Sie tritt ans Fenster, dreht die Heizung ab und zieht sich eine zweite Strickjacke über. Das Außenthermometer zeigt minus vier Grad an, es ist sehr kalt für einen Novembertag. Und wenn schon, sie kann sich wärmer anziehen hier oben im Dach der Villa, wo sie ihr Büro eingerichtet hat. Von dem zugeteilten Kohlenvorrat sollen die hallenartigen Räume der zwei Geschosse darunter beheizt werden, bis weit in den März hinein. Woran sie ihre Zweifel hat, aber darüber verbringt sie schlaflose Nächte, wenn es so weit ist. Wenigstens haben sie Zentralheizung. Mit der Unterstützung des Rates des Bezirks hat sie die Umbaumaßnahme durchsetzen können, Hans ist ein guter Bruder. Was sie mehr ärgert als die Eitelkeit, die er seiner Stellung wegen an den Tag legt, sind die Paketspenden, die neuerdings im Heim abgegeben werden, auf den Aufruf irgendeines Pfarrers hin. Sie musste beim Kreisleiter zum Rapport antreten. Lassen wir uns jetzt von den Kirchen unter die Arme greifen, Genossin Biege? Als ob sie darum gebeten hätte! Dass sie die Sachen wegwirft, hat er dann doch nicht von ihr verlangt. Das hätte sie auch nicht getan. Bei dem Mangel, der immer noch herrscht.
Sie wuchtet das Paket auf den Tisch, das gestern eingetrudelt ist. Für gewöhnlich sind Kleidung und Spielzeug darin, Bücher manchmal, und sie schiebt ihre Bedenken so unwirsch beiseite, wie man eine Mücke vertreibt. Weihnachten ist nahe.
Es klopft, die Tür geht einen Spaltbreit auf. »Frau Biege?«
»Was denn?«
»Es geht um Maik Reuter.«
Nicht schon wieder. »Hat es noch ein paar Minuten?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Dann hinein mit ihm in die gute Stube.«
Sie schiebt das Paket beiseite. Geschenksendung, keine Handelsware steht in der Ecke links oben, Absender ist eine Marga Seifert aus Mühlhausen, sie hat einen Blumenstrauß neben ihren Namen gemalt. Liebe Güte!
Der Junge, ein drahtiges Kerlchen, tritt ein, tänzelnd, voll angestauter Energie und immer bereit zur Flucht, zu Hause hat er das lernen müssen. Sein Blick lauert zwischen wulstig geschwollenen Lidern, er hat oft Bindehautentzündung wegen seines Schnupfens.
»Maik?« Sie weist auf den Stuhl gegenüber.
»Hab Manfred in die Fresse gekloppt«, sagt er, ehe sie fragen kann. Die Tür ist längst geschlossen worden, von außen.
»Noch einmal so, dass es nicht in den Ohren wehtut. Bitte.«
»Ich habe Manfred ins Gesicht geschlagen.«
»Warum?« Eigentlich weiß sie es. Manfred bekommt Päckchen mit Bonbons und Socken von seiner Oma und lässt es alle wissen. Schwer, darüber nicht wütend zu sein.
Maik zuckt die Achseln.
»Wie schlimm ist es?«
»Der muss zum Arzt. Lippe aufgeplatzt.«
»Maik!« Sie steht auf, läuft vorm Fenster auf und ab und wägt ein paar Sätze in ihrem Kopf. Wie oft hast du schon hier drin gesessen? Sinnlos. In sechs Wochen ist Weihnachten, und du möchtest doch … Nein, niemals. »Was du nicht willst …« Sie pfeift sich zurück. Maik kann man nicht kommen mit: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu . Bei allem, was er eingesteckt hat, Schläge ins Gesicht und auf die Nase, zum Beispiel. »Pass auf«, sagt sie leise.
Er hebt eine Braue.
