Margit

Ihr Sohn steht vor der verglasten Tür zum Garten und sieht hinaus, eine Hand liegt auf der Klinke, die andere auf dem Rahmen.

»Schnee am ersten Mai, so was hatten wir noch nie, was, mein Schatz?«

»Hm.«

Sie räumt das Kaffeegeschirr in die Spüle. Ein blau geblümtes aus durchscheinendem Porzellan, das bei ihrem Einzug auf dem großen alten Esstisch in der Küche gestanden hatte, ein Willkommensgruß und doch eine stumme Mahnung an die neue Zeit, die mit ihnen über das Haus hereinbrechen würde. Dass die Vergangenheit niemals einfach so auszuradieren war. »Jan?« Sie beugt sich zu ihm herunter und schiebt den dummen Gedanken beiseite.

»Ja, Mutti.«

Er späht mit vagem Blick zwischen den Flocken durch, sein Kiefer mahlt. Der obere Rand der Tasse, die ihr aus der Hand in die Spüle und auf einen der zierlichen Teller rutscht, verliert eine Ecke. »Soll ich deinen Teller stehen lassen, damit du deinen Kuchen später noch essen kannst?« Ronald hat seinen gar nicht angerührt, das kratzt ebenso an ihren Nerven. Er sollte doch wissen, wie angespannt sie ist, wenn Horst herkommt, und sich normal verhalten.

»Nein, Mutti.«

Ihre Fingerspitzen streifen über seinen Hinterkopf. »Ich war heute sehr stolz.« Eine Kuchengabel klirrt auf die Tischplatte, es ist Ronalds, sie hat keine Ohren dafür und möchte vor Horst keine Szene machen. Jan hat den Demonstrierenden von der Ehrentribüne aus ein Gedicht vorgetragen, unter den wachsamen Augen seiner Pionierleiterin. Mit frohem Gesicht, aufrecht und stolz.

Jan kneift die Augen zu. »Hast du schon gesagt, Mutti.«

Und plötzlich steht ein Kind hier, das immer wieder aus ihm herausbricht, durch die Schichten der Sorgfalt und Liebe hindurch, in die sie ihn hüllt. Eines, das ängstlich ist und schweigsam. Sie nimmt den Porzellansplitter und legt ihn zusammen mit dem scharfkantigen Teller beiseite. Vielleicht hätten sie den Garten nicht umgestalten sollen für diese riesige Spielwiese mit Blick ins Weite hinaus, aufs Meer, das ihn so seltsam anzieht und abstößt.

Horst schiebt seinen Stuhl zurück, drückt ihr im Vorbeigehen den Arm und stellt sich hinter Jan. Eine Weile guckt er in die Ferne wie Jan, voll unbenennbarer Furcht, oder denkt sie das nur? Gut jedenfalls, dass sie auf Lore gehört und Horst nie gesagt hat, was er als Baby mit ansehen musste, soll es da draußen auf der Ostsee bleiben. Aber die Bäume, die hätten sie wohl besser nicht abgeholzt.

»Sieht so aus, als würden wir gleich einen Schneemann bauen«, sagt Horst.

Die Spannung weicht aus Jans Körper. »Ja, das möchte ich gern. Jetzt gleich?«

»Warten hat keinen Sinn, das bleibt nicht liegen.«

Jan klatscht in die Hände, die beiden haben dasselbe Lachen, ein Stück des Oberkiefers ist dabei zu sehen. Ein heißer Schmerz brennt sich durch ihre Brust, so als würde jemand mit einer Messerspitze eine Linie um ihr Herz stanzen.

Ronald drückt die Spitzen der Zeigefinger fest gegen seine Schläfen und stiert das unversehrte Kuchenstück auf seinem Teller an.

»Ich würde den allerdings lieber im Vorgarten bauen«, sagt Horst, »hier hinten fliegt er nur weg.«

»Ich auch!«, jubelt Jan.

Sie sieht, wie Ronald die Küche verlässt, gebeugt, mit herabhängenden Mundwinkeln. Es ist nicht leicht, dieser Verbundenheit zuzusehen, das muss sie ihm zugestehen. »Dein Skianzug liegt in der Truhe im oberen Flur, mein Junge.« Das Haus ist recht großzügig, weil kein Neubau, womit sie anfangs Schwierigkeiten hatte. Aber seit sie es renoviert und ihm das Antiquierte ausgetrieben haben, liebt sie es. Und ihr Sohn auch.

