Am Ende eines gekachelten Raumes steht eine Glaskiste auf einem Metallständer, der Hügel darin bewegt sich sacht. Ein hoher, ziepender Ton dringt heraus. Seine Beine sind schwer, trotzdem geht er los, will nachsehen, was in der Kiste ist. Der Abstand zwischen ihm und dem Gestell wird größer, je länger er läuft. Er ballt die Fäuste, schreitet kräftiger aus, ist schweißgebadet. Das Bettchen kommt ein Stück näher. Er weiß auf einmal, dass es ein Bettchen ist, in dem ein Kind liegt, das erbärmlich weint. Das Kind ist er. Klänge fliegen heran, eine kleine Melodie, und er weiß, dass er die Stimme kennt. Spürt eine Hand auf dem Kopf, ein Streicheln, und wie sich die Qual des Alleinseins auflöst. Er wird still, fühlt sich getröstet. Plötzlich hallen Schritte durch einen langen Flur, Stimmen tönen. Was macht sie dort, das darf sie nicht, holt die Frau da weg …
Jan schnellte aus dem Schlaf, als hätte ihn jemand mit einem Tritt herausbefördert. Saß aufrecht da und fühlte eine tiefe innere Not. Mehrmals strich er über seine Brust, wollte das Gefühl wegwischen, das nicht da war und doch da, wie ein Schatten. Das er einmal gehabt haben musste, es war so … vertraut. Er lauschte den Tönen hinterher, die er im Traum vernommen hatte. Ein Gefühl von Frieden stellte sich ein, von Erlösung, aber keine Idee davon, wie die Melodie genau ging. Ähnlich der, die er Connie manchmal vorsang? Er schlug die Decke zurück, die schweißnass war und schwer.
War das der Traum, an den er sich nie erinnern konnte?
Er hatte in einer Glaskiste gelegen. Und jemand hatte gesungen. Jemand war gekommen, obwohl er nicht durfte. Jemand, der genauso eingesperrt war wie das Kind in dem Bettchen. Oda.
Sie war also Musikerin, seine … Sie war Musikerin. Das passte zu dem Gesang, der Stimme, ihrem ganzen Auftreten. Und es war keine Entschuldigung, für gar nichts.
»Papa?«
»Morgen, mein Schatz.« Mit zusammengebissenen Zähnen stand er auf. Die Nacht auf der Isomatte hatte sich grausam an seinem Rücken gerächt. »Wie sieht’s aus, hast du Hunger?«
»Ja!« In Windeseile stapelte sein Sohn alle Kissen, auf deren Mitnahme er gestern Abend bestanden hatte, weil das so schön gemütlich ist , übereinander, sodass er über den Rand des Reisebetts ins Zimmer klettern konnte. Dann lief er zum Fenster und klopfte gegen die Scheibe. »Hallo, Schneemänner, hallo, Schneeengel! Die sind alle noch da, Papa, guck mal!«
Eine blasse Sonne verbreitete steifes rosa Licht im Vorgarten. Er setzte einen Kuss auf das schlafwarme Haar seines Sohns. »Wie schön, mein Schatz.«
»Schlafen wir heute Abend wieder hier, Papa? Ich will noch hierbleiben und Schlitten fahren!«
»Wir machen uns einen schönen Tag, einverstanden? Nach dem Frühstück geht es los, aber vorher gehst du ins Bad.«
Sein Sohn stieß ein Stöhnen aus und stampfte die Treppe hinauf, juchzte vor Freunde über den Lärm seiner Füße, der durch die leeren Räume hallte wie Paukenschläge.
Während Connie in der Küche eine Schale Zimtcornflakes löffelte, nahm Jan sein Telefon zur Hand, um den Ton wieder einzuschalten, den er gestern Abend gleich nach ihrem Weggang heruntergeregelt hatte. Er fühlte einen kleinen, verräterischen Stich, als er nur einen verpassten Anruf auf dem Display sah. Von Heike.
»Entschuldige die frühe Störung«, hatte sie auf seine Mailbox gesprochen. Er sah auf seine Uhr, es war kurz vor acht. »Ich rufe aus dem Krankenhaus an, Ronald hatte einen zweiten Infarkt. Möchtest du herkommen?«
Er lief in den Flur. Brauchte einen Moment, die Nachricht einzuordnen. Ein sehr alter Mann mit Lungenentzündung, sein zweiter Infarkt, das hieß, er durfte keine Zeit verlieren.
»Ja, natürlich komme ich«, sagte er, kaum, dass sie ans Telefon gegangen war. Schweres Stöhnen im Hintergrund. Geflüster, die Stimme einer Krankenschwester, die jemanden zum Aufsetzen aufforderte. »Ich habe allerdings meinen Sohn bei mir.«
»Kein Problem. Ich habe noch zwei andere Patienten aus meiner Praxis hier auf Station. Die könnte ich besuchen, bis du eintriffst, dann passe ich auf ihn auf. Cornelius, richtig?«
»Richtig.«
»Pass auf, du wirst ein paar Entscheidungen zu treffen haben, das kann dauern. Ich würde Cornelius deshalb mit in die Praxis nehmen. Manuel gibt heute nur vier Stunden und könnte ihn später dort abholen. Die Zwillinge sind Mittagskinder und ab zwölf daheim. Sie würden sich freuen, ihn kennenzulernen.«
»Ich hatte ihm versprochen, Schlitten zu fahren«, hörte er sich sagen, während das Wort Entscheidungen in seinem Kopf nachhallte.
»Fürs Schlittenfahren sind sie genau die Richtigen.«
»Das ist klasse, ich danke euch.«
»Dazu ist Familie da.«
Er schluckte. »Ich bin allerdings nicht sicher, ob Ronald wollen würde, dass ich für ihn entscheide, wir hatten eine, nun ja, Meinungsverschiedenheit, in einer ziemlich wichtigen Angelegenheit und sind nicht im Guten auseinandergegangen.« Er berichtete, was er über sich erfahren hatte, sprach schnell und kühl.