»Wir alle müssen uns an Regeln halten. Gesetze. Das muss so sein, sonst geht alles durcheinander, kein Staat der Welt könnte das dulden.«
Er beißt sich auf die Lippen.
Gut, dann anders. »Kannst du dir vorstellen, was hier sonntags beim Mittagessen, wenn es Nachtisch gibt, ohne unsere Regeln los wäre?«
Maik grinst.
»Was sollte ich dann tun? Alle verhauen? Den Nachtisch abschaffen?«
Er schnalzt mit der Zunge.
»Maik. Du willst doch in vier bis fünf Jahren über dein Leben selbst bestimmen.«
Er nickt, knapp, aber deutlich.
»Das klappt nur, wenn du da draußen in der Welt, im Arbeitsleben, mit den anderen klarkommst. Willst du das?«
Maik zieht die Nase hoch, die rötliche Narbe rechts daneben vertieft sich, sehr nachlässig genäht ist die, sie hätte den Chirurgen am liebsten angezeigt dafür.
»Schon.«
»Und genau so wird das nichts, da gebe ich dir Brief und Siegel.«
Er gräbt das Gesicht in die Fäuste.
»Wollen genügt nämlich nicht, Maik. Du musst es tun, das ist alles, was zählt. Dein Tun. Sonst bist du niemals frei. Es hat keinen Sinn, dir was anderes zu erzählen.«
Maiks Blick huscht hin und her.
»Was hatten wir vereinbart, hm?«
»Dass ich zu Ihnen komme, wenn ich kurz davor bin, zu explodieren, und wir überlegen uns was.«
Dumm, dass sie keine Turnhalle haben, wo er sich austoben kann, verfluchter Mist. »Es tut mir leid, Maik, aber wenn dir nicht mal das gelingt, dann … tja, weiß ich auch nicht, wie es weitergeht.« Doch, das weiß sie. Es gibt die Werkhöfe, für die er gottlob zu jung ist, noch ein Jahr lang. Und sie will den Kampf gegen die drohende Einweisung gewinnen, das will sie wirklich.
Maik hockt da wie ein Häuflein Lumpen und hämmert die Fußballen im Stakkato auf die Dielen. Sie sollte die Hand ausstrecken und auf seine Schultern legen. Ob ihn je ein Mensch umarmt hat? Ehe sie es tun kann, klopft es.
Maik hebt den Kopf, seine Augen sind rot und geschwollen. »Soll ich gehen?«
Es klopft erneut, hinter der Tür greint ein Kind, es muss recht klein sein.
»Moment«, ruft sie, dann sagt sie, an Maik gewandt: »Du wartest hier, bis du dich gefasst hast, erst dann gehst du zurück zu den anderen.« Sie reicht ihm ein Taschentuch. Zieht das Paket heran und öffnet es. Über den Rand des Taschentuchs schielt Maik zu ihr herüber.
Obenauf in dem Paket liegen Pullover. Sie hebt einen heraus. Murmelt wie zu sich selbst. »Wem könnte der passen? Keine Ahnung.« Sie legt ihn achselzuckend zurück.
»Fritz«, sagt Maik.
Sie nimmt eine blaue Hose.
»Heiner.«
Eine Puppe ohne Kleider, mit langen blonden Zöpfen.
»Maritta? Ihre ist doch kaputt.«
Sie nickt. Es klopft wieder. »Noch einen Augenblick Geduld bitte!«
Sie fördert einen abgewetzten Fußball zutage, Maik schnellt aus dem Stuhl. Aha. Sie hält den Ball hoch, betrachtet ihn von allen Seiten. »Für wen könnte der sein?«
»Weiß nich’«, quetscht Maik zwischen den Zähnen raus.
»Na dann.« Sie legt ihn zurück in den Karton zu den anderen Sachen, während Maiks Hals lang und länger wird.
Die Tür geht jetzt auf, jemand tritt ein, ohrenbetäubendes Brüllen füllt die kleine Stube. Sie klappt den Karton zu und windet das Schnürband darum. Kein bisschen kaputt waren die Sachen, und unangenehm gerochen haben sie auch nicht, im Gegenteil. Sie wird dieser Frau danken, das gehört sich einfach.