Jan hüpft aus der Küche, Horst schnappt sich den Deckel des Bräters, den sie vorhin abgewaschen hat, aus dem Abtropfgestell und läuft mit Indianergeheul hinterher. Es gab Kaninchen, wie immer am ersten Mai. Und wie immer Quarkkuchen mit den letzten eingeweckten Kirschen vom Vorjahr darin.

Als sie mit dem Abräumen fertig ist, sucht sie im untersten Schub der Flurkommode nach ihren Wintersachen, die Tür zum Wohnzimmer steht offen.

»Du bist abgeschrieben«, warnt Ronald, der hinter dem braunen Vorhang am Fenster steht und hinausspäht. »Und wie Horst sich benimmt, kein bisschen erwachsen.«

»Er freut sich bloß, ihn zu sehen. Ich finde es gut, dass er das zeigt.«

»Natürlich. Horst macht alles richtig. Er kann sowieso alles, sogar dir ein Kind schenken.«

»Ronald, ich bitte dich!« Sie setzt die Mütze auf, streift Jacke und Handschuhe über und holt die Praktika aus der Schrankwand. »Er hat ihn uns beiden anvertraut, also rede keinen Unsinn. Nur, wir sind immer da, Besuch zu haben ist etwas Besonderes. Und dieser ist wichtig, das wissen wir doch. Für beide.« Ein Vater braucht einen Jungen, mit dem er wieder Kind sein kann, wenn Ronald das doch endlich für sich entdeckte.

Ronald tippt an die Scheibe, hinter der Gejohle zu hören ist, dumpf, verfangen in den Schneebahnen, die zur Erde sacken. »Der Junge ist nicht dumm, das ist dir aber schon klar.«

»Deshalb ist er ausgewählt worden, das Gedicht aufzusagen. Und ich versichere dir, dein Lob hätte er sehr gern gehört.«

Ronalds Gesicht zieht sich zu.

Sie lehnt die Stirn gegen seinen Oberarm. »Horst möchte nicht, dass Jan eines Tages bei ihm zu Hause vor der Tür steht und nach seinem Papa fragt«, flüstert sie. »Wir müssen das respektieren. Und sieh ihn dir an. Horst ist glücklich mit dieser Lösung. Wir haben kein Recht, das zu zerstören.«

»Horst ist glücklich damit, am Feiertag hier zu sein und seiner Frau sonst was zu erzählen?«

»Wer an seiner Stelle wäre das nicht, du kennst diese Frau doch.«

»Glaubst du, Horst ist auch glücklich damit, keine Ahnung zu haben, wo er herkommt?«

Sie streicht über seine Wange. »Glaubst du wirklich, Horst wäre froh, zu wissen, dass seine Mutter lieber über Bord gesprungen ist, als hinzunehmen, dass sie keine Bediensteten mehr hat, die vor ihr kuschen? Dass er ihr nicht genügt hat?« Er weiß nur, dass sie ihn auf der Flucht gefunden haben, und hat nie nach Erklärungen gesucht.

»Und das weißt du sicher?«

»Ich hatte Augen im Kopf.«

»Und du hast auch gesehen, wie Jans Mutter in den Westen rüber ist?«

Sie schreckt zurück. Was für ein Ton das ist, scharf, vorwurfsvoll, nie spricht er so mit ihr! Ronald sieht, wie empört sie ist, sein strenger Blick zerschmilzt ein wenig. Gut so. »Horst hat genauen Einblick in solche Vorgänge, ihm bleibt nichts verborgen. Darauf können wir vertrauen.«

»Ach so. Na dann.« Ronald verlässt das Wohnzimmer. Sie läuft ihm nach, umarmt ihn von hinten. Das Herz schlägt ihr zum Hals raus, ihre Brust ist wie eingeschnürt vor Angst. »Ronald, mein Lieber, wir müssen zusammenhalten, es steht zu viel auf dem Spiel. Niemandem nützt es, wenn wir alles Schreckliche immerfort aufrühren, das raubt uns die Kraft zum Leben, wer weiß das besser als wir? Du bist doch auf meiner Seite, nicht wahr? Sag’s mir.«

Nicht lang, und er wiegt sich in ihrer Umklammerung. »Nun geh schon zu ihnen raus und schimpf, weil sie aussehen wie die Ferkelchen, das wird sie freuen.«


Der Schnee liegt nicht höher als ein paar Zentimeter und ist wachsweich, der Boden matschig. Horst stakt umher wie ein Storch, sein Anzug ist bis zu den Knien nass und dreckig. Jan rollt eine Schneekugel auf ihn zu, die nicht größer ist als ein Fußball, er schnauft wie ein Pferdchen. Sie hebt den Deckel von der Linse und nimmt ihn ins Visier. Stellt Belichtungszeit und Brennweite ein, bis sie den kleinen Pfeil genau in der Mitte stehen hat.