»Oh, Jan, davon wusste ich nichts! Bist du einigermaßen okay, geht es dir gut?«
»Ich glaube schon.« Und das stimmte wirklich, er war okay, anders als gestern noch. Was er über seine Herkunft wusste, war schmerzhaft, aber es lag klar und deutlich vor ihm.
»Nun, rechtlich ändert sich dadurch nichts, du bist auch als Adoptivkind in der Verantwortung. Und Ronalds Reaktion auf dein Kommen musst du einfach abwarten. Aber ich denke, er würde sich nicht mehr mit dir streiten.«
»Das klingt nicht gut. Wie steht es denn um ihn?«
Sie stieß einen kleinen Schwall Luft aus. »Komm her, Jan. Schnell.«
»Ich habe ihn gestern zu sehr aufgeregt, schon zum zweiten Mal«, begann er, kaum, dass Heike ihn und Connie umarmt hatte. Sein Sohn hatte keinerlei Zurückhaltung gezeigt, jetzt saß er im Wartebereich des Krankenhausfoyers an einem kleinen Tisch und malte vorgedruckte Blätter mit Comicfiguren aus, Heike und er standen etwas abseits vor einem Getränkeautomaten. »Seit ich weiß, dass sie nicht meine Eltern sind, will ich wissen, warum sie es mir verschwiegen haben, und war deshalb bei meinem letzten Besuch Ronald gegenüber ziemlich aufgebracht.«
»Absolut verständlich.«
»Ich habe nicht aus ihm rausgekriegt, warum sie das partout so wollte und er dichtgehalten hat.«
»Ganz einfach, Tante Margit hätte ihn anderenfalls rausgeworfen.«
»Mag sein. Aber es muss einen Grund geben, verstehst du? Mutti … sie war ein guter Mensch, sie hat nie gelogen. Sie verabscheute das.«
»Ach, Jan. Du hast jedes Recht, wütend zu sein.«
Er zerrte am Reißverschluss seiner Jacke, ihm war heiß vor Anspannung. »Wie auch immer. Ich gehe jetzt zu ihm, meine Sorgen können warten.«
Heike drückte seinen Arm. Blickte dann, die Augenbrauen dicht beieinander, zu Connie herüber, der versunken vor sich hin murmelte. »Hör zu, Jan. Die Pneumonie verläuft schwer, der zweite Infarkt hat einen sehr schwachen Mann ereilt. Bislang ist er nicht ansprechbar, aber vielleicht hast du Glück.«
Ihre große, warme Hand lag auf seinem Arm. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er meinen, es sei Muttis. Wie tief sich eine kleine Berührung doch einprägen konnte.
»Du darfst bleiben, solange du willst. Wahrscheinlich haben sie ihn schon von der Intensiv in ein ruhiges Zimmer verlegt.«
»So ernst also?«, fragte er rau.
»Ja. Es gibt keine Patientenverfügung, wie ich höre.«
»Rätst du mir irgendwas?«
»Nichts pauschal, sie werden dir immer ganz konkrete Fragen stellen, was getan werden darf. Lass deinen Bauch entscheiden. Auch, wenn du Zeit zum Durchatmen brauchst.«
Ronalds Bett stand in einem Zimmer auf der Inneren Station, klein wie eine Kammer. Es gab nicht mal ein Waschbecken darin, dafür hellblaue Wände, schneeweiße lange Vorhänge und Blumenbilder. Ein stummer, falscher Frieden herrschte hier, während es draußen auf dem langen Gang brummte vor Geschäftigkeit und Anspannung. Die Grippewelle, wir laufen gerade voll , hatte eine Schwester mit übernächtigtem Gesicht im Vorbeigehen gesagt.
Er trat näher. »Hallo?«
Eine leise Bewegung unter der ihm zugewandten Seite der dünnen Decke, ein Wimmern, als würde Ronald an dem Versuch einer Begrüßung schmerzvoll scheitern. Dagegen bekam er doch sicher etwas? Jan las die Namen auf den Infusionsflaschen, konnte aber nichts damit anfangen. »Grüß dich, Ronald.«
In Ronalds Nase steckte ein Sauerstoffschlauch, die Haut darunter war wund gescheuert. Jan beugte sich herunter, nahm seinen Brustkorb fest in den Blick. Doch, der bewegte sich.
»Ronald?«, fragte er lauter.
Nichts.
Er schluckte seinen Widerwillen runter. »Vater?«
Der Versuch, den Kopf zu heben. Ein Röhren wie von einem Tier, aus den Tiefen einer Höhle.
»Ich bin’s, Jan.«
Ronald drehte ihm unendlich langsam das Gesicht zu.
»Was machst du denn für Sachen?«
Da, er bewegte die Lippen, schlug mit den Lidern. »Jan.« Hustete flach, kraftlos. »Schön, dich …« Hustete erneut.
Sein Blick flog zum Fenster, es war gekippt, kühl war es im Raum. Jan schloss es.
»Geht mir nicht so.« Ronald lächelte schwach.
»Ich drücke fest die Daumen, dass es besser wird. Versprichst du, dass du mitmachst? Ich habe mich um Muttis Beerdigung gekümmert, die könnte in zwei bis drei Tagen stattfinden. Oder wann immer es dir gut genug geht. Du willst doch hin, nicht wahr?«
Ein Bruchstück von irgendeinem Wort kam aus Ronalds Mund.
»Mutti würde sich freuen.«
Ronalds Hände, mager wie Vogelkrallen, zupften an der Bettdecke.
Jan half ihm, sie bis hoch unters Kinn zu ziehen. »Willst du eine zweite Decke? Ich kann draußen danach fragen. Frechheit, dich mit so einem dünnen Ding zuzudecken, es ist schließlich nicht Sommer.«
»Nein.« Ein Blick, bittend, durchdringend.
»Stell dir vor, ich habe Gerbera bestellt, sie hoffen, dass sie orangefarbene bekommen.« Sie meinen apricotfarbene , hatte der Blumenhändler spitz angemerkt und er das Wort orange wiederholt. Für sie waren sie orange gewesen, Punktum.