»Margit?«
Ihr Puls schießt in die Höhe, ihr Herz jubelt. »Horst! Wie lange ist das her!« Sie will hinstürzen und ihn umarmen, aber Maik sitzt im Weg, nur gut. Das muss er nicht sehen.
Das Baby auf Horsts Arm schreit entsetzlich. Es ist sauber und warm angezogen.
Horst wendet sich an Maik. »Könntest du ihn kurz halten?« Der nickt, steht auf und hebt das Kind, das ein knallrotes Gesichtchen hat, behutsam aus Horsts Armen. In einer glatten, eleganten Bewegung legt er es der Länge nach auf seinen Unterarm, den anderen windet er um den kleinen Körper und wiegt sich in den Knien, anmutig, federleicht, wie ein Tänzer. Margit schießt das Blut in den Kopf vor Wut. Das ist es, was dieser Mensch hätte sein können, ein Tänzer. Was für eine Verschwendung.
Horst drückt ihre beiden Hände, sie weiß kaum, wohin mit sich vor Freude. Seit er geheiratet hat und Vater ist, sehen sie sich nur noch selten, weil er so beschäftigt ist. »Du hier? Einfach so?«
»Ich brauche deine Hilfe.« Er deutet auf das Kind.
»Oh, das tut mir leid. Wir sind voll.«
Über sein Gesicht zieht ein Sturm der Verzweiflung. Deins? , formen ihre Lippen, was überflüssig ist, die Antwort steht in seinen Augen.
»Und Karin?«, flüstert sie. Seine Frau und Mutter von zwei blassen, nörgeligen Mädchen, die Horst nicht die Spur ähnlich sehen und ständig im Kinderzimmer über ihren schönen Spielsachen hocken.
Er schüttelt den Kopf.
Wie das wohl gekommen ist, dass er sich anderweitig verliebt hat? Nun, wie wohl, wenn man bedenkt, was Karin für ein Mensch ist. Herrschsüchtig und bevormundend, ohne eine Spur der Bewunderung, die Horst verdient.
Das Baby ist still geworden, es gluckst und lacht aus dem nassen Gesichtchen. Ein ganz anderer Maik steht da am Fenster und zeigt auf die Flocken, die weiß und schwer zur Erde fallen. Und wie der kräftige Kopf des Babys dem von Horst ähnelt!
Horst nimmt ihm das Kind ab und dankt ihm herzlich. Margit geht eilig zum Karton und nimmt den Fußball heraus. »Ich glaube, ich lege den hier fürs Erste beiseite, und dann sehen wir weiter, Maik. Du kannst nun gehen.«
Maik schreitet aus dem Zimmer. Sie möchte eine Taste in ihm drücken, damit er bleibt, wie er gerade ist. Aber da kann man nur hoffen, und in Maiks Fall vielleicht nicht einmal das.
Horst tupft dem Baby mit dem Pulloverärmel übers Gesicht. Die beiden sehen sie nun an, die Gesichter dicht beieinander, ihr Herz bleibt für einen Moment stehen, dann hüpft es auf und ab vor Überraschung. Es ist ein Junge, ihr Horst hat sich selbst auf dem Arm! Und genauso dünn und schmal ist der Kleine wie Horst früher. Aber damals war Krieg.
Sie streicht dem Kleinen über den Schopf, auf dem dünner weißer Flaum liegt. Seine Fingerchen sind rund und kräftig. Er ist mucksmäuschenstill und sieht zu, wie sie seine Hände streichelt, die blauen Augen weit offen. Ein Blick voll Vorsicht und Misstrauen, wie weh ihr das tut. »Wo war er bislang?«
»In einer Wochenkrippe. Aber … das ging nicht mehr.« Horsts Stimme wackelt. »Ich konnte nur ein-, zweimal die Woche hin. Verstehst du?«
Oh, wie lieb er seinen Jungen hat, und das ist ja auch kein Wunder, er ist herzallerliebst, sie kann gar nicht aufhören, ihn anzusehen.