Schon dreht er ihr den Rücken zu, ruft, dass Onkel Horst ihm helfen soll. Gemeinsam lösen sie den Schneeball vom Boden, der eine braune Spur durch den weißen Vorgarten gezogen hat, und heben ihn auf zwei windschiefe, etwas größere Kugeln. Sie folgt mit der Linse jeder ihrer Bewegungen. Horst setzt dem Schneemann den Topfdeckel als Hut auf, schnappt sich Jan, platziert ihn auf seinen Schultern und stampft auf die Haselbüsche zu.

Sie schießt das erste Bild, die zwei von hinten, zu einer hopsenden, wiehernden Gestalt verwoben.

Jan reißt kleine Äste von den Haselbüschen, die schon mit grünen Blättchen übersät sind und eine dichte Hecke bilden, ein Bollwerk gegen den Wind, für die zarten Rosen in ihrem Beet. Kann gut und gern fünfzig Jahre her sein, dass die gepflanzt wurden. Ob die Leute sich dafür dieselbe Mühe gemacht hatten wie hinten im Garten? Lauter dunkelbrauner Mutterboden war in die tiefen Schichten der sandigen Erde eingebracht worden, damit die Stecklinge genügend Nahrung bekamen und gut einwurzelten. Und das hatten sie getan, Ronalds Rücken konnte ein Lied davon singen.

Nun stecken sie dem Schneemann die Äste als Arme in die Seiten.

»Mutti, guck!« Ein Astarm sinkt langsam zu Boden, Jan lacht, Horst stimmt ein.

Sie geht vorsichtig heran, justiert die Einstellungen nach. Dieses Mal erwischt sie den Moment, in dem ihre Köpfe dicht nebeneinander sind. Zwei Versionen ein und desselben Gesichts lachen ihr zu, der Finger rutscht ihr vom Auslöser, und sie verpasst ihn.

Als sie den Apparat sinken lässt, zittert sie. In ihrem Kopf herrscht eisige, blendend weiße Klarheit. Eines Tages wird Jan es doch wissen, sie wird nichts dagegen tun können. Und er wird ihr die Schuld geben, nicht Horst, nicht Ronald. Nur ihr.

»Mutti?« Jan stellt sich neben den Schneemann und legt ihm einen Arm um die Schultern.

»Guck mal her zu mir!«

Schnell hebt sie die Kamera vors Gesicht.

Horst kniet sich daneben, ohne auf den Dreck zu achten.

»Mutti?«

Sie schluckt und schluckt. »Was ist denn, mein Schatz?«

»Kann Vati nicht rauskommen und knipsen? Du sollst auch mit aufs Bild!«

Sie schüttelt den Kopf, froh, das Gesicht hinter dem Apparat zu haben. Knipst drauflos ohne Einstellung, eine ganze Serie, die nichts werden wird. Beißt die Kiefer zusammen. Ihr lieber, lieber Jan. Nicht auszudenken, dass sie eines Tages zurückmüsste in ein Leben ohne ihn. Mit fliegenden Schritten geht sie rein, wischt sich das Gesicht ab, reißt eine Blüte von ihrem roten Nelkenstrauß von der Demonstration und steckt sie dem Schneemann an die Brust. Ihre beiden liebsten Menschen lachen, mehr braucht sie nicht auf der Welt.

Horst tritt auf sie zu. »Jetzt ihr zwei.«

Sie lässt sich den Apparat abnehmen. Jan hüpft auf sie zu, lässt sich in ihre Umarmung fallen, und sie hält ihren Jungen. Hält und hält. Ich bin da, brüllt ihr Herz. Ich bin die, die da ist.

Horst schießt ein Bild.

Und sie wird neue Bäume pflanzen im großen Garten nach hinten raus, bestimmt kann man auch die Mauer ein Stück höher ziehen lassen. Ihr Sohn soll durch nichts auf der Welt geängstigt werden. Er muss nur wissen, dass er geliebt wird. Das ist mehr als genug, wie konnte sie das nur vergessen.