»Und Nelken … rot.« Natürlich. Rote Nelken. Ist notiert.
Wieder der Blick, stechend, voll stummer Qual. »Für mich keine Blumen.«
Jan stand da, kraftlos, die Knie gebeugt.
»Und keine Feier.«
Verflixt, es gab nicht mal einen Stuhl. »Ich könnte das nächste Mal, wenn ich komme, meinen Sohn mitbringen, wäre das was?«
Der Ansatz eines Lächelns. Dazu eine Hand, die sich ihm entgegenschob.
»Na siehst du.« Jan drückte sie, ohne jede Erinnerung an eine Geste dieser Art. Hatten sie sich je berührt? »Es soll eine kleine Ansprache geben«, fuhr Jan fort. »Ich muss dem Grabredner noch Muttis Lebenslauf schicken, aber ich weiß nicht so viel über sie wie du. Würdest du mir ein bisschen helfen?«
»Hm.«
»Dann gehe ich mal einen Stuhl suchen.«
Im Flur stand ein Hocker, den nahm er sich. Als er zurück war, hatte Ronald sich auf einen Ellbogen gestemmt, sein Gesicht war rot vor Anstrengung.
»Ronald, nicht. Bleib schön liegen, ja?«
Ronalds Lippen bebten. »Sie war …«
»Immer langsam, ich hab Zeit.«
Er half ihm zurück aufs Kissen. Einem Knochengerippe mit einem Hauch von Leben darin.
»Sie war gut.«
»Ja, das war sie. Ich schreibe das auf.« Er schnappte sich eine Pappschachtel, die auf den Boden gefallen war, riss sie auseinander und knotete den Stift los, der an Ronalds Patientenakte klemmte. »Fangen wir ganz vorn an. Muttis Geburtsdatum kenne ich. Ihr seid beide in Königsberg geboren, stimmt’s?«
»Schönste Stadt der Welt.« Etwas, das an ein Lachen erinnerte, fiel aus Ronalds Mund. »Bin nicht viel rumgekommen und sag so was. Hätte auch gern mal Paris angeguckt. Oder Venedig. Mit Mutti.«
Jedes Wort schien ihn unsagbar anzustrengen.
»Ihr seid geflohen, nicht wahr?« Noch nie hatten sie sich darüber unterhalten, fiel ihm auf. Und noch nie hatte er Ronald danach gefragt. Wie schade.
»Auf’m Schiff. War schlimm.«
Einem Schiff. Wie grauenvoll! »Und danach?«
»Berlin. Wie kaputt das war. Aber viele junge Menschen. Ging alles vorwärts damals.« Ronald sog Luft ein, die weit oben gurgelnd in seinem Brustkorb stecken blieb.
»Ihr habt die Trümmer aufgeräumt und die DDR aufgebaut, das schreibe ich auf. Und immer viel gearbeitet, du auf dem Bau und sie als Erzieherin.«
»Im November einundsiebzig kamst du, das hat sie gefreut.«
Jan löste die Kugelschreibermine vom Blatt, die dort ein Loch hineingestanzt hatte. »Wie ist es dazu gekommen, sagst du mir das?«
»Mutti hat dich von der Arbeit mitgebracht.«
Etwas in ihm riss auf. »Von der Arbeit? Ich war in einem Kinderheim?«
»Ganz kurz.«
Sie hatte ihn sofort mit nach Hause genommen! Wärme strömte durch seinen Bauch, ein Gefühl großer Erleichterung. »Und sie konnte mich einfach so haben?«
»Hm.«
Er nahm seinen Mut zusammen. »Warum hat Mutti entschieden, dass ihr es mir nicht sagt?«
Schweigen.
»Ronald?«
Ein leises Wimmern.
Er stand auf, durchmaß mit drei Schritten das enge Zimmer. »Ich will doch nicht zu irgendeinem Amt gehen müssen, um etwas über mich zu erfahren. Verstehst du das nicht?« Er nahm eines der Papierhandtücher von einem Stapel auf dem Fensterbrett, betupfte Ronalds nasse Wange. »Ihr seid doch trotzdem meine Eltern.«
»Nicht böse sein.« Ronald hustete. »Bitte.«
»Ich will ihr ja verzeihen, das will ich wirklich. Aber wie soll das gehen? Wie soll ich das schaffen, wenn ich nicht weiß, warum?«
Ronalds Brust hob sich, sackte ab.
Er durfte ihn nicht aufregen, wollte es auch nicht. Aber er musste weiterleben. »Musstest du ihr versprechen, dass du es mir nicht sagst?«
Wieder die Bewegung des Brustkorbs.
»Geht es dir gut? Soll ich jemanden holen?«
»Nein.«
»Du bist nicht mehr daran gebunden, sie ist tot, Ronald. Vati. Sie …«
Sein Brustkorb wölbte sich, wie nach oben getrieben.
»Ronald?« Mit der freien Hand tastete Jan nach der Klingel, ließ den roten Knopf erst los, als sein Daumen wehtat. »Keine Angst, hörst du? Es kommt gleich jemand.«
Ronald ruderte mit einem Arm. »Das Geld, Junge … hab alles ausgegeben. Für … für Wetten, tut mir …« Er sog Luft ein wie durch Wasser, ein grässliches Geräusch. Himmel, wo blieben die!
In der Tür stieß er mit der Schwester zusammen.
»Ich … er kriegt keine Luft!«
Die Schwester beugte sich über Ronald, rannte Sekunden später in den Flur, brüllte nach dem Arzt. Schob dann blitzschnell einen Arm unter Ronalds Brustkorb, richtete ihn mühelos auf.
Jan stand im Weg, hilflos, voller Schuldgefühle.
Bis jemand etwas sagte. »Schon gut, Herr Biege.«
Eine Ärztin mit grauweißem Bürstenhaarschnitt. Die Schwester hielt ihr Ronalds Arm entgegen, während sie das Bündel Mensch stützte, das Ronald war. Die Ärztin führte eine Spritze in den Zugang auf seinem Handgelenk und drückte ihren Inhalt hinein. Sekunden später entfuhr ihm ein Seufzen.
