand ihn schließlich unter einem braun gewordenen Bettlaken neben einem Regal mit leeren Einweckgläsern und stellte ihn unters Fenster, um ihn auf Tauglichkeit zu prüfen. Staunte nicht schlecht. Der Schlitten war sauber, sein Holz intakt, nicht einmal an der Oberfläche gerissen. Jan strich mit den Fingerspitzen darüber. Ronald musste ihn tatsächlich geschliffen und lackiert haben, so, als wäre mit seinem Einsatz jederzeit zu rechnen gewesen. Berührend, diese Sorgfalt einem so alten Ding gegenüber, genau wie die Hoffnung, die damit verbunden gewesen sein musste. Darauf, Jans kleinen Jungen einmal kennenzulernen.

Jan nahm den Schlitten und verließ den Schuppen, kramte, während er ums Haus zurück zum Vorgarten lief, sein Telefon heraus und rief im Krankenhaus an. Ronalds Zustand sei unverändert, er schlafe, das sei ein gutes Zeichen, versicherte man ihm.

Nachdem er Connie den Schlitten ausgehändigt und einen kleinen Hügel aus Schnee zusammengeschaufelt hatte, den man provisorisch als Schlittenberg benutzen konnte, trug er das Gepäck ins Wohnzimmer. Schürte ein Feuer im Ofen, der tatsächlich noch funktionierte, und legte tüchtig von dem Holz auf. Dann klappte er das Reisebettchen auseinander. Die Plastikscharniere verursachten ein hohles, einsames Klacken. Was, wenn Connie in dem leeren Haus Albträume bekam?

Jan holte eine Isomatte aus dem Auto, rollte sie daneben aus, legte eines der alten Sofakissen darauf, eine Decke. Das Ganze sah aus wie eine Heimstatt für einen Obdachlosen, der ein Kind hatte. Was ja in etwa stimmte.

Schließlich setzte er sich im Wohnzimmer aufs Fensterbrett, um Connie im Blick zu haben, und griff erneut zum Telefon. Gesa hob tatsächlich ab.

»Ihr seid gut angekommen?«

»Ja, Connie spielt schon im Schnee. Gesa, es tut mir so leid, dass ich mich nicht gleich bei dir gemeldet habe mit dieser Neuigkeit, aber ich stand unter Schock. Kannst du das nicht verstehen?«

Pause.

»Gesa?«

»Doch. Natürlich. Ich war trotzdem enttäuscht, sehr. Nach unserem letzten Gespräch habe ich wohl erwartet, dass mich anzurufen das Erste ist, was dir einfällt in so einer Situation. Bei mir wäre das so.«

Jan spürte Wärme in sich und jähe Hoffnung. Er war ihr wichtig! »Ich wünschte, es wäre anders gelaufen, wirklich. Aber ich hab’s nicht hinbekommen, ich war sprachlos. Erst mal.«

Ein feines Schnauben am anderen Ende. »Es tut mir leid, dass du nicht das Kind deiner Eltern bist. Dass sie dich belogen haben, ist schrecklich. Dennoch habe ich wieder einmal das Gefühl gehabt, dass wir auf verschiedenen Planeten leben, jeder für sich. Jeder mit anderen Ansprüchen an eine Beziehung. Das ist ein ziemlich unüberwindbares Hindernis, oder nicht?«

Jan legte die Stirn an die eisige Scheibe und sah zu seinem Sohn, der dabei war, einen kleinen Schneeball zusammenzurollen. »Das finde ich nicht, solange man …« Solange man darüber sprach. »Gesa, ich will das besser machen in Zukunft, ich will dich nicht ausschließen, du bist der wichtigste Mensch für mich.«

»Ach, Jan. Wie blöd, dass ich es von jemandem anders erfahren habe.«

Connie sah zu ihm herein, sein Rufen drang durch die dünne Fensterscheibe, Jan winkte hinaus, reckte den Daumen, als er den Schneeball sah, den Connie zusammengerollt hatte. »Von wem eigentlich?«

»Das spielt keine Rolle. Und ich muss mich jetzt auf den Verkehr konzentrieren, der Stau löst sich gerade auf. Grüß Connie, und sag ihm, dass es mir gut geht, ja?«

»Mach ich. Es tut mir leid.«

Dann war sie weg.