»Er verweigert das Essen, dreht sich auf die Seite und starrt stundenlang die Wand an.«
»Sie brauchen Liebe, nichts als Liebe.« Horst drückt die Lippen auf die kleine Wange, so innig, so hingegeben! »Und seine Mutter?«, fragt sie mit erstickter Stimme.
»Ist in den Westen rüber.«
Wie kann sie nur, was ist das für eine Frau! Sie selbst würde alles, alles geben für so einen lieben Kleinen. »Wo hast du die bloß kennengelernt, und wie hat sie es geschafft, dich so über ihren Charakter zu täuschen?«
Einen Wimpernschlag lang huscht etwas Dunkles über sein Gesicht, das sie noch nie gesehen hat, es macht ihr Angst.
»Nun, das spielt ja auch keine Rolle«, beeilt Margit sich zu sagen. »Er bleibt hier bei mir, wenn du das möchtest, ich lasse mir was einfallen. Das ist ja klar. Wie heißt er denn?«
»Jan Cornelius.«
»Gut«, sagt sie. »Jan. Jan ist genau richtig.« Ein kurzer, starker Name. Ein Mann aus dem Norden, ein Meeresbezwinger, wie gut er damit zu seinem Vater passt. Sie streckt die Hände aus, nimmt den Kleinen auf den Arm. Seine Wärme, sein Leben, sein ganzes Sein, dringt durch die Schichten ihrer Haut. Alles ändert sich, alles, auf einen Schlag ist sie eine andere. Eine, die das erleben darf, dieses Kind von Horst hier bei sich und lieb zu haben!
»Ich will nicht, dass er in einem Heim aufwächst.«
»Oh.«
Horst legt ihr eine Hand an die Wange. »Könntest du dir vorstellen, ihn zu adoptieren?«
»Ha«, kommt aus ihrem Mund, es hüpft einfach raus. Der Kleine erschreckt sich und heult auf, sie flüstert ihm ins Ohr. Goldschöpfchen, Blondköpfchen, mein Engel. Sie gurrt wie eine selige alte Taube. Lieber Himmel.
»Margit? Was sagst du?«
»Ja«, heult sie. »Aber ja.«
Horst legt die Arme um sie beide, sie ist so leicht, dass sie glatt davonflöge, stünde er nicht hier und hielte sie umschlungen. Der große schöne Horst. Ein Grafensohn. Was Besonderes ist er, immer gewesen. Und sein Kleiner genauso.
»Da ist noch etwas … Könntet ihr euch vorstellen, umzuziehen? Wegen Karin, verstehst du? Sie sollte ihn nicht aus Versehen bei euch, du weißt schon … Ich kann das recht schnell arrangieren. Ehe die Adoption offiziell ist, würde es allerdings noch bis zum nächsten Sommer dauern, es gibt ein paar rechtliche Hürden, die wir noch überspringen müssen.«
Sie nickt. Oh, sie wird nicht mehr allein sein, sie wird eine Mutter sein! Ein Kind lieben! »Alles, was du willst.«
»Hans wechselt ja in den Bezirk Rostock.«
»Ich weiß.«
»Wäre Rügen was für euch?«
Margit überlegt nicht lange. Berlin ist groß und laut, keine schöne Umgebung für ein Kind. Aber die See, ihre liebe Ostsee, mit ihrer gesunden Luft, das ist ein Ort zum Großwerden. »Natürlich. Ja! Könnten die Eltern mitkommen?«
»Freilich, wir warten nur noch ab, was Ronald dazu sagt«, bestimmt Horst und löst die Arme von ihr.
»Ja, er wird Ja sagen.«
»Sicher?«
»Und ob«, sagt sie, und damit ist es entschieden.