»Gut so«, sagte die Ärztin.
Die Schwester legte ihn behutsam ab. »Inhalieren, absaugen?«
»Sofort bitte«, antwortete die Ärztin. Im Gehen wandte sie sich an ihn. »Er hat zu viel Schleim in der Brust, der die Atmung erschwert, darum kümmern wir uns. Und Sie gehen erst mal wieder, ja?«
Er war gemeint.
»Herr Biege?«
»Was geschieht hier gerade? Wird er jetzt …?« Der Rest des Satzes blieb als dicker Knoten in seinem Hals stecken.
»Er bekommt, was er braucht. Wir informieren Sie, wenn sich etwas ändert.«
Jan stürzte aus dem Zimmer, mit einem einzigen Gedanken. Scheiß aufs Geld, Ronald. Scheiß doch da drauf.
Im Flur der zweiten Etage des Bürogebäudes aus den Achtzigern, in dem das Jugendamt untergebracht war, kam ihm keine zwei Stunden später eine rundliche kleine Frau in einem braunen Hosenanzug entgegen, die mindestens so lange Dienst zu tun schien wie das Gebäude. Bei jedem Schritt hüpften ihre steifen grauen Locken wie kleine Antennen, in der Hand trug sie eine Kaffeekanne. »Herr Biege?«
Er bejahte.
»Ich bin Frau Willmer. Freut mich.«
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie eben überfallen habe«, sagte er mit einem Gefühl von Bangigkeit.
Nachdem er in den blendend weißen Krankenhausgarten hinausgetreten war, hatte sich augenblicklich ein weiterer Gedanke eingestellt. Er war ihm auf der Stelle gefolgt, ängstlich, aber ohne den leisesten Zweifel. Erst, wenn alle Fakten auf dem Tisch lagen, würde er mit seiner Geschichte irgendwann klarkommen können.
Sie öffnete die letzte der Türen auf dem langen Flur. »Dafür bin ich da, und meine Mittagspause beginnt erst in einer Dreiviertelstunde.«
Er ließ sich in einem der breiten schwarzen Ledersessel vor ihrem Schreibtisch nieder, der bis unters Fenster reichte. Darauf standen zwei rote Kaffeebecher, an seinem Ende ein riesiger Blumenstrauß. Er zeigte darauf. »Offenbar kommt Ihre Arbeit gut an.«
Frau Willmer goss sehr dunklen Kaffee in die Becher. »Den Strauß schenke ich mir selbst, und zwar jede Woche einen frischen. Er erinnert mich, dass es auch Schönes gibt auf der Welt, daraus schöpfe ich Kraft.«
Er zweifelte keine Sekunde, dass es nötig war.
Sie reichte ihm einen der Becher. »Wir haben außerdem eine neue Kaffeemaschine auf der Etage, die habe ich vorhin für uns angeschmissen. Wohl bekomm’s.«
Sein Herz schlug auch ohne Kaffee gegen die Rippen, als hätte er sich einen Berg hinaufgeschleppt und nicht vierzig Treppenstufen, aber er führte den Becher an die Lippen, froh, die Hände beschäftigen zu können. Während sie tranken, erzählte Frau Willmer, dass ihre Katze Pauline am Abend nicht nach Hause gekommen war und mitten in der Nacht schreiend unter ihrem Fenster gehockt hatte. »Deshalb gucke ich heute ein bisschen müde aus den Augen.« Sie griff hinter sich und nahm eine dünne Mappe von einem Stapel. »Das hier habe ich schon mal für Sie ausgedruckt. Es ist Ihre Adoptionsvermittlungsakte. Es gibt noch eine weitere, eine Jugendhilfeakte, die bekomme ich morgen.«
»Sie haben die so schnell gefunden?«
»Die zuständige Kollegin im Archiv der zentralen Adoptionsstelle in Berlin ist eine gute Bekannte und sehr engagiert, ihr Archiv ist erstklassig sortiert. Es ist ein Glücksfall, dass Ihre Akte noch da ist und dass die Kollegin einen nagelneuen Scanner im Büro stehen hat. War wohl nicht leicht, ihn bewilligt zu bekommen.« Mit einer beiläufigen Bewegung stupste sie eine Packung Taschentücher in seine Nähe. »Wir können das Gespräch jederzeit unterbrechen, wenn Sie eine Pause brauchen. Sagen Sie einfach Bescheid.«
Er nahm einen sehr tiefen Atemzug. »Danke. Fangen Sie bitte an.«
»Gut. Dann zunächst zu dem, was mir sofort aufgefallen ist.« Sie schlug die Mappe auf.
»Dass es eine dünne Akte ist?«
»Was leider bei vielen Adoptionsvermittlungsakten aus der DDR der Fall ist. Haben Sie also keine allzu großen Erwartungen im Hinblick auf die Antworten, nach denen Sie suchen.«
»Warum ist sie denn so dünn?«
Sie sah ihn mitfühlend an. »Das Führen dieser Akten unterlag zu DDR-Zeiten keiner Systematik. Die Vermittlungsstelle konnte das also nach eigenem Ermessen tun, das heißt, sie konnte entscheiden, welche Informationen aktenrelevant waren und demnach festgehalten werden mussten, und welche nicht.«
»Das bedeutet, dass Informationen fehlen?«
»Davon ist leider auszugehen.«
Jan nickte langsam. »Was haben wir dann?«
Sie heftete ein graugrünes Blatt in DIN-A5-Größe aus und legte es vor ihn hin. Darauf stand links oben ein Berliner Absender, darunter der Adressat. Rat des Kreises Berlin-Mitte, Abteilung Volksbildung, Referat Jugendhilfe. Der Betreff Antrag auf Annahme an Kindes statt und ein zweizeiliges Gesuch. Wir, das Ehepaar Ronald und Margit Biege, ersuchen das Organ der Jugendhilfe, uns das Kind Jan Cornelius Scheurich, geboren am 24. 05. 1971, an Kindes statt zuzusprechen. Berlin, 16. 11. 1971.