Connie hatte inzwischen eine stattliche Schneekugel zusammenbekommen und neben die Haustür gerollt. Gemeinsam wälzten sie eine zweite, eine dritte. Sein Körper vollführte die erforderlichen Bewegungen, aber er schien jemand anderem zu gehören. Er selbst war plötzlich nicht recht greifbar, wie aus sich herausgeschnitten, im leeren Raum schwebend. Das Gefühl, nicht zu wissen, wer er war, keinen festen Boden unter sich zu spüren, war stark und unverrückbar, bildete wohl einen Grundton seiner Existenz, von Geburt an.

Muttis Gesicht tauchte vor seinen Augen auf, als er Connie dabei half, den Kopf der Schneemanngestalt, die nun neben der Tür stand wie ein Wächter, mit einem Stück Gardine aus dem Container zu schmücken. Er sah ihre rundlichen Züge vor sich, die hellbraunen, unter dicken Lidern hervorschauenden Augen, die Liebe, die daraus zu ihm sprach. Nein, das war nicht gespielt gewesen, niemals. Und doch waren sie einander viel weniger verbunden, als er immer geglaubt hatte, und sie hatte das vor ihm geheim gehalten. Was für ein Verrat.

Als Connie sein Geplapper unterbrach und ihn fragend ansah, schluckte er den Gedanken runter und konzentrierte sich auf die Schneefrau, die sie zustande gebracht hatten. Er musste lächeln, weil die neben dem langen Haar noch zwei windschiefe Brüste bekommen hatte. Kurz entschlossen brach er zwei dicke Äste von der Hasel und steckte sie ihr als Arme an.

»Den Schlitten magst du wohl nicht, mein Schatz?«, fragte er, als er damit fertig war.

»Der Berg hier ist zu klein, Papa. Kann ich woanders Schlitten fahren?«

»Es wird bald dunkel, und ich muss noch was erledigen, wie du weißt. Außerdem müssen wir noch einkaufen, damit wir Abendbrot haben«, antwortete er, froh über die kleinen Dinge, die ihn rausholen würden aus der Grübelei.

»Du hast versprochen, dass ich Schlitten fahren darf!«

»Das wirst du auch. Morgen.«

Connie trat gegen den Schlitten.

»Hey, lass das, der Schlitten ist alt.« Jan kniete sich vor ihn hin. »Er ist fast so alt wie ich, Connie. Der ist aus Russland. Jemand hat ihn mir mal von dort mitgebracht.«

Connie zuckte die Achseln.

»Jemand, den ich sehr gernhatte. Mein Onkel Horst. Ich habe oft Geschenke von ihm bekommen.«

Sein Sohn stülpte die Lippen vor. »Hat der auch hier gewohnt?«

»Nein, leider nicht.« Und er war tot, lange schon. Was Jan tief getroffen hatte. Es hatte Jahre gedauert, ehe er die Sehnsucht nach Onkel Horst, der ihn so gernhatte, überwand. »Er kam nur zu Besuch.«

Vorsichtig tippte Connie eines der gebogenen Hörner an. »Fahren wir dann morgen zu einem richtigen Berg, wenn ich jetzt mit dir mitkomme?«

Er gab seinem Sohn einen Kuss auf die verschwitzte Stirn. »Aber vorher kommst du mit rein und trinkst was. Und gehst zur Toilette.«

Connie schielte zu dem vor sich hin blätternden Haus.

»Hast du dir eigentlich die Tür schon angesehen?«

Sein Sohn streckte die Arme aus. »Da ist ein Schiff drauf. Kaufen wir Pizza?«

Er nahm den kleinen Racker auf den Arm, lachte über den Kuss, den Connie ihm sogleich auf die Wange schmatzte, um vorauseilende Dankbarkeit zu bekunden. »Nein, mein Schatz. Heute gibt es Käsebrote und was Frisches.«

»Bäh, das muss ich bei Oma auch immer essen.«

Was für ein cleveres Bürschchen, sein Sohn. Den er und Gesa wirklich und wahrhaftig selbst in die Welt gesetzt hatten. Was für ein Glück Connie hatte, diese Gewissheit über sich selbst zu haben.