Er war starr, wie in ein Eisbad geworfen. »Das ist alles? Dieser Wisch? Zwei läppische Sätze?«
»Der Antrag erfolgte formlos, insofern ja, diese zwei Sätze waren ausreichend. Erschreckend, ich weiß. Danach fand eine Tauglichkeitsprüfung der Eltern statt, in welchem Umfang, ist allerdings nicht festgehalten.« Sie heftete ein weiteres Blatt aus, hob es in die Luft. »Hier wäre noch der entsprechende Beschluss der Jugendhilfe über Ihre Annahme an Kindes statt vom 25. 11. 1971.«
Er schüttelte den Kopf, mehr ging nicht.
»Herr Biege?«
Er massierte die Stelle unterhalb seines Halses, wo er seine stecken gebliebene Stimme vermutete. »Der ganze Vorgang umfasst nicht mehr als zwei Blätter.«
Sie klappte die Mappe zu, legte beide Hände darauf. »Wir haben damit nur die juristischen Dokumente. Nichts zum Wieso und Warum. Wie so oft.« Sie verschränkte die Finger fest ineinander. »Ich weiß sehr gut, dass das nicht das ist, wonach Menschen wie Sie suchen. Und ich bedaure es zutiefst.«
»Deshalb die Blumen.« Lachsrosa Rosen, Schleierkraut, schneeweiße Lilien. In allerbester Qualität.
»Es geht letzten Endes immer um das Gefühl, nicht gewollt gewesen zu sein, für das man eine Erklärung sucht. Aber wir sind hier auch noch nicht am Ende aller Recherchemöglichkeiten«, erklärte Frau Willmer behutsam.
»Meine Adoptivmutter hat mich offenbar gewollt, und dass ich geliebt wurde, habe ich gespürt. Ich frage mich nur eins. Warum sie mir verschwiegen hat, dass ich adoptiert bin, deshalb bin ich hier. Mein Adoptivvater deutete an, sie habe mich schützen wollen. Wäre gut, zu wissen, wovor.« Vor dieser kleinen Frau? Komischer Gedanke, lachhaft. Aber dennoch.
Frau Willmer hob die Augenbrauen. »Das kann Ihre Adoptivmutter Ihnen nur selbst erklären.«
»Sie ist tot. Und mein Adoptivvater liegt im Sterben.«
»Das tut mir leid.« Sie lehnte sich langsam zurück und hielt einen Moment inne. »Ich will die Aussage Ihres Adoptivvaters nicht bewerten. Aber können Sie sich vorstellen, Ihre biologischen Eltern zu fragen?«
Er schwieg.
»Das wäre sinnvoll, glauben Sie mir.«
Er brachte kein Nicken zustande, nicht mal ein verlogenes.
»Meine Erfahrung sagt mir, dass Betroffene langfristig nur mit ihrer Herkunftsgeschichte Frieden schließen können, wenn alles auf dem Tisch liegt, die Argumente beider Seiten. Ich möchte Ihnen Mut machen, diesen langen Weg zu gehen.«
Diesen langen Weg?
»Hinweise auf die Umstände Ihrer Adoption können sich auch an anderen Stellen finden, was hilfreich ist, wenn die biologischen Eltern keine Auskunft geben können. Oder wollen. Was oft der Fall ist.«
»Warum?«
»Nun ja. Ein solcher Vorgang ist traumatisch, auch für die biologischen Eltern.«
In seinem Kopf nahm das Gesicht der kleinen Person im Schnee Gestalt an, der Blick aus dunklen Augen, der sich an ihm festgesaugt hatte. So voller Wehmut.
»Was die sagen, ist zwar sehr subjektiv, oft getrübt durch Schuldgefühle. Aber Sie brauchen auch und gerade diese Auskünfte.«
Er sah auf seine Hände, verschränkte die nervösen Finger ineinander. »Welche anderen Dokumente, meinten Sie, kann man außerdem heranziehen?«
»Jugendhilfeakten, Schülerakten aus Schulen, Krankenhausakten, Patientenakten. Wenn es sie noch gibt. Daher wäre es ganz in Ihrem Sinne, wenn Sie auch Kontakt …«
»Sie war im Gefängnis. Die Frau, die …« Er griff in seinen Nacken, knetete mit geschlossenen Augen.
»Wissen Sie, warum?«, fragte sie sanft.
»Spielt das eine Rolle?«
»Unter Umständen.«
»Nicht für mich.«
Frau Willmer ging seelenruhig zum Fenster und öffnete es. Als sie wieder saß, kramte sie ein wenig in der Stiftebox auf ihrem Schreibtisch, trank in Ruhe ihren Kaffee aus, stellte die Tasse auf ein Tablett hinter sich. »Wie ist es Ihnen ergangen in Ihrer Pflegefamilie, darf ich das fragen?«
»Sehr gut. Meine Mutter hat mich kolossal verwöhnt.«
Sie öffnete erneut die Akte. Blätterte, strich ein Blatt glatt. »Es gibt noch eine dritte Seite. Eine schriftliche Stellungnahme der Einrichtung, in der Sie vor Ihrer Adoption untergebracht gewesen waren. Auf wessen Betreiben sie eingeholt wurde beziehungsweise wie sie in diese Vermittlungsakte gekommen ist, ist mir allerdings ein Rätsel. Sie gehört eigentlich in eine Jugendhilfeakte.«
»Aha?«
»Wir können das gern aufschieben, wenn Sie nicht sicher sind.«
Er setzte sich zurück in den Stuhl, löste die Füße vom Boden, die sich dort blitzschnell aufgestellt hatten, ein Fluchtinstinkt. »Ich muss das wissen. Was steht da?«
Sie schob die Stirn hoch zum Haaransatz. »Hier ist die Rede von einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt in den ersten sechs Lebenswochen. Da steht der Begriff Mangelgeburt, man hat Sie wahrscheinlich in einen Brutkasten gelegt. Sie waren klein, sechsundvierzig Zentimeter, und wogen nur zweitausendsechshundertfünfzig Gramm.«
Er hörte sich Luft ziehen, wie durch einen Strohhalm. Die Glaskiste. Ein Krankenhaus. Nichts als Maschinen und Einsamkeit. »Weiter«, brachte er heraus.
»Ich zitiere: ›Daher ist wegen einer bedenklichen Entwicklungsverzögerung die unverzügliche Unterbringung in einer Familie statt eines weiteren Aufenthaltes in der Wochenkrippe wünschenswert.‹ Nach dem Krankenhaus müssen Sie also dort untergebracht gewesen sein. Das Schreiben datiert vom 22. November 1971.«
Fast ein halbes Jahr. In einer Wochenkrippe.
»Verwunderlich, diese Stellungnahme, wie gesagt. Normalerweise war es nicht von Interesse, wie es einem Kind in so einer Einrichtung erging. Jemand muss Sie beobachtet und sich für Sie eingesetzt haben.« Frau Willmer beugte sich über den Tisch. »Herr Biege?«
Der Raum um ihn herum begann sich zu drehen, seine Kehle schrumpfte weiter. Gemeinsam mit Gesa hatte er mal eine Fernsehdokumentation über das heutige Leben der Kinder, die dort am Montagmorgen abgegeben und am Freitagabend wieder abgeholt worden waren, gesehen. Kurz vor Connies Geburt, als sie mit der Frage kämpfte, ob sie ihn nach dem Babyjahr stundenweise in eine Krippe geben durfte, um halbtags arbeiten zu können. Er ist noch so bedürftig, Jan, so klein. »Eine Entwicklungsverzögerung. Was heißt das?«
»Hier ist die Rede von zu geringem Wachstum. Verweigerung der Nahrungsaufnahme. Apathie. Mangelndem Interesse an der Umwelt und den Pflegepersonen. Herr Biege?«
»Hm?«
»Sehen Sie mich an. Bitte.«
Er konnte es nicht.
Sie stand auf und kam um den Tisch. »Sie müssen diese Informationen wohl erst einmal sacken lassen. Gehen Sie an die Luft, laufen Sie, bewegen Sie sich. Und schreiben Sie alles auf, was Ihnen in den Sinn kommt. Besonders Ihre Fragen, die können Sie mir mailen. Fürs nächste Mal.« Sie griff hinter
sich in eine kleine Plastikbox und hielt ihm zwei Visitenkarten hin.
Hilfe für Opfer von DDR-Zwangsadoptionen e. V. stand auf der einen. Ökumenische Telefonseelsorge Vorpommern auf der anderen. »Ich bin versorgt, ich habe Familie.«
Sie wies die Hand zurück, die ihr die Karten zurückgeben wollte. »Gut, sehr gut, Sie werden sie brauchen. Trotzdem.«
Er starrte eine der Karten an. »Hilfe für Opfer von DDR-Zwangsadoptionen. Was hat das mit mir zu tun?«
»Oh. Entschuldigen Sie, dass ich mich noch nicht klar genug ausgedrückt habe. Aber wenn Ihre Mutter inhaftiert gewesen war, wie Sie sagen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie ihr gegen ihren Willen entzogen wurden. Zwangsweise, sozusagen. Und es gab nichts, rein gar nichts, das sie dagegen hätte tun können.«
Nicht lang später stand er vor einer Zimmertür im ersten Stock des Bel Air Strandhotel .
Oda staunte ihn mit weit offenen Augen an, die im Schummerlicht des Flurs tiefschwarz waren. Für einen Augenblick war er so nervös, als hätte er an ein Stromkabel gefasst. »Passt es gerade nicht? Sie gucken, als hätte ich beim Mittagsschlaf gestört.«
»Niemals, Jan. Komm rein. Ich schlafe niemals am Mittag, und mit geschlossenem Fenster schon gar nicht.«
Er trat ein, blickte reflexartig zum Fenster, hinter dem sich das Meer in der Sonne rekelte. »Warum öffnen Sie es nicht?«
Sie griff in das lange Haar, das in den Spitzen dunkel, oben am Kopf aber hellgrau war, und schlang es zu einem Knoten. »Ich mag das Meer nicht mal mehr hören, wenn es leise gurgelt. Leider werden die Zimmer nach hinten raus gerade renoviert, das hatte ich bei der Buchung übersehen.«
Wie er das verstand. Er machte sich von dem Gedanken los, sah sich um. Im Zimmer herrschte Chaos, Kleider waren auf Bett und Boden verstreut, auf dem Tischchen vorm Fenster lag eine angebrochene Mahlzeit aus einem Schnellrestaurant. Seinen Ordnungssinn hatte er definitiv woandersher.
»Setz dich, Jan. Möchtest du etwas trinken? Aus der Minibar vielleicht?«
Er blieb stehen. »Ich habe keinen Durst, danke.«
»Gut, dann …« Sie zog ihren Stuhl ein Stück von ihm weg und setzte sich. »Danke, dass du gekommen bist. Ich bin bereit. Egal, was kommt.«
Er versuchte sich an einem unverbindlichen Lächeln. »Ich hatte nicht vor, mich zu prügeln.«
Sie lachte nicht.
»Ehrlich gesagt habe ich nicht lange nachgedacht und bin nur vorbeigekommen, um kurz etwas zu sagen.« Und ob er das hatte, den Weg vom Jugendamt zurück zum Auto war er mehrmals gegangen, um Argumente hin und her zu schichten, seine Nervosität niederzuringen. Wenn sie ihn tatsächlich nicht freiwillig hergegeben hatte, verdiente sie einen höflicheren Abschied als den von gestern Abend, zu diesem Schluss war er gekommen. Glücklicherweise vermisste ihn Connie nicht das kleinste bisschen. Er hat meine Jungs fest im Griff und fühlt sich pudelwohl , hatte Manuel ihm am Telefon versichert.
Oda stützte die Arme auf die Knie, sah zu ihm hoch. »Du bist deinem Instinkt gefolgt, das ist gut.«
»Ich wollte uns beiden wohl einfach Zeit und Mühe sparen. Je eher ich Ihnen sage, dass ich in absehbarer Zeit keine weiteren Kontaktversuche möchte, umso besser ist es. Das ist einfach fairer.«
Odas Lächeln fiel in sich zusammen, ihr Gesicht sah älter aus, zernagt von jahrelangem Kummer.
»Was hat übrigens meine Frau zu diesen Neuigkeiten gesagt?«, fragte er schnell.
Oda hob die Augenbrauen, die so dunkel waren wie ihr Haar, es musste einmal pechschwarz gewesen sein. »Du glaubst, sie nimmt es übel, dass ich angerufen habe?«
Er nahm es übel. Und jetzt zog sie die Schultern schon wieder zu den Ohren wie Connie. Das nervte vielleicht.
»Ich wollte keinen Ärger verursachen. Aber ich konnte nicht anders. Nicht nach so langer Zeit. Sie hat das verstanden, denke ich. Eine durch und durch angenehme Frau, meinen Glückwunsch. Es hat mich gefreut, mit ihr zu sprechen. Und es hat mich so unglaublich gefreut, deinen Jungen zu sehen!«
Sie strahlte übers ganze Gesicht, aus den Augen, der Haut, wie von innen erleuchtet. Sehnsucht überschwemmte ihn, banges, verräterisches Hoffen. Dass diese Freude ein wenig auch ihm galt? »Cornelius hat sich auch gefreut.«
Sie klatschte in die Hände. »Er ist so toll. Ich habe mir immer vorgestellt, wie du wohl sein magst, in jedem Jahr, an jedem Tag. Man könnte meinen, dass ich durch ihn in die Vergangenheit blicken durfte, aber mein Gefühl sagt mir, dass er ein bisschen anders ist als du. Stimmt das?«
»Natürlich, er ist ein anderer Mensch.« Einer, dem er eigene Entscheidungen zubilligte, auch darüber, seine Großmutter wiederzutreffen … von deren Familienzugehörigkeit Connie nichts wusste. Er erschrak über die Arglist des Gedankens.
»Ihn kenne ich nun schon ein bisschen, aber dich nicht. Erzählst du mir von dir?«
Er schob den zweiten grauen Sessel zur Seite, um Platz zu schaffen, freie Bahn bis zur Tür. Setzte sich auf dessen Lehne, atmete tief, um sich zu wappnen. Ein paar Dinge konnte sie ruhig erfahren, das sollte sie sogar. »Nach allem, was ich seit ein paar Stunden weiß, war ich ein halbes Jahr alt, als meine Eltern mich adoptierten.« Ein Zucken ihrer Nasenflügel, einen Wimpernschlag lang, er hatte genau aufgepasst. »Bis dahin war ich im Krankenhaus und in einer Wochenkrippe und vielleicht kurz in einem Kinderheim. Sie wissen, was das für Einrichtungen waren?« Seine Stimme war schneidend.
Sie zog ihren Kopf weiter ein, blickte ihn aber unverwandt an.
»Die Behörden hatten Mitleid mit mir und haben mich bei meiner Familie untergebracht. Ich bin wohl nicht gewachsen und habe nur stumm dagelegen. Die Nahrungsaufnahme verweigert. So steht es in meiner Akte.«
Sie blickte auf seine Hände, rückte vor, zurück. Schien mit dem Wunsch zu kämpfen, sie zu berühren. Er schob sie über Kreuz unter die Achselhöhlen. »Von da an ging es mir gut. Meine Mutter war Erzieherin von Beruf und wusste, wie man ein Kind mit einer solchen Vorgeschichte stabilisiert. Ich wuchs ganz normal auf, war ein guter Schüler, hatte Freunde. Eine große Leistung von ihr, nach allem, was vorher war. Ich bin unendlich dankbar.«
»Das freut mich. Wirklich.«
»Ich bin geliebt worden. Von guten Menschen.« Es war die reine Wahrheit, und er war dankbar dafür.
Sie hielt seinem Blick stand. »Warum haben sie dich dann belogen?«
»Was geht Sie das an?«
»Es geht um mein Kind. Mein einziges. Ich habe dich geboren.«
Er stand auf, um den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern, lehnte sich rücklings gegen die Fensterbank. »Im Gefängnis.«
»Ich war dort nicht freiwillig, glaub mir. Ich …«
»Wie auch immer.« Viel zu schnell, viel zu heftig. Er sollte sich besser im Griff haben.
Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Jan, ich habe immer gewusst, dass du unter unserer Trennung leidest. Weil es für mich genauso war. Wir waren neun Monate lang eins.«
Er wich ihrem Blick aus, fand nichts, was das entkräften konnte. Immerhin, ein Gedanke kam ihm. »Heute habe ich versucht, herauszufinden, warum sie es mir verheimlicht haben. Aber ich denke, das weiß ich bereits. Ich sollte nicht wissen, was vorher war. Das Trauma einer Geburt im Knast, eine Mutter, die in den Westen geht, die Vernachlässigung in der Wochenkrippe. Eine schwere Entwicklungsverzögerung. Sie wollten, dass ich das alles vergesse, und haben deshalb nichts gesagt. Sie wollten mich schützen, das ist ihnen gelungen.«
Oda sprang auf. »Oh, ich wollte ja da sein, ich wollte so sehr, was glaubst du denn? Sie haben mich nicht gelassen, sie …«
»Und das würde ich, ehrlich gesagt, genauso machen bei meinem Sohn, es wäre eine sehr klare Entscheidung.« Er sah sie fest an. »Das war es auch schon, was ich zu sagen hatte.« Es klang zufrieden, nach einem Sieg, aber so fühlte es sich nicht an. »Und Sie? Im schönen Westen?«, fragte er bissig. Spürte, wie etwas Glühendes in ihm Gestalt annahm, kindlicher Unmut, der leicht in einen Zornesausbruch münden konnte.
»Ohne das Kind, das man jede Minute vermisst?«
»Ich habe die Adresse bei der Telefonauskunft angesagt bekommen. Gut Scheffenhofen. Klingt beeindruckend.«
»Es gehörte meinem Mann.«
Einem reichen Typen, den sie sich nach ihrer Flucht geangelt hatte. Was nicht schwer gewesen sein dürfte, sie musste wirklich schön gewesen sein. »Ein Leben im Wohlstand, wie erfreulich.«
»Wir haben versucht, dich aus der DDR rauszukaufen, haben die besten Anwälte engagiert. Eine Zeit lang sah es sogar so aus, als könnte es klappen, aber im Juni 1973 …« Sie wiegte sich vor und zurück, ihre Lippen bebten. »Da teilte man uns mit, du seist seit November 1971 adoptiert. Man hatte … man hatte uns zuerst jahrelang jede Information verweigert, dann hingehalten … und getäuscht.«
Bitterkeit schwamm durch seine Kehle, ein Gefühl von Bedauern.
Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie unglaublich brutal dieses System mit Menschen umgehen konnte!«
Er sah auf seine Schuhe, um die herum sich kleine nasse Pfützen gebildet hatten. »Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, ist es vor dreißig Jahren untergegangen. Was hast du seitdem getan, um mich zu finden?« Sein Herz schlug hart und schnell.
»Die Vergangenheit ist nicht zu ändern, Jan.«
»Aber sie ist da und wird immer zwischen uns stehen. Gut, dass wir Klarheit darüber haben.« Nur, warum, zum Teufel, tat es dann so weh?
Sie kümmerte sich nicht um die Tränen, die von ihren Wangen liefen. »Ist es nicht denkbar, dass wir dennoch irgendwann aufeinander zugehen können? Etwas finden, das Künftiges ermöglicht, wie immer das aussehen mag?«
»Ich sehe vor allem eines.« Er räusperte sich, bereute, dass er nicht schnell genug gewesen war, ihrer federleichten Berührung auszuweichen. »Das betrifft aber, das muss ich dir zugutehalten, euch alle.«
»Wir wussten Bescheid.«
»Ungefähr«, sagte er rau. Sie alle hatten es gewusst, er nicht, er hatte allein auf der anderen Seite gestanden. Die Zimmerwände kamen auf ihn zu, entfernten sich. »Ich hatte keine Idee, warum ich manchmal so … einsam war«, sagte er rau. Ein Kind, das in seinen Tagesabläufen aufging, sich glücklich wähnte, und dennoch das Gefühl hatte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. »Und deshalb hatte ich nicht den Hauch einer Chance, das hinter mir zu lassen. Es hätte schon gereicht, zu wissen, dass es da eine Adoption gab. Nicht, warum es dazu gekommen war, das versteht ein Kind sowieso nicht.« Und er tat es jetzt ebenso wenig.
»Es gibt gute Gründe, Jan.«
»Nicht für mich, nicht, wenn …« Wenn du meine Mutter sein willst. Zum Glück hatte er es zurückhalten können. Aber er hatte Du gesagt, sagte es schon eine Weile. Er sollte wirklich gehen. Er nickte ihr einen Abschiedsgruß zu, schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
»Jan, warte. Wir sollten nicht so auseinandergehen.«
Schnell war er an der Tür.
Sie kam ihm hinterher. »Auch ich bin wie eine Fremde durch mein Leben geirrt.«
Aber er war ein Kind gewesen, unfähig, sein Schicksal abzuwenden, sie nicht. »Ich denke, wir wissen beide, dass uns mehr trennt als verbindet. Fünfzig Jahre, mein ganzes Leben, und das lässt sich nicht nachholen.«
An der Klinke trafen sich ihre Finger, blitzschnell schloss sie eine Hand um seine. »Jan, glaubst du etwa, ich würde dich je um Verzeihung bitten? Das würde ich nie tun, ich will keine Vergebung, denn vergeben habe ich mir nie. Dass ich in Boltenhagen in die Ostsee gestiegen bin, als wäre es eine Badewanne, dachte, ich könnte einfach bis zur internationalen Fahrrinne schwimmen und darauf warten, dass mich ein westliches Schiff aufnimmt.«
Geschwommen. Sie war geschwommen.
Er starrte ihre Hand an, gebannt vom Takt des Bluts, der gegen seinen Handrücken klopfte, davon, wie seiner mithielt. Stieß ein komisches Lachen aus.
Sie ließ los, presste die Hand, die seine berührt hatte, an ihr Herz. »Dass ich so verzweifelt war, nachdem mein Vater mich in der DDR zurückgelassen hatte, dass ich nach jedem Strohhalm griff. Dass ich deinem Vater glaubte, als er sagte, alles würde gut gehen. Dass ich so vernarrt in ihn war.«
Er huschte in den Flur, runter ins Foyer, wo ihm die Rezeptionistin etwas zurief, das er nicht verstand, und hastete hinaus in den blendenden Polartag. Die See lag wie ein glänzendes Tuch da, unschuldig, leise gluckernd.
Jan lief zum Ufer und brüllte los. Schrie das Wasser an wie ein Verrückter, während ihm heiße Tränen übers Gesicht liefen. Er war so unglaublich … ja, was eigentlich? Wütend, weil dieses Gespräch so anders gelaufen war, als er es sich vorgestellt hatte? Entsetzt, dass er sich gerade so klein fühlte, so alleingelassen und verletzt?
Ziellos hastete er los, den Strand entlang, über harten, gefrorenen Boden, dessen Widerstand ihm in die Knochen stach. Jan spürte sein Gewicht, die schiere Last seines Körpers, und wie er allmählich ein wenig Abstand zu seinem inneren Aufruhr gewann, seiner Not. Lief und lief mit jedem schmerzenden Kilo seiner selbst, bis er nicht mehr konnte.